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15:59 Uhr - 08.09.2016

Wenn die Ruhe den Sturm sät

Sind sorglose Zeiten die Brutstätte für die nächste Krise? Diese These des Ökonomen Hyman P. Minsky hat man nun statistisch bestätigt.

Anleger liegen falsch. Sie verfallen in Panik, wenn die Kurse schwanken. Ob Brexit, die Wahlen zum US-Präsidenten oder besorgniserregende Konjunkturdaten – das sorgt für Nervosität an den Börsen. Doch Investoren sollten Angst bekommen, wenn es zu ruhig wird. Dann kann sich unter der Oberfläche etwas zusammenbrauen.

Vor Jahrzehnten brachte diese Idee der Ökonom Hyman P. Minsky, Pionier der Erforschung von Finanzkrisen, zu Papier. «Stabilität führt zu Instabilität», beschrieb er in den Siebzigerjahren das regelmässig wiederkehrende Muster.

Konträr zu den meisten anderen Ökonomen suchte der 1996 verstorbene Professor nicht nach einem Gleichgewicht in der Volkswirtschaft. Sondern er sah einen Zyklus am Werk: «Eine grundsätzliche Eigenschaft unserer Wirtschaft ist, dass das Finanzsystem zwischen Robustheit und Fragilität schwankt.» Während der Finanzkrise 2008 wurden seine Theorien wiederentdeckt.

Sorglosigkeit in guten Zeiten

Wie funktioniert dieser Zyklus? In guten Zeiten werden Unternehmen, Konsumenten und Banken sorglos. Der Optimismus verleitet sie dazu, ihre Vorsicht aufzugeben. Sie fangen an zu spekulieren, im Glauben, dass die bisher ruhigen Zeiten anhalten. Es werden mehr Kredite aufgenommen und riskantere Anlagen gehalten. Wenn die Stimmung dann kippt, kommt es zur Krise. Heute wird dieser Punkt als Minsky-Moment bezeichnet.

Nun hat ein Wissenschaftler an der London School of Economics (LSE) untersucht, ob er diese theoretische Beziehung statistisch nachweisen kann. «Mich haben Krisen schon immer fasziniert», erzählt Jon Danielsson, Leiter des Zentrums für systemisches Risiko bei der LSE, gegenüber FuW. «Ich komme aus Island, das viele Krisen durchlaufen musste.»

Er und seine Mitforscher haben die Stabilität anhand der Schwankungen an den Aktienmärkten – Volatilität – über die letzten 211 Jahre gemessen. «Wir haben untersucht, ob sich niedrige Volatilität tatsächlich in späteren Finanzkrisen niederschlägt», erklärt Danielsson. Das sei Wissenschaftlern zuvor nicht gelungen. Der Ökonom will dem Zusammenhang auf die Schliche gekommen sein: «Dabei kommt es nicht auf den absoluten Wert der Volatilität an, sondern darauf, ob die Schwankungen niedriger als erwartet ausfallen.»

Volatilität zeigt Krise an

Acht Jahre bis zum UnglückNiedrige Kursschwankungen an den Märkten machen eine spätere Krise wahrscheinlicher. Das ist das Resultat eines Arbeitspapiers des Ökonomen Jon Danielsson und zweier Mitautoren. Mit Daten über die vergangenen zwei Jahrhunderte kommt Danielsson zum Schluss, dass der Aufbau von Risiken etwa acht Jahre dauert. Zwei Jahre vor der Krise ist die hohe Volatilität – Schwankungsbreite – ein Warnsignal.

Doch nicht immer ist eine Krise vorprogrammiert. «Die Beziehung zwischen Volatilität und Krisen ist stärker, wenn die Finanzmärkte wichtiger und weniger reguliert sind», heisst es in der Studie. Das spiegelt Ideen von Hyman Minsky, der sich gegen eine ausufernde Deregulierung des Finanzsystems gewendet hat.

Verschiedene Perioden zeigen unterschiedlich hohe Schwankungen an den Märkten. So war die Zeit vor der Finanzkrise von relativ hoher Volatilität an den Märkten geprägt, auch wenn die Konjunktur sich robust zeigte. Danielsson stellt fest, dass die absolute Volatilitätszahl nicht relevant ist – denn an die gewöhnen sich die Marktteilnehmer. Wichtiger ist die Abweichung der Volatilität von ihrem Trend.

In den USA und anderen entwickelten Märkten sind die Schwankungen nun wieder deutlich tiefer als dieser Trend (vgl. Grafik unten). Das spricht dafür, dass Marktteilnehmer mehr Risiken eingehen.
Sein Befund: Acht Jahre nach einer Phase mit einer niedrigeren Volatilität als erwartet ist eine Krise am Kommen. Zwei Jahre vor der Krise beginnen die Märkte dann, nervös zu werden. «In der ersten Phase wird viel Risiko eingegangen, was den Grundstein für die spätere Krise legt», sagt Danielsson. «Zwei Jahre vor der Krise fangen die Banken an, Verluste auf diese Risiken zu schreiben. Damit kommt die Volatilität in den Markt.»

