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17:17 Uhr - 10.11.2015

Eichengreen: «Das Fed könnte weiter zögern»

Barry Eichengreen, Berkeley-Professor, sieht einen Zusammenhang zwischen dem unentschlossenen Fed und den chinesischen Verkäufen von US-Staatsanleihen.

Der renommierte Ökonom Barry Eichengreen erklärt im Interview mit «Finanz und Wirtschaft», warum er den Optimismus der US-Notenbank nicht teilt. Niemand könne einschätzen, ob die amerikanische Wirtschaft tatsächlich gut ausgelastet sei. Das Fed zögere mit einer Zinserhöhung, denn die Chinesen würden mit dem Verkauf von Anleihen die Renditen nach oben treiben. Das Gespräch fand am Rande einer Veranstaltung des Fondshauses Ayaltis statt.

Zur PersonBevor er Wirtschaftsprofessor an der Universität Berkeley in der Nähe von San Francisco wurde, arbeitete Barry Eichengreen beim Internationalen Währungsfonds. Der heute 63-Jährige ist spezialisiert auf die Analyse von Währungssystemen, Finanzkrisen und Wirtschaftsgeschichte. So schrieb er eine führende Studie zum Goldstandard. Barry Eichengreen ist langjähriger Autor von Leitartikeln für die «Finanz und Wirtschaft.»

Sein neuestes Buch «Hall of Mirrors» (auf Deutsch: «Die grossen Crashs 1929 und 2008») handelt von richtigen und falschen Lehren, die man aus der Depression von 1929 gezogen hat. Eichengreen kommt zum Schluss, dass die schnelle Reaktion auf die Finanzkrise 2008 schlimmere Auswirkungen verhindert hat. Die schwache Erholung seit der Krise sei aber nicht zwangsläufig gewesen, sondern hätte durch eine bessere Politik vermieden werden können.
Herr Eichengreen, warum gibt es so viele Sorgen um China?

Nicht jeder hatte verstanden, dass die Zeit eines chinesischen Wachstums von 9 bis 10% vorbei ist. Der Markt hat das plötzlich realisiert. Im Sommer wurde den Leuten endlich klar, dass die neue Normalität in China 5 bis 6% Wachstum beträgt. So funktionieren Märkte: Sie wachen plötzlich auf und erkennen die Realität. Schon in einer Studie im Jahr 2011 hatte ich geschrieben, dass sich das Wachstum bis 2015 verlangsamen wird, wenn China dem typischen Muster schnell wachsender Volkswirtschaften folgt.

China folgt also einem typischen Ablauf?
Ja, aber darüber gab es eine grosse Debatte. Manche argumentierten, dass China ein aussergewöhnlicher Fall sei und das hohe Wachstum unbegrenzt weitergehen werde. Doch die Exporte und die Investitionen konnten nicht wie bisher auf ewig wachsen. Ausserdem sinkt nun die Erwerbsbevölkerung, wie man verlässlich vorhersagen konnte. Ich sehe nichts, was am geringeren Wachstum in China überraschend oder problematisch wäre. Das Land muss zu einem niedrigeren Wachstum übergehen und auf eine konsumorientierte Wirtschaft setzen.

Manche vergleichen China mit Japan. Nippon hatte ein sehr hohes Wachstum an Investitionen, das auch nicht aufrechterhalten werden konnte. Ist dieser Vergleich sinnvoll?
Man kann nichts ausschliessen. Aber Japan war in den Siebzigerjahren schon viel entwickelter als heute China. Nimmt man an, dass arme Länder zu reichen Ländern aufschliessen können, dann hatte Japan einen grossen Teil des Catch-up schon in den frühen Siebzigern abgeschlossen.

Eine Parallele zu Japan ist die hohe gesamtwirtschaftliche Verschuldung. Wie kann China damit umgehen?
Der einfachste Weg, die Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt zu senken, ist Wirtschaftswachstum. Es müssen auch die Schulden von Unternehmen restrukturiert werden, die ihre Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen können. China hat gerade erst angefangen, damit zu experimentieren. Die Restrukturierung von Schulden wird nur zum volkswirtschaftlichen Problem, wenn das Bankensystem beschädigt wird.

