An Wallstreet kommt Champagnerlaune auf. Am Mittwoch können die US-Börsen die längste Hausse der Geschichte feiern. Der renommierte US-Finanzhistoriker Richard Sylla warnt jedoch, dass die Party bald vorbei ist.
Es ist ein Moment für die Geschichtsbücher. Heute Mittwoch sind es 3452 Tage her, seit die Hausse an den amerikanischen Aktienmärkten am 9. März 2009 begonnen hat. Es ist damit der längste Aufwärtstrend in den Chroniken Wallstreets ohne einen Rückschlag von 20% oder mehr. Für den Finanzhistoriker Richard Sylla ist das jedoch kein Grund, übermütig zu werden. Der renommierte Professor emeritus an der New York University erklärt im Interview, weshalb es bis zum nächsten Crash höchstens noch ein bis zwei Jahre dauern dürfte.
Professor Sylla, die Hausse am amerikanischen Aktienmarkt hält inzwischen fast neuneinhalb Jahre an. Wie ungewöhnlich ist das für Sie als Finanzhistoriker?
Die Kursavancen haben sich dieses Jahr zwar etwas verlangsamt. Trotzdem halten sich die US-Börsen gut und bewegen sich nur knapp unter der Rekordmarke von Ende Januar. Das überrascht, gibt es doch diverse Unsicherheitsfaktoren: Die Währungskrise in der Türkei, die Probleme mit Italien in der EU sowie die Gefahr eines Handelskriegs. Hinzu kommt das erratische Verhalten von Präsident Trump.
Wie erklären Sie sich also, dass die Finanzmärkte diese Risiken weitgehend ignorieren?
In der Spätphase einer Hausse verhalten sich Investoren nicht immer irrational. Die Kurse können deshalb höher steigen, als man denkt. Das war zum Beispiel vor dem Crash von 1929 der Fall und ebenso Ende der Neunzigerjahre. Das Technologiebarometer Nasdaq klettere damals allein in den letzten Monaten rund 1000 Punkte, bevor die Blase platzte.
Hätten Sie auf dem Tief im März 2009 gedacht, dass diese Hausse so lange dauern würde?
Nein, das hätte ich nicht erwartet. Nach dem Börsencrash im Zug der Finanzkrise sah ich aus historischer Perspektive allerdings viel Grund zur Zuversicht, denn wenn die Kurse über einen langen Zeitraum wie zwischen 2000 und 2009 sinken, geht es in den folgenden Jahren normalerweise kräftig aufwärts. Deshalb prognostizierte ich im Herbst 2011 im «Wall Street Journal», dass der S&P 500 unter konservativen Annahmen auf bis zu 2300 steigen könnte – ein Niveau, das er inzwischen deutlich überschritten hat.
Auf was für Annahmen basierte diese Prognose?
Als Finanzhistoriker konzentriere ich mich auf langfristige Trends. Auf lange Sicht lösen sich die Auf- und Abwärtsbewegungen an der Börse oft nach einem ähnlichen Muster ab, wobei ich mich am realen durchschnittlichen Ertrag inklusive Dividenden über eine Periode von zehn Jahren orientiere. Steigt diese Rendite auf 18 bis 19%, ist das meist ein Signal, dass der Zyklus den Zenit erreicht hat. In der Folge kann die Rendite dann bis auf null oder sogar ins Minus fallen, wie das in den Dreissigerjahren oder in der Zeitspanne zwischen 2000 und 2009 zu beobachten war. Das ist dann wiederum ein Anzeichen dafür, dass bald ein neuer Zyklus neu beginnt und in den kommenden zehn Jahren wieder wesentlich bessere Erträge mit Aktien zu erwarten sind.
Inwiefern lassen sich solche Zyklen denn vergleichen?
In den Zwanzigerjahren kam es zu einer kräftigen Hausse, die an den langen Aufwärtstrend der Neunzigerjahre erinnert. Der Erste Weltkrieg war zu Ende, Amerika avancierte zur führenden Wirtschaftsmacht und es setzten sich viele technologische Innovationen wie Elektrizität, Flugzeuge, Radio und Kinofilme durch. Ähnlich war es in den Neunzigern, als die USA nach dem Kalten Krieg als einzige Supermacht verblieben und das Internet eine technologische Revolution auslöste. Solche Innovationsschübe bieten einen fruchtbaren Nährboden für Kursavancen. Das gilt auch für diese Hausse mit neuen Geräten wie dem iPhone und anderen Innovationen im digitalen Bereich.
