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16:21 Uhr - 15.04.2016

«Negativzins ist Symptom, nicht Ursache»

Yanis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister, sieht einen Schuldenschnitt für sein Land als unausweichlich an. Für Europa hat er klare Vorstellungen.

Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis polarisiert. Im Norden der Eurozone wird er als Provokateur betrachtet, der sich gegen jede Reform stellt. Die Linke und der Süden feiern ihn als Helden, der den Austeritätspolitikern in Berlin und Brüssel die Stirn bietet. «Finanz und Wirtschaft» sprach mit dem wortgewandten Ökonomen am Rande des FuW Fund Experts Forum in Rüschlikon über Griechenlands Misere, Negativzinsen und Europas Weg aus der Sackgasse.

Zur PersonYanis Varoufakis (*1961) ist ein griechischer Wirtschaftsprofessor und war von Januar bis Juli 2015 Finanzminister der griechischen Regierung unter Alexis Tsipras. In dieser Position setzte er sich gegen das «Spardiktat» der Gläubigerinstitutionen ein. Seit 1983 dozierte er Ökonomie in Grossbritannien, Sydney, Athen und Austin. Im Februar 2016 gründete er die «Bewegung Demokratie in Europa 2025» (DiEM25). Das länderübergreifende Netzwerk will die Institutionen der EU demokratisieren. Politisch bezeichnet er sich als einen «libertären Marxisten».Herr Varoufakis, wie geht es Griechenland neun Monate nach dem dritten Bail-out?
Es geht Griechenland mit jedem Tag noch schlechter. Wie könnte es auch anders sein in einem Land, in dem niemand investiert? Wir haben zwar Banken, aber sie vergeben wegen der vielen notleidenden Kredite keine neuen Darlehen. Wenn das Bankensystem kaputt und die Staatsverschuldung nicht tragfähig ist, wird nicht mehr investiert. Denn die Investoren wissen genau, dass allfällige Gewinne vom Fiskus abgeschöpft werden.

Sollten durch die interne Abwertung nicht die Exporte steigen?
Die Löhne sind seit 2009 um 42% gefallen. Dennoch sind die Exporte nicht gestiegen. Die Nachfrage aus dem Ausland ist zwar da, aber ohne Bankkredite können die Unternehmen keine Rohstoffe kaufen.

Anscheinend hat der Internationale Währungsfonds grosse Zweifel, dass Griechenland genug unternimmt, um die Bedingungen des Hilfsprogramms zu erfüllen.
Das ist doch klar. Athen hat seit Juli überhaupt nichts getan. Alle schauen nur noch zu, denn egal, was sie tun, es wird nur noch schlimmer. Selbst der IWF hat unterdessen begriffen, dass es ohne Schuldenschnitt und eine Reduktion der Haushaltsziele nicht funktioniert.

Wird es eine Nachverhandlung geben?
Wohl kaum, das würde ja bedeuten, dass Schäuble und Merkel ihrer Wählerschaft beichten müssten, dass sie belogen wurde und die Darlehen an Athen nicht vollständig zurückgezahlt werden. Sie müssten eingestehen, dass schon das erste Hilfsprogramm 2010 ein kapitaler Fehler war und es nur beschlossen wurde, um deutsche und französische Banken zu retten.

Es bahnt sich also bereits die nächste Griechenlandkrise an?
Wir sind seit 2009 in einer Dauerkrise. Griechenland erholt sich nicht, solange sich Europa nicht zusammenrauft und einen Weg aus der eigenen Krise findet. Bis jetzt herrscht in Brüssel und den Hauptstädten diesbezüglich aber noch eine komplette Verweigerungshaltung.

Wie kann die Abwärtsspirale gestoppt werden? Was wäre Ihr Plan für Griechenland?
Es braucht eine Umschuldung, ein weniger ehrgeiziges Haushaltsziel, eine Bad  Bank für die faulen Kredite und einen geordneten, fairen Verkauf der staatlichen Aktiva. Dann kann man den öffentlichen Sektor reformieren.

Das dritte HilfsprogrammIm vergangenen August einigten sich Athen und die Gläubigerinstitutionen auf ein drittes Hilfsprogramm im Umfang von 86 Mrd. €. Die Kredite sind an Bedingungen geknüpft. Dieses Jahr muss der Staatshaushalt vor Zinsen einen Überschuss von 0,5% des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausweisen. Im nächsten Jahr muss der sogenannte Primärüberschuss 1,75 und 2018 3,5% betragen. Ausserdem ist Athen verpflichtet, marktwirtschaftliche Reformen voranzutreiben.Die Gläubiger fordern Reformen.
Strukturelle Reformen wie die Deregulierung des Arbeitsmarktes sind grundsätzlich zu begrüssen. Aber würde es wirklich etwas nützen, wenn wir den Kündigungsschutz noch mehr lockern? Es gäbe einfach mehr Entlassungen, und die Lohnrechnung würde etwas kleiner. Der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage wäre damit nicht geholfen. Dazu braucht es erst ein funktionierendes Bankensystem. Wenn man in einem deflationären Entschuldungsprozess steckt, ist es sehr schwierig, ein Land zu reformieren. Wenn die Leute hungern, kümmern sie sich nicht um die Steuerrechnung. Strukturreformen sind nur möglich, wenn die Wirtschaft expandiert, das sieht nun selbst der IWF so.

