George Magnus, langjähriger Chefökonom der UBS Investment Bank, über die Folgen des Brexit-Referendums für die Börsen und für Grossbritanniens Wirtschaft.
Der Ausgang des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich am Morgen des 24. Juni 2016 war ein Schock für die Finanzmärkte. Nach zwei Tagen heftiger Turbulenzen haben sich die Börsen allerdings bereits wieder beruhigt. Viel Lärm um nichts? George Magnus bleibt skeptisch. Der Brite und frühere Chefökonom der UBS (UBSG 11.69 -3.63%) warnt vor einem weiter sinkenden Pfund und erklärt, weshalb die Märkte unfähig sind, mit Ungewissheit umzugehen.
Herr Magnus, schon wenige Tage nach dem Brexit-Referendum haben sich die globalen Finanzmärkte beruhigt. Sie scheinen dem Thema keine grosse Bedeutung mehr zuzumessen. Liegen sie richtig?
Es kommt darauf an, welchen Indikator Sie betrachten. Der Hauptindex des Londoner Aktienmarktes, FTSE 100, hat sich tatsächlich kräftig erholt. Das erstaunt nicht, denn er enthält die Standardwerte, die den Grossteil ihres Umsatzes ausserhalb Grossbritanniens erwirtschaften. Sie profitieren von der Abschwächung des Pfunds. Der FTSE 250 hingegen, der mehr inländisch orientierte Unternehmen abdeckt, hat stärker gelitten. Der wohl tauglichste Indikator für die Tragweite des Referendums ist die Währung: Das Pfund ist auf ein Dreissigjahrestief gefallen. Und es wird noch weiter fallen.
Trotzdem: Gemessen an den ursprünglichen Befürchtungen haben die Märkte die Überraschung gut verdaut.
Wir dürfen nicht vergessen: Noch ist auch nichts geschehen. Es sind erst wenige Tage seit dem Referendum vergangen. Bereits signalisieren aber Indikatoren aus dem Bau- und dem breiteren Unternehmenssektor einen Stimmungsabschwung. Ich gehe davon aus, dass wir im Sommer und Herbst immer mehr Signale sehen werden, wie stark die Wirtschaft Grossbritanniens unter der nun grassierenden Ungewissheit leidet. Nur ein Beispiel: Am Montag hat Standard Life Investments einen Immobilienfonds geschlossen, weil Investoren im grossen Stil ihr Geld ausbezahlt haben wollten. Das ist möglicherweise ein gefährliches Signal für den britischen Immobilienmarkt.
Wie gehen die Finanzmärkte mit dieser Ungewissheit um?
Sie können es nicht. Die Finanzmärkte sind gut und effizient darin, Risiken einzupreisen. Risiken, die mit einer mathematischen Wahrscheinlichkeit beziffert werden können, sind kein Problem. Doch die Finanzmärkte haben nicht die leiseste Ahnung, wie sie mit Ungewissheit umgehen sollen. Sie sind blind. Welche Zukunft für Grossbritannien sollen sie diskontieren? Wir wissen nicht einmal, wo wir nächste Woche stehen werden. Die konservative Tory-Partei hat momentan keine Führung. Wir wissen nicht, wie unsere nächste Regierung aussehen und wie lange sie Bestand haben wird. Die Opposition im Parlament ist tot, die Zukunft der Labour-Partei ist infrage gestellt. Wir haben keine Ahnung, wann, durch wen – und ob überhaupt – der Artikel 50 des Lissabonner Vertrags ausgelöst wird, der den formellen Prozess des Austritts aus der EU einleitet. Grossbritannien ist mit existenziellen Fragen konfrontiert, und wir haben keine Ahnung, wie wir damit umgehen werden.
