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07:44 Uhr - 19.01.2016

«China hat ein riesiges Schuldenproblem»

Die offiziellen Wachstumszahlen in China seien übertrieben, sagt Willem Buiter, Chefökonom der Citigroup, im Interview. Dort wie auch in den Euroländern brauche es einen Stimulus durch Staatsausgaben.

Willem Buiter, Chefökonom der US-Grossbank Citigroup (C 42.47 -6.41%), erklärt im Interview mit «Finanz und Wirtschaft», dass China bald «ein riesiges, nicht erfasstes Problem mit schlechten Schulden» angehen muss. Bis das geschieht, dürften aber weiterhin schlechte Nachrichten aus der Volksrepublik kommen. Für Europa könne sich die Flüchtlingskrise langfristig als Segen erweisen. Doch dazu brauche es massive Investitionen der Staaten.

Zur PersonDer in den Niederlande geborene Willem Buiter provoziert gerne mit seinen Aussagen. So fordert er lautstark die Abschaffung des Bargeldes, um der Geldpolitik einen grösseren Effekt zu geben. Und der 66-Jährige plädiert für ein von der Zentralbank finanziertes Stimuluspaket in der Eurozone.

Seit 2010 ist er Chefökonom der Citigroup. Zuvor war er Professor an der London School of Economics and Political Science (LSE) wie auch Berater bei Goldman Sachs. Studiert hat er in Amsterdam und Cambridge. Seinen Doktorgrad erhielt er an der Universität Yale.

Er veröffentlicht regelmässig Publikationen auf seiner Webseite.
Professor Buiter, warum herrscht am Markt so viel Unsicherheit um China?
Wenn man wissen will, wohin es geht, hilft es zu wissen, wo man sich gerade befindet. Aber niemand weiss, wo wir stehen, wenn es um China geht. Wir kennen das Wirtschaftswachstum in China nicht. Offiziell betrug es zuletzt 6,9%. Meiner Ansicht nach ist es um die 4%. Das Wirtschaftsinstitut Conference Board denkt gar, es liege bei 3,75%. Suchen Sie sich eine Zahl aus.

Warum liegen die Schätzungen so weit auseinander?
Meiner Ansicht nach ist die Überkapazität in so gut wie jeder traditionellen Industrie massiv. Andere sagen, das gelte nur für die staatseigenen Betriebe. Ein weiterer Unterschied: Ich glaube, die Schulden der lokalen Regierungen und der Staatsbetriebe werden nie zurückgezahlt. Andere sagen, das sei kein Problem, da den Schulden auch Vermögenswerte gegenüberstünden. Die sollten garantieren, dass die Schulden zurückgezahlt werden können.

Reichen diese Vermögenswerte denn nicht aus, um die Schulden zu bezahlen?
Ich glaube, die zukünftigen Cashflows aus diesen «Vermögenswerten» sind wahrscheinlich negativ, diskontiert man sie auf heute ab. Es gibt ein riesiges, nicht erfasstes Problem mit schlechten Schulden. Das muss von der Regierung angegangen werden.

Wie kann dieses Problem gelöst werden?
Es braucht eine Zuführung von Staatsmitteln in die Banken oder an die Schuldner der Banken – und das lieber früher als später. Bis das Problem anerkannt wird, ist das chinesische Finanzsystem ein halber Zombie. Die Banken vergeben keine neuen Kredite an neue, möglicherweise profitable Projekte, da sie durch schlechte alte Projekte belastet werden.

Das klingt wie Japan in den Neunzigerjahren.
Ja, aber Japan brauchte vierzehn Jahre, um das Schuldenproblem endlich anzugehen. Ich glaube nicht, dass China so lange braucht. Sie werden das Problem wahrscheinlich dieses oder nächstes Jahr angehen.

Wie sehr berücksichtigt der Markt schon die Probleme Chinas?
Weltweit ist am Aktienmarkt schon ein grosser Teil der Probleme eingepreist. Das Wachstum in China schwächt sich ja bereits seit Jahren ab. Aber die Märkte könnten noch zu optimistisch sein, wie schnell und wie stark die Chinesen auf die Probleme antworten. Am Ende wird die chinesische Regierung mit einem erheblichen Bankenrettungsprogramm und Stimulus aus Staatsmitteln reagieren, das geschieht aber wahrscheinlich noch nicht dieses Jahr.

Damit könnte 2016 weitere Enttäuschungen aus China bringen?
Ein weiteres Jahr mit einem schwächeren Wachstum in China wird mehr Druck auf Unternehmen und Länder bringen, die nach China exportieren. Besonders treffen wird es die Exporteure von Rohstoffen, Baustoffen, Zwischenprodukten und im Luxusbereich. Aber die Ausfuhr von Basiskonsumgütern nach China sollte nicht leiden. Dieser Markt ist ziemlich robust.