Ist ein Land mit einem derartigen Korruptionsproblem überhaupt reformierbar?
Ich möchte Griechenlands Laster nicht verteidigen. Aber eins muss ich klarstellen: Wenn Griechenland nicht im Euro wäre, würde sich niemand um die Korruption und die Ineffizienzen kümmern, und wir würden auch nicht in dieser Depression stecken. Wegen des Euros sind wir nun in dieser Krise. Sie verunmöglicht es uns, Reformen umzusetzen.

Aber wie würden Sie denn die Korruption im Land bekämpfen?
Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, es gab weltweit schon zahlreiche gelungene Antikorruptionskampagnen. Und denken Sie daran, die Leute, die Syriza gewählt haben, hatten genug von Korruption und Ineffizienz. Sie wollten einen modernen Staat. Sie waren zu Opfern bereit, doch dazu brauchten sie Hoffnung auf eine Verbesserung. Wenn man ihnen diese Hoffnung nimmt, sind Reformen unmöglich.

In ganz Europa gewinnen Parteien am rechten Rand Wähleranteile. Was halten Sie vom Vorwurf des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble an die EZB, für den Aufstieg der «Alternative für Deutschland» mitverantwortlich zu sein?
Es stimmt, dass die Geldpolitik der EZB mit Negativzinsen in einer Sparnation wie Deutschland mehr Schaden anrichtet als hilft und dadurch den Ultranationalisten in die Hände spielt. Negativzinsen können zudem unbeabsichtigte destruktive Folgen für die Gesamtnachfrage haben, wenn die Leute um ihre Ersparnisse fürchten und den Konsum weiter zurückfahren. Es stimmt zudem auch, dass in einem Umfeld sehr tiefer Zinsen das Potenzial für zukünftige Volatilität viel höher ist.

Aber…?
…ich muss Mario Draghi verteidigen, denn die tiefen und negativen Zinsen sind ein Symptom der europäischen Malaise und nicht die Ursache. Draghi hatte keine andere Wahl. Sein Vorgänger Jean-Claude Trichet hatte 2011 die Zinsen erhöht, was sich als grosser Fehler herausstellte.

Was ist denn die Malaise der Eurozone?
Es gibt drei Probleme, die miteinander verbunden sind. Erstens gibt es kein Zinsniveau, bei dem der Geldmarkt im Gleichgewicht ist, ohne den Vorsorgeeinrichtungen und dem Finanzsektor grossen Schaden zuzufügen. Der neutrale Zins, der Ersparnisse und Investitionen ins Gleichgewicht bringt, müsste heute noch tiefer liegen. Zweitens erschwert der hohe Leistungsbilanzüberschuss der Eurozone die Abwertungspolitik der EZB, und drittens nimmt die Geldmenge trotz der wachsenden Notenbankbilanz nicht zu.

Woher kommen diese Überschüsse im Aussenhandel und in der Leistungsbilanz?
Als Ganzes sparen die Europäer viel mehr, als sie investieren. Das gilt sowohl für den Privatsektor als auch für die Staaten, die wegen des Stabilitätspakts die Defizite reduzieren müssen. Solange sich daran nichts ändert, bleiben die Überschüsse bestehen, und der Euro bleibt unter Aufwertungsdruck. Draghi muss noch mehr Wertschriften kaufen, um die deflationären Kräfte zu bändigen.

Welche Lösung schlagen Sie vor?
Das Ziel muss sein, aus der Eurozone eine Art Vereinigte Staaten von Europa zu machen, mit einem Bundesbudget und einer gemeinsamen Aussenpolitik. Dazu bräuchte es auch eine gemeinsame Verfassung. Doch dass alle nationalen Parlamente in nützlicher Frist einer solchen zustimmen, ist fast aussichtslos.

Gibt es einen alternativen Weg?
Ja, die Simulation einer Föderation. Wir setzen die bestehenden Institutionen ein, um Instrumente und Institutionen zu simulieren, die in einem Bundesstaat zur Verfügung stünden. Das ist machbar und notwendig, um Europa zu retten.

Welche Massnahmen wären das konkret?
Statt das Geld für Anleihen von Staaten wie Deutschland und für verbriefte Hypotheken zu verschwenden, sollte die Zentralbank den Fokus allein auf Anleihen der Europäischen Investitionsbank EIB richten. Erst bräuchte die EIB aber vom Europarat grünes Licht für ein Investitionsprogramm im Umfang von etwa 5 bis 6% des BIP. Dazu begibt sie Anleihen. Die EZB sorgt mit der Bereitschaft, diese zu erwerben, für tiefe Zinsen. So würde ein Investitionsprozess angestossen.