Und Sie sehen keinen Schaden für das Finanzsystem?
Viele der notleidenden Kredite wurden von Schattenbanken vergeben, etwa von sogenannten Investment Trusts. Manche von denen könnten beschädigt sein. Aber ich glaube nicht, dass die vier grossen chinesischen Banken in Gefahr sind. Sagt man, die hohe Verschuldung gefährde das chinesische Wachstum, muss man auch sagen, welche chinesischen Geldhäuser betroffen wären und warum man sie nicht reparieren könnte. Die Regierung hat grosse Reserven. Das letzte Mal, als es Probleme mit den Banken gab, wurden die Dollarreserven eingesetzt, um den Finanzsektor zu rekapitalisieren. Warum sollte das nicht noch einmal gehen?

Aber diese Reserven sind wegen der Kapitalflucht doch am Schwinden. Sind Sie darüber nicht besorgt?
Seit einigen Monaten scheint es Nettokapitalabflüsse in Höhe von 100 Mrd. $ monatlich zu geben. Darauf kann man auf zwei Arten reagieren. Erstens kann man sie mit den Währungsreserven finanzieren. Zweitens kann man den Wechselkurs abwerten lassen, um den Erwerb von ausländischen Anlagen teurer und damit unattraktiver zu machen. China hat ein bisschen von beidem getan. Hilfreich wäre aber auch eine verlässlichere Politik. Eigentlich hat China auf dem Devisenmarkt Kontrollen reduziert und liberalisiert. Vergangenen Monat wurden dann die Kontrollen wieder verschärft und der Derivathandel im Devisenmarkt eingeschränkt. Die Investoren wissen nicht, was sie erwarten sollen. Hilft man ihnen, verlässliche Erwartungen zu bilden, können die Kapitalabflüsse gemildert werden.

Haben die Kapitalabflüsse Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft?
Die Abflüsse entsprechen einer geldpolitischen Straffung. Die Regierung beantwortet das mit der Lockerung der Mindestreserven für die Banken und sinkenden Einlagenzinsen. Der Effekt auf die chinesische Wirtschaft ist daher wohl nicht gross. Aber ausländische Investoren sind besorgt, da China den Bestand an US-Staatsanleihen verkaufen muss, um den Wechselkurs zu halten. Das hat einen Effekt auf ausländische Volkswirtschaften, auch auf die USA.

Ist ein Effekt auf die US-Renditen denn schon ablesbar?
Ja, manche Studien gehen von einer Auswirkung von bisher bis zu 25 Basispunkten aus. Es ist wie die Debatte über den Effekt von Anleihenkäufen durch die Zentralbank, Quantitative Easing. Wie bei QE gehe ich davon aus, dass der Effekt grösser ist, als Skeptiker annehmen. Daher wirkt das Quantitative Tightening – die geldpolitische Straffung durch den Verkauf von Anleihen aus chinesischen Reserven – wohl auch stärker, als Zweifler meinen.

Und dieses Quantitative Tightening könnte die US-Notenbank bewegen, mit einer Zinserhöhung zu warten?
Ja, so kann man das bisherige Zögern des Fed verstehen, die Zinsen zu erhöhen. Die Kreditbedingungen in den USA sind wegen der chinesischen Bondverkäufe restriktiver als erwartet. Es ist möglich, dass die Chinesen weiterhin für 60 Mrd. $ monatlich US-Staatsanleihen verkaufen und das Fed weiterhin zögern wird.

Das Fed sagt aber, die US-Wirtschaft sei bereit für höhere Zinsen. Warum sollten die Zinsen nicht erhöht werden?
Niemand – auch nicht das Fed – weiss, wie viel ungenutzte Kapazität die US-Wirtschaft aufweist. Wir haben noch nie einen Arbeitsmarkt wie jetzt gesehen. Die Erwerbsquote ist über das vergangene Jahrzehnt dramatisch eingebrochen. Wenn die Personen, welche die Erwerbsbevölkerung verlassen haben, für immer ausgeschieden sind, dann ist die Auslastung der Volkswirtschaft hoch. Die Löhne und damit die Inflation würden bald steigen. Aber momentan ist das Lohnwachstum schwach, und die Inflation liegt unter der Zielmarke des Fed.

