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07:04 Uhr - 18.11.2014

Das Feldstein-Horioka-Paradoxon

Zwei US-Forscher weisen nach, dass trotz Globalisierung viel weniger Investitionskapital ins Ausland fliesst, als die ökonomische Theorie nahelegt.

Wie mobil ist Kapital? Fliesst es wirklich ungehindert zwischen den Ländern hin und her, sodass sich die Renditen einander angleichen, wie es die Theorie lehrt? Oder werden die Ersparnisse eines Landes letztlich im selben Land investiert? Eine Antwort auf diese Frage eröffnet nicht nur neue Erkenntnisse über das Funktionieren des globalen Kapitalmarktes, sondern ist auch entscheidend, um offene Fragestellungen der Wirtschaftspolitik zu lösen, beispielsweise die Suche nach der optimalen Sparquote von Nationen und die Auswirkungen von Steuern. Mit diesen Fragen machten sich vor 35 Jahren der US-Nationalökonom Martin Feldstein und sein 23-jähriger Assistent Charles Horioka an eine empirische Untersuchung, die sich im Laufe der Zeit als eine der am häufigsten zitierten wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten entpuppen sollte.

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Erklärung des Paradoxons
Zur Person Martin Feldstein
Zur Person Charles Horioka
Kapitalmobilität ist nicht alles: der Fall Euroland

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Feldstein zählte damals zu den bekanntesten Wirtschaftsprofessoren des Landes. Seit seinem Studienabschluss in Harvard Anfang der Sechzigerjahre – natürlich summa cum laude – hatte er bereits weit über hundert wissenschaftliche Artikel verfasst. 1977 wurde er Geschäftsführer des National (NATN 80 0%) Bureau of Economic Research (NBER), eines Forschungsnetzwerks für Publikationen, das bis heute die Nummer eins unter den Ökonomieplattformen geblieben ist. In jenem Jahr wandte sich sein Interesse einem neuen Forschungsgegenstand zu: der nationalen Ersparnis. Die USA steckten in einer Rezession, die Geldentwertung bedrohte das Sparkapital. Die Terminbörse in Chicago führte erstmals Futures-Kontrakte auf Staatsanleihen ein, um das Zinsrisiko in den Griff zu bekommen. Zudem wiesen die USA eine der tiefsten Spar- und der höchsten Konsumquoten auf. Konnte das auf lange Frist gutgehen?

In den folgenden zwei Jahren publizierte Feldstein nicht weniger als sechzehn Beiträge zum Thema. Es war nur logisch, dass der Harvard-Professor es auch zum Mittelpunkt seiner «W.A. Mackintosh Lecture» an der Queen’s-Universität in Kingston, Ontario, machte, zu der er im Januar 1979 geladen wurde: «Nationales Sparen und internationale Kapitalflüsse».

Der rätselhafte Koeffizient

Martin FeldsteinZur Person »Den Ausgangspunkt der damaligen Untersuchung bildet die Überlegung, dass in einer geschlossenen Volkswirtschaft die Summe des Ersparnisse der Summe des investierten Kapitals entsprechen sollte. In einer offenen Volkswirtschaft mit freiem Kapitalverkehr jedoch gilt diese Gleichung nicht mehr. Das Sparkapital kann dann auch im Ausland investiert werden. Feldstein und Horioka überlegten sich also, dass es ausreicht, die Ersparnisse und die Investitionen eines Landes zu messen, um anhand der Differenz zwischen beiden ermitteln zu können, wie offen der Kapitalmarkt tatsächlich ist. Ein  Gradmesser für die internationale Kapitalmobilität also oder ein Vorläufer späterer Globalisierungsindizes.

Die beiden Ökonomen gingen davon aus, dass zwischen den Industrieländern keine Kapitalbeschränkungen mehr bestünden und Investoren frei den rentabelsten Investitionsstandard für ihr Sparkapital auswählen könnten.  Die Untersuchung – sechzehn Länder (ohne die Schweiz) von 1960 bis 1974 – kam indes zu einem unerwarteten Ergebnis: Das meiste in einem Land gesparte Kapital wird auch im selben Land investiert.

Charles HoriokaZur Person »Feldstein und Horioka waren als Arbeitshypothese davon ausgegangen, dass im OECD-Raum der Koeffizient zwischen Spar- und Investitionsvolumen rund 0,1 betrage, auf jeden Fall nahe 0 liege. Während das andere Extrem – keine grenzüberschreitenden Investitionsflüsse – einem Koeffizienten von 1 entspräche. Das Ergebnis überraschte alle: Für die sechzehn untersuchten Industriestaaten errechneten die beiden Forscher den Faktor 0,9. Nehmen die nationalen Ersparnisse also um 1 Mrd. $ zu, steigt die Summe der Investitionen vor Ort um 900 Mio. $. Nur 10% der Ursprungssumme fliessen ins Ausland.