Zur PersonGeorge Magnus ist einer der renommiertesten Bankökonomen Europas. Seine Karriere führte ihn zunächst zu S.G. Warburg. Als das Londoner Investmenthaus 1995 von der UBS übernommen wurde, stiess der Brite als Chefökonom zur UBS Investment Bank. Diese Position hielt er bis 2012, seither dient er der Bank als unabhängiger Berater. Magnus ist einer der wenigen Marktbeobachter, die vor 2007 vor einer gefährlichen Kreditblase gewarnt hatten. Heute schreibt der vierfache Vater aus seinem Haus in London einen Blog (www.georgemagnus.com) und ist ein überaus aktiver Twitterer (@georgemagnus1). Könnte es sein, dass die Märkte allmählich das Szenario einpreisen, dass es gar nicht zum EU-Austritt kommen wird?
Ja, das ist möglich. Momentan findet im Land eine intensive Diskussion unter Verfassungsrechtlern statt. Ich gestehe, ich habe keine Ahnung von Verfassungsrecht, aber gehen wir mal die politischen Schritte durch, die vor uns liegen: Alles beginnt mit dem Auslösen des mittlerweile bekannten Artikels 50 der Lissabonner Verträge. Damit startet der Prozess, das Vereinigte Königreich aus allen vertraglichen Verpflichtungen mit der EU herauszulösen. Parallel dazu können die Verhandlungen über das neue Verhältnis, zum Beispiel in Handelsfragen, zwischen dem Königreich und der EU gestartet werden. Gleichzeitig muss das Parlament Tausende von Gesetzen und Statuten, die bis in die Siebzigerjahre zurückreichen, überprüfen, verändern oder streichen. Das enorme Ausmass dieser Aufgabe könnte jede Regierung abschrecken.
Sie meinen, London könnte schlicht darauf verzichten, den Artikel 50 auszulösen?
Das ist denkbar. Theresa May, die momentan aussichtsreichste Kandidatin für die Tory-Führung, hat gesagt, sie würde Artikel 50 nicht auslösen, bevor die Verhandlungsposition Londons gegenüber der EU geklärt ist. Mehrere Exponenten der EU wiederum haben gesagt, es gebe keine Gespräche, bevor Artikel 50 nicht ausgelöst ist. Das schafft eine Pattsituation, die lange anhalten könnte.
Wie lange?
Das weiss ich nicht. Doch im Frühjahr 2017 sind nationale Wahlen in Frankreich, gefolgt von Wahlen im Herbst in Deutschland. So gesehen ist es durchaus vorstellbar, dass das Patt bis Ende 2017 anhalten wird. Und was geschieht, wenn Grossbritannien in eine Rezession fällt und die Arbeitslosenrate steigt? Was, wenn wir in den nächsten anderthalb Jahren Neuwahlen haben, die als eine Art zweites Referendum zur EU-Mitgliedschaft angesehen würden? Es ist vorstellbar, dass es unter diesen Gesichtspunkten nie zum Austritt kommt. Ich gebe dazu keine Prognose, ich weiss es schlichtweg nicht. Das ist genau die Art von lähmender Ungewissheit, die ich eingangs angesprochen habe.
Hat man das nicht kommen sehen?
Die entscheidende Weichenstellung geschah am Freitag, dem 24. Juni: Premier David Cameron hat nicht umgehend den Artikel 50 ausgelöst, sondern zog es vor, zurückzutreten. Man kann davon halten, was man will: Meiner Meinung nach hat Cameron einen strategischen Fehler begangen, als er das Referendum überhaupt zugelassen hat. Mit seinem Rücktritt hat er nun eine Situation mit mehrmonatiger Ungewissheit geschaffen. Das mag ein schlauer Schachzug gewesen sein. Wir werden sehen. Jemand anderes muss nun die Verantwortung für den Ausgang des Referendums übernehmen.
Fällt das Königreich nun in eine Rezession?
