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18:00 Uhr - 20.10.2015

Die kanadische Version von Kennedy-Glanz

Der neue Premierminister hat Charisma. Die Wahlen gewann er mit dem Versprechen, Milliarden in Kanadas angeschlagene Wirtschaft zu investieren. 

In Kanada ist Glamour in die Politik zurückgekehrt. Justin Trudeau, seit Montag der designierte Premierminister des Landes, besitzt aber nicht nur Charisma und das Aussehen eines Rockstars. Er hat auch von seinem Vater, dem ehemaligen Regierungschef Pierre Elliott Trudeau, einen berühmten Namen und Reichtum geerbt. Aber damit allein hätte Justin Trudeau nicht einen solch unerwartet klaren Wahlsieg erreicht. Nach neun Jahren musste der bisherige konservative Amtsinhaber Stephen Harper den Hut nehmen. Harper selber hätte seinem Herausforderer, einem früheren Ski- und Theaterlehrer, den Aufstieg an die Spitze des Landes nie zugetraut.

Er stellte ihn vielmehr in aggressiven Fernsehspots als Greenhorn hin, das noch nass hinter den Ohren sei. Es trifft zu, dass Trudeau erst seit 2008 Abgeordneter in Kanadas Parlament und seit zweieinhalb Jahren Vorsitzender der Liberalen Partei ist. Aber was ihm an politischer Erfahrung mangelt, macht er mit physischer und geistiger Ausdauer und mit aufrichtigem Charme wett.

Während des längsten Wahlkampfes in Kanadas moderner Geschichte – er dauerte elf Wochen –, gewann Trudeau Tag für Tag an Statur und politischer Überzeugungskraft. In Debatten hielt er nicht nur mit den Konkurrenten mit, sondern brachte sie mit seinen Plänen in Bedrängnis. Die Wende dürfte wohl das Vorhaben der Liberalen gebracht haben,  über mehrere Jahre Milliarden in Kanadas angeschlagene Wirtschaft zu investieren und dafür auch ein Defizit in Kauf zu nehmen.

Justin Trudeau ist in einer Welt der Politik aufgewachsen. Als Kind lebte er mit zwei Brüdern in der offiziellen Residenz seines Vaters, der Kanada während insgesamt fünfzehn Jahren regierte. Nationale und ausländische Politiker und andere illustre Besucher gingen dort ein und aus. Justins Vater Pierre Trudeau liess die Kinder absichtlich an deren Tischgesprächen über Politik, Literatur oder Philosophie teilhaben.

Justin Trudeau erregte erstmals grosses Interesse in der Öffentlichkeit, als er eine vom Fernsehen übertragene Trauerrede an der Begräbniszeremonie seines Vaters im Jahr 2000 hielt. «A star is born», schrieb damals eine kanadische Zeitung. Der Weg in die Politik war geebnet. Aber der Sohn des legendären Vaters machte es sich nicht leicht: Seinen ersten Abgeordnetensitz erkämpfte sich Justin Trudeau in einem armen Arbeiterviertel in Montreal. Als er im April 2013 zum Vorsitzenden der Liberalen gewählt wurde, standen diese vor einem Scherbenhaufen. Die einst staatstragende Partei war nur noch ein kümmerliches Häufchen von 34 Abgeordneten im kanadischen Parlament.

Dank dem Magnet Trudeau flossen der von Geldsorgen geplagten Partei nicht nur reichlich Spenden zu, sondern auch neue Mitglieder und Wahlhelfer. Selbst Kritiker geben zu, dass Trudeaus entspannte, selbstbewusste Art bei den Leuten ankommt. Er ist ein Politiker zum Anfassen und strahlt Wärme aus. Mit seiner Frau Sophie Grégoire, einer Fernsehmoderatorin und Yogalehrerin, hat er drei kleine Kinder.

Justin Trudeau hat sich bislang wirtschaftlich und politisch als gemässigt gezeigt. Um seriöser auszusehen, zeigte er sich im Wahlkampf statt mit langen Locken in einem Kurzhaarschnitt. Er bemüht sich um Transparenz: Freiwillig outete er sich als Millionär.

Nun hat es der Hobbyboxer und Judokämpfer geschafft, seine Partei zu zähmen und sie zu einem beeindruckenden Wahlsieg zu führen. Trudeau wird im Innern Kanadas Reformen durchsetzen, vor allem bei den demokratischen Prozessen, und Kanadas Klimapolitik verändern. Aber er ist nicht nur Visionär, sondern Pragmatiker genug, um nicht über die Stränge schlagen. Für die Kanadier ist er vor allem ein Hoffnungsträger, der die Nation nach den polarisierenden Jahren unter Harper wieder einen wird. Und der Kanada die hausgemachte Version von Kennedy-Glanz gibt.

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