Und wie lösen wir das Schuldenproblem von Ländern wie Italien, wo die Verschuldung fast 130% des BIP beträgt?
In einer Föderation würde der Bundesstaat Anleihen ausgeben, die die EZB kaufen könnte, so wie das Fed in den USA Treasuries erworben hat. Auch ein solches Bundesschatzamt können wir simulieren. Man müsste dazu die Verbindlichkeiten aller Eurostaaten in gute und schlechte Schulden unterteilen. Die guten oder legalen Schulden sind der Teil, der unter der Maastrichter Grenze von 60% des BIP liegt, darüber ist der schlechte Teil. Die EZB hilft den Ländern nur bei den guten Schulden. Sie druckt dazu nicht einfach Geld, sondern begibt eigene Anleihen im Auftrag des Staates. Die Zinsen dieser EZB-Bonds wären tiefer, die Zinslast der Staaten würde sinken. Diese Lösung ist sogar kompatibel mit der EZB-Charta.

Würden die Staaten dadurch nicht den Anreiz verlieren, sparsam zu haushalten?
Nein, das Moral-Hazard-Problem wäre beseitigt. Denn auf dem schlechten Teil der Schulden würde das Zinsniveau von den Marktkräften bestimmt, wodurch die Staaten diszipliniert würden.

Ist die Eurozone mit der gemeinsamen Bankenaufsicht auf dem richtigen Weg?
Die Bankenunion ist noch nicht vollständig. Rom hat weniger Spielraum, eine Bank zu retten, als Berlin. Deshalb braucht es die Möglichkeit, dass im Konkursfall die Bank unter EU-Recht fällt und die EZB mit eigenen Leuten das Insolvenzverfahren abwickelt. Wenn wir das alles umsetzen, sind auf einmal alle drei genannten Probleme der Eurozone gelöst, ohne die EZB-Bilanz weiter aufzublähen. Dann erst kann Europa prosperieren. Und dann werden auch die antidemokratischen Parteien am rechten Rand verschwinden.

Was hält EZB-Chef Mario Draghi wohl von diesen Vorschlägen?
Wahrscheinlich würde er mir sogar zustimmen, aber es ist nicht Draghis Job, uns aus dieser Malaise zu befreien. Das liegt in der Verantwortung der Politik. Ich versuche mit meiner Arbeit, den politischen Prozess zu beeinflussen. Wenn genug Leute an eine Lösung glauben, kann sie möglich werden. Gute Dinge passieren nicht einfach so, doch wenn wir uns nicht zusammenreissen, kann es schlimm enden.

Was muss passieren, damit Sie wieder in die Politik einsteigen?
Ich bin politisch aktiv, wenn auch nicht im Parlament. Ich habe in der jetzigen Situation mehr Macht, etwas zu verändern. Ich kann jetzt sicher mehr bewirken als mein Nachfolger im Finanzministerium. Er führt nur Anweisungen aus und hat keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten. Solange meine ehemaligen Kollegen dieses aussichtslose Programm der Troika mittragen, steht ein Comeback für mich ausser Diskussion.

Was denken Sie über den Verlauf der Vorwahlen in den USA?
Auch in den USA erodiert die politische Mitte komplett, weil sie mitverantwortlich ist für die Exzesse vor und die Fehler nach der Finanzkrise. Den meisten Amerikanern geht es heute schlechter als vor dreissig Jahren, während diejenigen, die die Krise verschuldet haben, in Saus und Braus leben und sogar wieder in Ämtern sind. Da erstaunt es nicht, dass die Wähler sich abwenden. Die einen wählen Trump, weil sie glauben, dass er mit der etablierten Elite aufräumt. Die politisch Interessierteren wählen Sanders, weil er auch Lösungen präsentiert.

Ist der Brexit eine Gefahr oder eine Chance für Europa, sich zu reformieren?
Ich bin ein überzeugter Europäer und halte einen Austritt Grossbritanniens aus der EU für eine grosse Gefahr. Er würde die Fragmentierung der EU beschleunigen und den antidemokratischen Kräften Auftrieb geben.

Sie beraten den britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn. Was raten Sie ihm?
Eine staatliche Investitionsbank aufzubauen, um mit der EIB in die Zukunft zu investieren und den Fragmentierungsprozess in der EU zu stoppen.

Was kann die EU von der Schweiz lernen?
Wenn der Brand gelöscht ist und wir wie ein Bundesstaat die Probleme beheben, dann können wir in einem nächsten Schritt in Ruhe an einer europäischen Verfassung arbeiten. Dabei können wir viel von der Schweiz lernen. Das Beispiel der Schweizer Verfassung zeigt, dass ein Bundesstaat nicht zwingend einen Souveränitätsverlust auf den unteren Ebenen bedeuten muss.

 

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