In Europa sieht der Wachstumstrend besser aus. Ist das ein Resultat der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank EZB?
Ohne Frage gibt es eine Erholung in Europa. Und die EZB hat daran mitgewirkt. Aber es gibt zusätzliche Gründe für die Erholung. Die Staatsausgaben sind weniger prozyklisch geworden – sie steigen also auch, wenn das Wirtschaftswachstum schwach ist. Die Fiskalpolitik hatte das Wachstum vor 2015 stark gedrückt. Im vergangenen Jahr waren die Staatsausgaben dann gegenüber dem Wachstum neutral. Dieses Jahr könnte die Fiskalpolitik die Wirtschaft stimulieren. Grund dafür sind die Ausgaben für Verteidigung, innere Sicherheit und Flüchtlinge. Und was viele Leute vergessen: Erholungen können auch ohne fiskalischen und geldpolitischen Stimulus geschehen.

Die Fiskalpolitik ist wichtiger als das, was die EZB tut?
Die Zinssenkungen der EZB haben den Wechselkurs tief gehalten. EZB-Präsident Mario Draghi hat sein Versprechen vom Juli 2012 erfüllt, alles zu tun, um den Euro zusammenzuhalten. Die Zentralbank hat unbestritten die Möglichkeit, einen Kollaps des Finanzsystems zu vermeiden. Daraus wurde aber fälschlicherweise geschlossen, dass sie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stimulieren kann, wenn sich die Wirtschaft in einem normaleren Zustand befindet. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen der Verhinderung einer Katastrophe und der Stimulierung von Nachfrage. Eine Zentralbank hat die Möglichkeit, eine Finanzkrise abzuwenden, aber nicht unbedingt, die Nachfrage anzuregen.

Die Anleihenkäufe der EZB sind gedacht, die langfristigen Marktzinsen zu senken. Hilft das der Wirtschaft nicht?
Die Marktpreise, die sich bewegt haben – Wechselkurs, Aktienkurse, der risikofreie Zins und Risikoaufschläge für Staatsanleihen –, haben nur beschränkt Einfluss auf die Wirtschaft und die privaten Ausgaben. Die Inflationserwartungen am Markt sind zwar gestiegen, aber nicht für die nächsten fünf Jahre.

Die EZB verfehlt also ihr Ziel, die Teuerung anzutreiben?
Ich glaube nicht, dass die EZB ihr Inflationsziel von «unter, aber nahe 2%» in den nächsten drei Jahren erreichen wird. Aber Draghi macht, was er kann. Und genauso wichtig wie Offenmarktgeschäfte ist ein offener Mund. Ein Problem entsteht aber, wenn die Leute sehen, dass der Effekt ausbleibt. Die Zentralbank verliert dann an Glaubwürdigkeit, und die Worte haben keine Macht mehr.

Sind Sie besorgt, dass der niedrige Ölpreis einen negativen Effekt haben könnte, indem der deflationäre Druck erhöht wird?
Der niedrige Ölpreis ist eine gute Nachricht für den Euroraum als grossen Netto-Ölimporteur. Konsumenten und Unternehmen werden davon profitieren. Davon sollten wir mehr haben, der Ölpreis kann nicht tief genug sein. Man sollte den Effekt des niedrigen Ölpreises auf die Inflationszahlen herausrechnen. Das gilt aber auch, wenn die Inflationszahlen steigen, falls der Ölpreis 2016 nicht weiter sinken würde. Das heisst, man sollte nicht auf expansive Massnahmen verzichten, falls die Inflation anzieht, weil der Ölpreis nicht mehr sinkt.

Sie haben vorgeschlagen, dass man das Papiergeld abschaffen soll. Das würde ermöglichen, die Negativzinsen noch tiefer zu setzen. Könnte das der EZB helfen?
Es wäre sehr hilfreich für die mittel- und langfristige Geldpolitik. Leider ist das im Moment nicht auf der Agenda. Das Papiergeld abzuschaffen und vollständig zu elektronischem Geld überzugehen, wäre eine gute Idee. Denn Haltekosten von Papiergeld setzen momentan die Grenze, wie tief die Zinsen sinken können. Eine andere Möglichkeit besteht darin, einen Wechselkurs zwischen Papiergeld und Bankeinlagen einzuführen. Aber selbst wenn wir keine Untergrenze für negative Zinsen hätten, bleibt die Frage: Wie reagiert die Gesamtnachfrage auf Negativzinsen? Es besteht der Verdacht, dass die Leute in einem Umfeld mit niedrigen Zinsen zu Zielsparern werden.

Was hat das Zielsparen für Auswirkungen?
Wenn die Leute für einen gewissen Lebensstandard im Ruhestand sparen, könnten sie gezwungen sein, bei niedrigeren Zinsen mehr zu sparen. Ich weiss nicht, ob das zutrifft. Wir haben keine Erfahrung mit tiefen Negativzinsen, ausser in Japan. Aber es würde der Standard-Wirtschaftstheorie nicht widersprechen, wenn der Einkommens- den Substitutionseffekt dominiert. Das hiesse in der Summe, dass der jetzige Konsum nicht dadurch erhöht wird, indem zukünftiger Konsum nach vorne gezogen wird. Denn die niedrigeren Zinsen würden das Lebenseinkommen der älteren Konsumenten verringern. Durch das Zielsparen würde also der Konsum abnehmen, wenn die Zinsen negativ sind.