Das Fazit der Autoren: Die globalen Kapitalmärkte sind durch zahlreiche Friktionen geprägt. National geschaffene Ersparnis bleibt dem Ursprungsland als Investitionskapital erhalten. Und: Forscher können bei der Berechnung der Einkommensverteilung und der Steuereffekte die Kapitalabwanderung getrost ignorieren.

Kritik und Erklärungen

Die Ökonomenzunft verlieh dem Untersuchungsergebnis rasch das Attribut Paradoxon oder Rätsel. Es mangelte nicht an Kritik. Ökonometriker machten technische Fehler aus. Zum Beispiel wurde bemängelt, dass in der Regressionsrechnung Durchschnittswerte verwendet wurden, statt die Zeitreihen separat zu behandeln. Das verfälsche die Kalkulation. Alternative Berechnungen, die das berücksichtigten, kamen zu tieferen Werten um 0,7. Das Paradoxon indes blieb bestehen. Ökonomen fanden zahlreiche wirtschaftliche und politische Ursachen, um das Feldstein-Horioka-Paradoxon zu erklären. Gänzlich Klarheit brachten auch sie nicht.

Ein Jahrzehnt später rechnete Feldstein, diesmal zusammen mit Philippe Bacchetta, heute Professor in Lausanne, die Studie für 23 Staaten und einen längeren Zeitraum erneut durch. Der Koeffizient fiel über die Jahrzehnte hinweg: von 0,9 in den Sechzigern bis 0,6 für die Periode 1980 bis 1986, als eine Welle der Marktliberalisierung und der Deregulierung die Staaten erfasste. Das Paradoxon, wonach der Wert höher liegt, als in einer globalisierten Wirtschaft anzunehmen wäre, bestätigte sich. Der Disput über das Feldstein-Horioka-Rätsel dauert bis heute an.

Erklärung des ParadoxonsDas Feldstein-Horioka-Paradoxon sagt aus, dass in vielen Ländern die gesamtwirtschaftliche Ersparnis und die Investitionen stark positiv korreliert sind. Und das, obwohl bei vollkommener Kapitalmobilität ein Korrelationskoeffizient von 0 zu erwarten wäre. Wie die untenstehende Grafik zeigt, betrug der Koeffizient in den Sechzigerjahren durchschnittlich 0,9, in den Siebzigern 0,8, in den Achtzigern 0,6. Die Korrelation sinkt zwar über die Jahrzehnte, bleibt aber nahe 1 und weit von 0 entfernt. Rudiger Dornbusch kommentierte: «Das Resultat stellt die Ökonomie vor ein Rätsel. Es läuft dem Geist der Lehre offener Volkswirtschaften entgegen.»zoom

«Home Bias gilt heute noch»

Die Väter des Theorems kennen die Für und Wider. Sie haben die Debatten über mehr als drei Jahrzehnte hinweg verfolgt. Angesprochen darauf, welcher Aspekt des Theorems die lange Zeit überlebt hat, verweist Charles Horioka heute auf das Phänomen der Heimmarktneigung (Home Bias). «Der wichtigste Beitrag des Feldstein-Horioka-Paradoxons besteht darin, dass es gezeigt hat, dass trotz Beseitigung der Hindernisse im internationalen Kapitalverkehr und der Globalisierung der Weltwirtschaft Sparer sich weiterhin zu einem überraschend hohen Grad vom Home Bias lenken lassen», erklärt er im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft». «Sie ziehen es vor, das meiste Sparkapital in ihrem eigenen Land zu investieren.»

Zwar habe das Ausmass dieser Neigung, den Heimmarkt zu bevorzugen, im Laufe der Zeit etwas abgenommen. Trotzdem sei das Paradoxon immer noch sehr lebendig. Die internationale Wirtschaftswissenschaft könne daran nicht vorbeigehen. «Theoretische Modelle, die eine perfekte internationale Kapitalmobilität voraussetzen, sind kein realistisches Abbild der Wirklichkeit – auch heute noch nicht», ist der Ökonom, der in Japan lehrt, überzeugt.

Kapitalmobilität ist nicht alles: der Fall EurolandAls Ausgangsthese, um die Mobilität von Kapital zu untersuchen, steht das Theorem bei Wissenschaftlern so hoch im Kurs wie vor 35 Jahren. Nur bereitet manchmal die Interpretation der Ergebnisse Schwierigkeiten. Ende der Neunzigerjahre veröffentlichte die Schweizerische Nationalbank eine Untersuchung, in der sie anhand des Feldstein-Horioka-Ansatzes aufdeckte, dass in der Europäischen Union das gesamtwirtschaftliche Kapital nur beschränkt mobil sei.