Auffällig ist zudem, dass es der aktuelle Aufwärtstrend und die bisherige Rekordhausse während der Neunzigerjahre relativ dicht aufeinander folgen.
Früher dauerte eine Hausse in der Regel kaum zwei Jahre. Oft konnte sich ein Aufschwung sogar kaum ein Jahr halten. Das hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg geändert. Die meisten Aufwärtstrends haben seither mehr als zwei Jahre gedauert. Bereits während der Sechziger- und der Achtzigerjahre kam es zu langen Phasen mit steigenden Kursen. Aus meiner Sicht hat das vor allem damit zu tun, dass die moderne Wirtschaft weniger von den Zyklen im Industriesektor abhängig ist.
Sie haben dazu Daten zurück bis zur Gründung der Vereinigten Staaten im Jahr 1776 ausgewertet. Gab es früher einmal eine Hausse, die sogar noch länger als der aktuelle Aufschwung anhielt.
Das bezweifle ich. Im 19. Jahrhundert dominierte zunächst die Landwirtschaft den Konjunkturzyklus, worauf später die Industrie den Takt angab. Deshalb kam es früher viel häufiger zu Rezessionen: Im Durchschnitt alle vier Jahre, womit auch die Zyklen an den Finanzmärkten viel kürzer waren. Was aber die langfristigen Renditen betrifft, waren Investoren nicht wesentlich schlechter gestellt. Vereinfacht gesagt ging es mit den Erträgen an den Finanzmärkten früher jeweils zwei Schritte vorwärts und dann einen zurück. Heute sind es eher fünf oder sechs Schritte nach vorn und dann einen umso grösseren Rückwärts.
Oft heisst es aber auch, dass diese Hausse massgeblich durch die ultralockere Geldpolitik befeuert worden sei.
Dem stimme ich zu. Bereits der lange Aufwärtstrend an den Börsen ab den späten Achtzigerjahren war von sinkenden Zinsen geprägt. Vor Beginn dieser Hausse senkte die US-Notenbank die Zinsen während der Finanzkrise dann sogar noch tiefer und hielt sie lange Zeit auf extrem niedrigem Niveau gedrückt, wozu die Stimulusprogramme QE1, QE2 und QE3 hinzukamen. Ende 2015 hat das Federal Reserve zwar begonnen, die Geldpolitik allmählich zu strafen. Inflationsbereinigt bewegt sich das reale Zinsniveau jedoch immer noch auf nahezu 0%.
Wie extrem waren diese geldpolitischen Massnahmen im historischen Vergleich?
In der Geschichte der Menschheit waren die Zinsen noch nie so tief wie in den vergangenen zehn Jahren. Daten dazu lassen sich bis zu den babylonischen Rechtssprüchen aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. finden. Im antiken Mesopotamien war der Zins zu dieser Zeit auf 16% für Geldkredite und auf 30% für Darlehen in Form von Getreide festgesetzt.
Was heisst das demnach für den Ausblick an den Börsen?
Wie gesagt gibt es viele Gründe, die zu Vorsicht mahnen. Dennoch verhalten sich viele Investoren ausgesprochen sorglos. Sie glauben nicht daran, dass etwas schief gehen könnte. Im Gegenteil: Die Aktienkurse werden weiter nach oben gepuscht.
Wie lange kann das noch gut gehen?
Wir bewegen uns mittlerweile auf einem Terrain, auf dem man bald mit der nächsten Baisse rechnen muss. Gemäss langfristigen Bewertungsinstrumenten, wie sie beispielsweise der Ökonom Robert Shiller verwendet, waren amerikanische Aktien nur in zwei Fällen teurer: 1929 und 1999/2000. 1929 folgte darauf die Grosse Depression und nach 2000 entleerte sich die Internetblase. Beide Male brachen die Kurse tief ein. Ich rechne daher damit, dass es spätestens in ein oder zwei Jahren zu einer Baisse kommt.