Ist solch eine Situation vorstellbar?
Sie ist sicherlich eine Möglichkeit. Aber ich bin unsicher ob der praktischen Relevanz dieses Effekts, da wir so wenige Daten für Phasen mit Negativzinsen haben. Wir können jedoch beobachten, dass die Kapitalinvestitionen der Unternehmen nicht sehr auf den Zins reagieren. In vielen Teilen der Welt herrschen Überkapazität und eine hohe Verschuldung vor. Eine Zinssenkung wird wahrscheinlich am ehesten dafür verwendet, die Verschuldung zu senken, statt mehr Schulden aufzunehmen.

Kürzlich haben Sie für einen Fiskalstimulus, finanziert durch die Geldpolitik der EZB, argumentiert. Das ist quasi ein Geldabwurf aus dem Helikopter. Glauben Sie wirklich, dass die Regierungen direkt durch die EZB finanziert werden sollten?
Wichtig ist, dass es zur selben Zeit einen Fiskalstimulus finanziert durch Staatsanleihen gibt und eine von der EZB ausgelöste entsprechende Zunahme des Notenbankgeldes. Selbst wenn diese beiden Dinge aus «unabhängigen Gründen» geschehen und lediglich durch Intermediäre wie Banken miteinander verbunden sind, wäre das wirtschaftlich gleichwertig mit dem Abwerfen von Helikoptergeld. Das geschieht jetzt. Und es wird sich ausweiten, da die Regierungen im Euroraum mehr Schulden aufnehmen werden, um es für Flüchtlinge bzw. Immigranten, innere Sicherheit und den konventionellen Krieg gegen den IS auszugeben. Das wird schon dieses Jahr dem Euroraum wirtschaftlich helfen.

Aber monetär – aus der Geldpolitik – finanzierte Staatshaushalte im Euroraum sind doch das, was Deutschland verhindern wollte.
Der französische Präsident François Hollande hat richtigerweise gesagt, dass Sicherheitspakete den Stabilitätspakt übertrumpfen. Natürlich wäre mir eine Welt lieber, in der Regierungen das Geld für etwas Sinnvolleres verwenden, als den IS zu bombardieren. Aber in der Not isst der Teufel Fliegen.

Was für Staatsausgaben würden Sie vorziehen?
Der beste Fiskalstimulus wäre eine Erhöhung der Kapitalinvestitionen des öffentlichen Sektors mit einer hohen Rendite – sowohl durch Einnahmen als auch durch die Steigerung der öffentlichen Wohlfahrt. Staatliche Ausgaben für dieses soziale Kapital würden die mögliche Wirtschaftsleistung – das Potenzialwachstum – erhöhen. Zum einen könnte dies durch mehr und besseres Humankapital sowie Infrastruktur geschehen. Zum anderen, indem Investitionen in den technologischen Wandel gefördert werden.

Das sind aber langfristige Projekte.
Man muss zwei Dinge auseinanderhalten. Es gibt ein Nachfrageproblem. Das heisst, dass man die Wirtschaft durch einen Anschub der Nachfrage stimulieren sollte – auch mit Staatsausgaben. Dazu muss der staatliche Stimulus durch die EZB finanziert werden. Aber Staatsausgaben und ein Abwurf von Helikoptergeld allein helfen noch nicht gegen das geringe Potenzialwachstum. Dagegen braucht es beispielsweise eine andere Bevölkerungsentwicklung, Kapitalakkumulation und Produktivitätswachstum.

Bei der Bevölkerungsentwicklung könnten Flüchtlinge doch helfen?
Genau, wenn die Sache richtig angepackt wird. Wenn man ernsthaft Geld für die Integration vieler Flüchtlinge ausgeben würde, hätte man das Nachfrageproblem gelöst und gleichzeitig etwas gegen die Probleme auf der Angebotsseite getan. Die Flüchtlinge müssen in die Erwerbswelt integriert werden mit Bildung. Besonders durch Sprachunterricht und die Vermittlung produktiver Fertigkeiten. Die einfachen Industriejobs, in denen in der Vergangenheit viele türkische Einwanderer in Deutschland untergekommen sind, existieren nicht mehr. Ausserdem braucht es Ausgaben für die soziale und kulturelle Integration.

Wo können Flüchtlinge denn arbeiten?
Man braucht Programmierer wie auch Leute im Dienstleistungsbereich. Dazu muss man Englisch und Deutsch können. Doch die Fremdenfeindlichkeit in Europa ist so stark gestiegen, dass es eine grosse Herausforderung wird, die Flüchtlingskrise von einem Fluch zu einem Segen zu wenden.

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