Wie erklären Sie das?
Es gibt zwei Interpretationen: Entweder warten Lohnwachstum und Konsumenteninflation um die Ecke – oder die Volkswirtschaft könnte mehr Auslastung vertragen. Die Leute, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, würden zurückkommen. Die Produktivität, die überraschend niedrig ist, würde schneller steigen. Und das Lohnwachstum wäre weiterhin niedrig. Die Frage ist, ob die US-Wirtschaft schneller als 2,5% wie im Moment wachsen kann. Würde die Hälfte der Leute zurückkehren, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, hätte die Volkswirtschaft Potenzial, schneller zu wachsen.

Wie kann man die Wirtschaft denn schneller wachsen lassen?
Mein Vorschlag wäre eine Kombination aus einer unveränderten Geldpolitik und mehr Schuldenaufnahme durch den Staat, um produktive Investitionen zu finanzieren. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Die USA haben etwa ein veraltetes Verkehrsnetz. Ausserdem gibt es Investitionsbedarf im Gesundheits-, im Bildungs- und im Forschungswesen.

Das Fed will die Zinsen erhöhen, doch andere Notenbanken lockern die Geldpolitik. Manche sagen, das solle die Währung abwerten und führe zum Währungskrieg. Was halten Sie von diesem Begriff?
Das Wort Währungskrieg verwenden Leute ständig, ohne die Bedeutung wirklich durchzudenken. Viele sind besorgt, dass die Europäische Zentralbank, Japan und viele Schwellenländer ihre Währungen abwerten lassen. Aber man muss die Alternative betrachten. Wenn diese Länder nicht geldpolitische Massnahmen umsetzen, welche die Währung abwerten, müssen sie etwas anderes tun.

Was wären diese anderen Massnahmen?
In den Dreissigerjahren haben Länder, die nicht ihre Geldpolitik verwendet haben, zu Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen gegriffen. Sie sind zum Protektionismus übergegangen. Für die Weltwirtschaft wäre das schlechter als die Abwertung von Währungen.

Sind Sie nicht besorgt, wenn das Fed deswegen die Zinsen tief halten muss?
Es wäre nicht die schlimmste Möglichkeit für die USA. Die Alternative zur lockeren Geldpolitik wären tiefe Rezessionen in den Schwellenländern und eine deutlichere Verlangsamung in China. Das hätte noch negativere Auswirkungen auf die US-Wirtschaft. Auch ein stärkerer Dollar wäre kein so grosser Schock.

Hätten wir jetzt normale Zinsen, wenn die Geld- und Fiskalpolitik in den vergangenen Jahren expansiver gewesen wäre?
Die EZB hat nach Ausbruch der Krise sieben Jahre gebraucht, um ein Quantitative Easing umzusetzen. Vergleicht man verschiedene Länder und Zeitperioden, kommt man zum Schluss, dass ein früheres Einsetzen von QE die Konjunkturerholung gestützt hat, und die Zinsen hätten sich normalisieren können. Mehr Fiskalstimulus am Anfang hätte erlaubt, später weniger davon einzusetzen.

Der Einsatz von Fiskalstimulus erinnert an die fehlgeschlagene Konjunktursteuerung der Sechziger- und Siebzigerjahre. Was ist anders bei Ihrem Vorschlag?
Damals ging es um eine Zähmung des Konjunkturzyklus. Es wurde aber erkannt, dass es eine Verzögerung zwischen der Einführung der Massnahmen und dem Effekt auf die Wirtschaft gab. Im normalen Auf und Ab einer Volkswirtschaft tritt der Stimulus erst ein, wenn sie schon expandiert – also zur falschen Zeit. Krisen sind anders. Dann geht es wirtschaftlich für vier oder mehr Jahre bergab. Man hat viel Zeit, das zu erkennen.

Aber wenn der Staat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöhen will, sorgt das doch für Verzerrungen des Marktes?
Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist nicht immer automatisch auf einem Stand, auf dem Vollbeschäftigung, normale Zinsen und normales Wachstum gelten. Die Gesamtnachfrage kann beispielsweise wegen Problemen im Finanzsystem oder anderer Schocks schwanken. Wenn sie im Verhältnis zum potenziellen Angebot stark sinkt, werden Leute arbeitslos. Die Wirtschaft kommt nicht automatisch zurück. Es müssen unbequeme Entscheidungen getroffen werden, mit welchen Massnahmen man intervenieren will. Für Leute, die an die Stabilität der Marktwirtschaft glauben, kann das zu intellektuellen und moralischen Dilemmas führen. Für mich ist das aber kein Dilemma.

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