Doch könnten sich Zentralbanken oder Regulierer auf dieses Signal verlassen? «Es ist nicht perfekt – aber nützlich», schätzt Danielsson die Vorhersagekraft der Volatilität ein. «Regulierer sollten auf dieses Signal reagieren, indem sie genau anschauen, was für Risiken die Banken momentan eingehen.»

Wichtig ist laut dem LSE-Ökonomen, nicht zu lange zu zögern, bevor man dem Aufbau von Risiken Einhalt gebietet. «Entscheidungsträger müssen früh auf solch ein Signal reagieren, da es Zeit braucht, bis die Regulierung einen Einfluss hat.»

Ist das Finanzsystem durch die letzte Krise sicherer geworden? Minsky wäre pessimistisch: «Nach einer ersten Phase wird die Tendenz des kapitalistischen Finanzwesens, aus dem Gleichgewicht zu geraten, die Struktur des Finanzwesens zerbrechlich machen.» Er sah die Regulierung in einem Wettbewerb mit den Verfechtern von Finanzinnovationen.

Im Moment sind die Schwankungen an den Märkten tief wie seit langem nicht mehr. Dank der Unterstützung durch die Notenbanken haben sich die Anleger seit der Finanzkrise an ein stabiles Umfeld gewöhnt. Über Minsky wird viel weniger geredet als in der ersten Zeit nach der Finanzkrise. Braut sich schon die nächste Krise Mehr zum Thema» Der Finanzzyklus hat über die vergangenen Jahrzehnte an Heftigkeit gewonnen. Das macht das Absturzrisiko nach einem Minsky-Moment noch grösser.Erfahren Sie hier mehr. zusammen? Für Beobachter wie Danielsson ist die Sorglosigkeit zum Problem geworden.

Niemand weiss, wie sich die nächste Krise entfalten wird. Sonst wäre sie einfach zu verhindern.  Statt über die Banken könnte sie etwa über Akteure an den Finanzmärkten – Asset-Manager, Pensionskassen – kommen. Wenn dann die Märkte glauben, dass es nicht abwärtsgehen kann, die Schulden in manchen Bereichen der Volkswirtschaft stark wachsen und Rendite ohne Risiko versprochen wird, ist es zur nächsten Krise nicht mehr weit.

Minsky: Prophet der Finanzkrisen

Je länger die Dinge stabil sind, desto instabiler sind sie, wenn die Krise kommt. ZVGZu Lebzeiten war er nie Teil des ökonomischen Establishments. Umso erstaunlicher ist die Karriere der Ideen von Hyman Philip Minsky. So pilgern gar hochrangige Notenbankvertreter an die jährliche Minsky-Konferenz am Levy Economics Institute in New York. Dort forschte Minsky bis zu seinem Tod 1996, nachdem er 1990 von seinem Professorenposten an der Washington University in St. Louis emeritierte.

Es brauchte die grosse Finanzkrise von 2007 bis 2008, um die Ideen von Minsky einem breiten Publikum bekanntzumachen. Noch in den Neunzigerjahren priesen Ökonomen lieber die ruhige volkswirtschaftliche Lage mit einer stabilen Konjunktur und niedriger Inflation. Krisen verstand man im Mainstream bis dahin als etwas, das durch Schocks von ausserhalb des Systems kommt.

In diese Zeit der «Great Moderation» passten Minskys Ideen nicht. Denn er warnte vor Gefahren, die innerhalb des Systems in guten Zeiten wachsen und dort zur Krise führen. Für den Sohn weissrussischer Immigranten waren die Phasen eines stabilen Finanzsystems nur von kurzer Dauer. In diesen robusten Zeiten überwiegt die abgesicherte Finanzierung (Hedge). Dabei ist der Mittelzufluss der Unternehmen oder der Privaten ausreichend, um die Begleichung der Zinsen und die Rückzahlung von Krediten zu gewährleisten. Halten die guten Zeiten aber an, wird es gefährlich. «Erfolg führt zur Vernachlässigung der Möglichkeit des Scheiterns», erklärte Minsky.

In der zweiten Phase, der spekulativen Finanzierung, reicht der Mittelzufluss nur noch, um die Zinsen von Krediten zu bezahlen. Zur Rückzahlung der Schulden müssen neue Kredite aufgenommen werden. Dabei sorgt die heisslaufende Kreditmaschine für einen wirtschaftlichen Stimulus. Die Konjunktur läuft gut, jede Vorsicht wird in den Wind geschlagen.

Vor der Krise kommt zuletzt die Ponzi-Phase. Der Begriff geht auf den Betrüger Charles Ponzi zurück, der durch ein Schneeballsystem tausende Kunden betrogen hatte. Minsky versteht darunter, dass selbst die Zinszahlungen nur noch durch neue Schulden oder den Verkauf von Vermögenswerten bedient werden können.

Die folgende Finanzkrise ist schmerzhaft. Staat und Zentralbank müssen eine Abwärtsspirale vermeiden. Diese sorgt aber auch für Bereinigung. Spekulative Kredite werden abgebaut, alle werden vorsichtiger.

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