Die Staaten seien deswegen anfällig für Schocks. «Da die Mobilität der Arbeitskräfte und die Flexibilität der Preise kurzfristig ebenfalls gering sind, besteht die Gefahr, dass asymmetrische Schocks in den betroffenen EU-Mitgliedländern zu Produktionseinbussen und Arbeitslosigkeit führen», warnte die Autorin Anne Kleinewefers damals – in weiser Voraussicht auf die Probleme, die über ein Jahrzehnt später die Eurozone wirtschaftlich an den Abgrund führen sollten. Es sei denn, so Kleinewefers, die gemeinsame Währung führe zu einer Zunahme der Kapitalmobilität und folglich einer geringeren Anfälligkeit für Krisen.

Dass genau diese Hoffnung mit dem Euro aufgegangen ist, wiesen wenige Jahre später die US-Ökonomen Olivier Blanchard und Francesco Giavazzi nach – ebenfalls anhand der Methodik von Feldstein und Horioka. Das Spar- und das Investitionsverhalten hätten sich in den Eurostaaten entkoppelt. Der Koeffizient habe sich beträchtlich reduziert. Das Feldstein-Horioka-Rätsel sei somit gelöst. Auch die Europäische Zentralbank zeigte sich zufrieden. In den ersten Jahren der Währungsunion sei das Feldstein-Horioka-Paradoxon rasch verschwunden, hat EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Cœuré kürzlich in einem Vortrag bestätigt: «Die Theorie traf wieder zu: (…) Eine engere finanzielle Integration erlaubte den weniger wohlhabenden Eurostaaten, weniger zu sparen und mehr zu investieren.»

Die Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den Eurostaaten nahmen zu. Das wurde als Beleg für eine grössere Integration der Länder und die zunehmende Konvergenz gewertet und gutgeheissen. Dass aus den guten Defiziten in den folgenden Jahren schlechte wurden, weil sich Spekulationsblasen bildeten und die Verschuldung rasant stieg, erkannten die Forscher erst im Mai 2010, als Griechenland bankrottzugehen drohte und die internationale Gemeinschaft um finanzielle Hilfe bat.
Martin Feldstein
(*25. November 1939 in New York)
Martin Feldstein gehört zu den Urgesteinen der amerikanischen Makroökonomie. Nach dem Studium in Harvard, Master und Promotion in Oxford, kehrte er 1967 als Assistenzprofessor an die US-Eliteuniversität zurück. Zwei Jahre später wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. Er blieb ihr bis heute treu.

Während der Regierung Ronald Reagans führte er von 1982 bis 1984 den Council of Economic Advisors des Präsidenten. Davor (ab 1977) und danach (bis 2008) leitete Feldstein das National Bureau of Economic Research. 2009 holte ihn Präsident Obama in den Economic Recovery Advisory Board. Er gehörte ihm bis 2011an. Feldstein nimmt regelmässig in Zeitungsbeiträgen zu aktuellen Themen der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftsforschung Stellung. Im Frühjahr warf er beispielsweise dem Ökonomen Thomas Piketty vor, in seinem Bestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert» für die USA falsche Zahlen verwendet zu haben. 1997 warnte er in einem Leitartikel für die «Finanz und Wirtschaft» davor, dass die Lancierung des Euros Europas Länder nicht politisch zusammenbringe, sondern neue Konflikte zwischen den Staaten auslöse und langfristig die Integration gefährde. Im Rückblick betrachtet war das keine schlechte Prognose.
Charles Horioka
(*7. September 1956 in Boston)
Charles Yuji Horioka schloss sein Ökonomiestudium 1977 an der Universität Harvard ab, wo er acht Jahre später auch doktorierte. In seiner Dissertation befasste er sich mit dem Sparverhalten der Privathaushalte in Japan. Der amerikanisch-japanische Doppelbürger lehrte seit den Achtzigerjahren zunächst als Assistenz- und später als ordentlicher Professor an der Osaka University in Osaka. Forschungsaufenthalte führten ihn an die New Yorker Columbia Universität, die Stanford-Universität und die Federal Reserve Bank in San Francisco. 2011 gehörte er der Jury des Center for Financial Studies in Frankfurt für die Verleihung des DB Prize in Financial Economics an.

Horioka ist derzeit Research Professor am Asian Growth Research Institute in der im Süden Japans gelegenen Metropole Kitakyushu City.

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