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15:54 Uhr - 30.10.2015

Jürgen Stark: «Deflationsgefahr wird überschätzt»

Jürgen Stark, ehemaliger Chefökonom der Europäischen Zentralbank, zweifelt am Erfolg der quantitativen Lockerung in Europa. Die Kosten seien viel höher, behauptet er im Interview mit «Finanz und Wirtschaft».

Die Negativzinsen sind nun auch im Süden der Eurozone angekommen. Der italienische Staat hat eine zweijährige Anleihe mit einer negativen Rendite platzieren können. Man könnte die fallenden Finanzierungskosten für die Euroländer als Erfolg der Europäischen Zentralbank (EZB) werten. Jürgen Stark schüttelt darüber nur den Kopf: «Wenn ein hochverschuldetes Land für die Schuldenaufnahme eine Prämie bekommt, zeigt das doch, dass das Finanzsystem aus den Fugen geraten ist», sagt der ehemalige EZB-Chefökonom. Stark sprach mit «Finanz und Wirtschaft» am Rande des Fund Experts Forum in Zürich, wo er einen Vortrag über die Grenzen der Geldpolitik hielt. Gemäss Stark verliert der Zins durch die Interventionen der Zentralbanken seine Signal- und Allokationsfunktion. Er stellt fest: «Die ganze Zinsstrukturkurve ist verzerrt.»

Seit seinem Rücktritt bei der EZB vor vier Jahren zählt Stark zu den schärfsten Kritikern der westlichen Zentralbankpolitik, insbesondere jener, die in Frankfurt gemacht wird. Offiziell gab Stark sein Amt aus persönlichen Gründen ab. Doch es war schon damals klar, dass sein Rücktritt die Folge der Meinungsunterschiede im EZB-Rat war: «Ich war dagegen, dass der damalige Präsident Jean-Claude Trichet dazu gedrängt wurde, Anleihen von Krisenländern zu kaufen.» Es sei nicht die Sache der Zentralbank, dafür zu sorgen, dass die Staaten sich günstig finanzieren könnten, argumentiert er heute wie damals.

Stark musste zusehen, wie in wenigen Stunden Verträge, die über Jahre verhandelt und ausgearbeitet worden waren, über den Haufen geworfen wurden. «Das war nicht mehr meine Währungsunion», sagt der promovierte Ökonom, der als Staatsekretär von 1995 bis 1998 im Bundesministerium der Finanzen massgeblich an der Einführung der Gemeinschaftswährung beteiligt war.

Stark warnt

Seit den umstrittenen Anleihenkäufen im Jahr 2011 hat die EZB ihr Mandat noch weiter strapaziert. Im Sommer 2012 kündigte ihr neuer Präsident Mario Draghi ein an Bedingungen geknüpftes Anleihenkaufprogramm an, die sogenannten Outright Monetary Transactions (OMT). Stark nannte sie «Outside the Mandate Transactions», da sie für ihn nicht in den Aufgabenbereich der Zentralbank gehören. Angewandt wurden die OMT nie. Stattdessen wurden sie Anfang dieses Jahres durch ein umfassendes uneingeschränktes Wertpapierkaufprogramm abgelöst. Seit März betreibt die EZB quantitative Lockerung (QE): Sie kauft monatlich für 60 Mrd. € Wertpapiere mit dem Ziel, die Bilanzsumme bis September 2016 auf das Niveau von 2012 aufzublähen und die Deflationsgefahr zu bekämpfen.

Doch Stark warnt davor, der Deflationsgefahr eine zu grosse Bedeutung beizumessen. Selbst in Japan gebe es bei den Preisen keine selbstverstärkende Abwärtsspirale, die für die Wirtschaft schädlich sei. «Wegen eines leicht rückläufigen Preisniveaus werden Anschaffungen und Investitionen nicht in die Zukunft verschoben.» Ohnehin müssten die derzeit niedrigen oder negativen Teuerungsraten besser verstanden werden. «Alternde Bevölkerungen haben nun einmal einen disinflationären Effekt», sagt Stark. Zudem hingen die fallenden Preise und Inflationserwartungen eng mit der Rohstoffbaisse zusammen.

Die jüngsten Andeutungen von Draghi lassen vermuten, dass das Wertpapierkaufprogramm aufgestockt und verlängert wird. Diese Erwartung teilt auch Stark. Er kritisiert: «Anstatt die Wirksamkeit des Medikaments zu hinterfragen, wird die Dosis erhöht.» Damit bewegten sich die Zentralbanken weiter in die falsche Richtung. Der Weg zurück in die Normalität werde immer schwieriger, denn zu gross sei die Angst vor Verwerfungen, wenn die Liquidität wieder zurückgeführt würde. Die Abhängigkeit der Regierungen und Marktteilnehmer von den Zentralbankaktivitäten werde noch grösser.

Mit der Fortsetzung der QE-Politik steige auch das Risiko von Übertreibungen und Finanzkrisen. Sie verhindere zudem den Entschuldungsprozess und begünstige das Entstehen von Zombie-Banken und -Unternehmen. Die Massnahmen verführten die Regierungen zu Reformmüdigkeit. «Eine weitere Nebenwirkung ist die Verschärfung der Einkommens- und Vermögensungleichheit», ergänzt Stark. Die EZB müsste in ihrer Entscheidung auch die schwerwiegenden Folgen für die Länder mit eigener Währung berücksichtigen, wie etwa der Schweiz. «Denn der Wechselkurs ist der einzige Kanal, über den das Anleihenkaufprogramm wirkt», sagt Stark.  «Doch darüber hinaus ist eine Wirkung unwahrscheinlich.» Im Unterschied zu den USA, wo das erste Anleihenkaufprogramm 2008 bis 2010 auch in den Augen von Stark erfolgreich war, seien die Bedingungen für ein wirksames QE weder in Europa noch in Japan erfüllt.

«Europas Kreditkanal ist verstopft»

«In Europa ist der Kreditkanal wegen der ungelösten Probleme im Bankensektor verstopft», sagt er mit Verweis auf die hohe Quote von faulen Krediten etwa in Italien. Da helfe ein QE wenig. Im Vergleich zu den USA treffe das europäische Kaufprogramm auf viel weniger flexible Märkte. Zudem agierten die europäische und die japanische Zentralbank bereits seit langem in einem Niedrigzinsumfeld. Damit entfalle die Möglichkeit, die Wirtschaft über tiefere Zinsen zu stimulieren.zoom

Und was tun die Zentralbanken im Fall einer erneuten Finanzkrise und einer Rezession?», fragt Stark rhetorisch. «Die Bilanz noch stärker ausweiten, bis sie die Wirtschaftsleistung eines Landes erreicht?».

Stark findet es falsch, dass die Zentralbanken heute eine aktive Politik der Nachfragestimulierung betreiben. Wenn es nach ihm ginge, dann hätte die EZB nie mit dem Kauf von Anleihen beginnen dürfen. «Die Geldpolitik muss akkommodierend sein, doch dazu reicht die Steuerung des Leitzinses.» Und wie hätte er in der Schuldenkrise reagiert? «Für Irland und Portugal hätte ein IWF-Programm gereicht.» Noch besser wäre ein geregeltes Insolvenzverfahren gewesen, das der IWF vorgeschlagen hatte. «Griechenland aber hätte schon 2010 aus der Eurozone ausscheiden müssen, um den Kern der Währungsunion zu schützen», ist Stark überzeugt. Griechenland bereitet ihm auch heute noch am meisten Sorgen. «Alle anderen Krisenstaaten haben in puncto Reformen Fortschritte gemacht.»

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