Was könnte der Auslöser dafür sein?
Die Überhitzung der amerikanischen Wirtschaft. Obschon das Federal Reserve die Zügel anzieht, ist die Geldpolitik nach wie vor stimulativ. In Kombination mit den Steuerkürzungen und den höheren Staatsausgaben wirkt sie damit, wie wenn man Öl ins Feuer giesst. Das Fed wird sich deshalb dazu gezwungen sehen, die Zinsen schneller zu straffen, als es die Märkte erwarten.
Warum messen Investoren diesem Risiko nicht mehr Bedeutung zu?
Die Finanzmärkte sind selbstzufrieden. Sie mögen die Steuerkürzungen, weil davon vor allem Leute mit höherem Einkommen profitieren, wie das im Finanzsektor der Fall ist. Entsprechend optimistisch ist die Stimmung an den Märkten. Zuversicht herrscht ebenso im Bereich der Unternehmen, denn sie sind die grössten Nutzniesser der Steuerreform. Diese Effekte sind jedoch nur kurzfristig. Auf mittlere bis lange Sicht führt die expansive Fiskalpolitik dazu, dass sich die Wirtschaft immer mehr aufheizt und das Fed in Zugzwang gerät. Wallstreet müsste das eigentlich besser wissen, denn ein Boom endet in der Regel immer dann, wenn das Fed die Geldpolitik verschärft.
Fed-Chef Jerome Powell scheint die Lage aber bislang im Griff zu haben.
Die US-Notenbank hat den Leitzins in den letzten Jahren von nahezu 0 auf 2% erhöht und plant, ihn weiter graduell auf 3 bis 4% anzuheben, um die Geldpolitik zu normalisieren. Wenn die Konjunktur aber überhitzt, wird es nicht ausreichen, die Zinsen lediglich zu normalisieren. Das Fed muss dann aggressiver vorgehen, damit die Inflation nicht ausser Kontrolle gerät.
Kann das die Wirtschaft verkraften?
Die rekordtiefen Zinsen haben den Staat, die Unternehmen und die Haushalte dazu ermuntert, mehr Schulden aufzunehmen. Bei steigenden Zinsen wird es schwieriger, diese Kredite zu bedienen. Das gilt speziell für Darlehen mit flexiblen Sätzen. Erste Folgen davon lassen sich im Immobiliensektor erkennen, wo sich der Verkauf von Häusern abgeschwächt hat.
Präsident Trump kritisiert schon jetzt, dass die US-Notenbank einen zu strengen Kurs fahre. Droht dem Fed ein ernsthafter Konflikt mit der US-Regierung?
Dass Präsident Trump das Fed wegen der steigenden Zinsen kritisiert ist nicht ungewöhnlich. Er will, dass die Wirtschaft mit Blick auf die Zwischenwahlen in diesem Herbst und die Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren brummt. Eine strengere Geldpolitik würde die Konjunktur jedoch bremsen. Investoren sollten daher genau beobachten, wie sich das Verhältnis zwischen Trump und dem Fed entwickelt. Wenn die Notenbank ihre politische Unabhängigkeit wahren will und die anziehende Inflation mit höheren Zinsen bekämpft, könnte das Trump in Rage versetzen.
Gab es in der Vergangenheit schon einmal eine ähnliche Auseinandersetzung?
Die Situation erinnert mich an die Sechzigerjahre. Fed-Chef William McChesney Martin gab damals dem Druck von Präsident Lyndon B. Johnson nach und lockerte die geldpolitischen Zügel, was letztlich zur Grossen Inflation führte. In der US-Notenbank ist man sich heute genau bewusst, dass Martin einen Fehler machte. Das Fed wird deshalb versuchen, politische Standhaftigkeit zu beweisen und sich nicht in eine ähnliche Lange drängen zu lassen. Das bedeutet, dass die Gefahr einer Auseinandersetzung mit der US-Regierung besteht. Ein solcher Konflikt könnte bereits ausreichen, um die Finanzmärkte zu verunsichern.
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