Ja, wahrscheinlich. Sie wird aber nicht so schlimm wie nach der Finanzkrise von 2008, weil die Banken heute in einem besseren Zustand sind. Aber die politische und regulatorische Ungewissheit lähmt alle Investitionsentscheide. Die neue Tory-Regierung dürfte von ihrem Austeritätskurs Abkehr nehmen und das Ziel, bis 2020 einen Haushaltsüberschuss zu erreichen, annullieren. Das wird die Schwere der Rezession lindern. Mehr Sorgen machen mir aber die mittel- und längerfristigen Konsequenzen des Brexit.
Inwiefern?
Die Handels- und Investitionsmuster in der Wirtschaft werden nachhaltig gestört. Unzählige Unternehmen überlegen sich bereits, Arbeitsplätze und Investitionsprojekte ins Ausland zu verlagern. Mir ist keine Bank in London bekannt, die sich nicht überlegt, Funktionen in andere Länder zu verlegen. Diese Überlegungen brauchen Zeit; die Effekte werden nicht sofort sichtbar sein. Aber wir werden an Investitionen, an Produktivität und auch an Steuersubstrat verlieren. Als Folge davon wird Grossbritannien in einigen Jahren ärmer sein, als es im Vergleich mit einem Verbleib in der EU gewesen wäre.
Könnte die Bank of England mehr tun, um die Wirtschaft zu unterstützen?
Die Bank of England unter Gouverneur Mark Carney macht heute einen guten Job. Sie ist die einzige Institution, die ihre Glaubwürdigkeit bewahrt hat. Sie ist bereit, die Liquiditätsschleusen sofort aufzudrehen, sollten sich im Bankensystem Stresssignale zeigen. Sie hat geldpolitisch noch etwas Munition verfügbar; sie kann die Leitzinsen um 50 Basispunkte senken und im Bedarfsfall ein neues Anleihenkaufprogramm auflegen. Aber die Bank of England kann nur palliativ wirken. Von der Ungewissheit kann sie die Wirtschaft nicht befreien.
Wenn Sie den Rest Europas anschauen: Welches Land bereitet Ihnen Sorgen?
Am meisten: Italien. Das dortige Bankensystem ist angeschlagen. Ministerpräsident Matteo Renzi will die Banken mit Staatsmitteln rekapitalisieren, doch weil das gegen die in der Eurozone geltenden Grundregeln der Bankenunion verstösst, erntet er starken Widerstand aus Brüssel, Frankfurt und Berlin. Im Oktober findet in Italien ein enorm wichtiges Referendum zur Verfassungsreform statt. Sollte Renzi verlieren, dürften Neuwahlen nur eine Frage der Zeit sein. Und dann haben wir rasch die Situation, in der ein wichtiges Land der Währungsunion zu den Urnen ruft und mit der Cinque-Stelle-Bewegung eine populistische Partei mit einem Anti-EU-Programm Erfolge feiern könnte. Italien ist momentan das schwächste Glied in der Kette; das Land ist wirtschaftlich und politisch fragil.
Wie steht es mit Frankreich?
Dort werden die Wahlen im nächsten Jahr spannend. Ich glaube nicht, dass Marine Le Pen das Präsidentenamt gewinnen wird, doch ihr Front National (NATN 87.8 0.92%) beeinflusst das politische Denken im Land so oder so. Eigentlich müsste das Brexit-Referendum und der Aufstieg der populistischen Parteien ein Weckruf für die politischen Eliten in Europa sein: Sie sind zu stark vom Kurs abgekommen.
Was müssten sie tun?
Europa aus der chronischen Wachstumsschwäche reissen. Zunächst muss das geschehen, indem sinnvolle Infrastrukturprojekte angegangen werden und die Staaten ihre Fixierung auf harte Fiskalziele aufgeben. Europas Politiker haben die Aufgabe, die Wirtschaft zu stützen, an die Europäische Zentralbank delegiert. Doch die EZB kann diese Aufgabe nicht allein lösen. Sie ist bereits am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen. Sie braucht die Unterstützung der Fiskalpolitik.
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