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09:51 Uhr - 03.11.2020

Alexis de Tocqueville: Der Analytiker Amerikas

Der französische Denker durchschaute die Mechanismen der Demokratie.

«In Amerika spielt sich die Revolution alle vier Jahre im Namen des Gesetzes ab» – so empfand, vor bald zwei Jahrhunderten, ein Reisender aus Europa das Wahlverfahren der damals einzigen demokratischen Republik: Alexis de Tocqueville, aus französischem Adel stammend, geboren 1805, nach der ­Revolution (während der seine Eltern zeitweise inhaftiert waren), zur Zeit ­Napoleons. Just als der junge Jurist seine Laufbahn starten wollte, kam der «Bürgerkönig» Louis-Philippe auf den Thron. Tocqueville und sein Berufskollege und guter Freund Gustave de Beaumont wichen aus, weil ihnen unter dem neuen Regime die Aufstiegsmöglichkeiten zunächst blockiert schienen.

So segelten sie nach Rhode Island und begaben sich von dort aus auf eine lange Tour durch die jungen USA, in Kutsche und Kanu, zu Schiff und zu Pferd. Tocqueville und Beaumont studierten zwar vorrangig das amerikanische Strafsystem, doch berühmt wurde Tocqueville danach mit seinem Klassiker «De la démocratie en Amérique».

In Washington traf Tocqueville Präsident Andrew Jackson, einen Ahnen im Geiste des heutigen Amtsinhabers. Der Karrieresoldat Jackson war nur mässig gebildet, sprach einfach bis vereinfachend, wenn nicht gar faktenfern; er verhöhnte im Namen des «Common Man» das Establishment des Nord­ostens. 1828 und vier Jahre später ­gewann Jackson die Wahlen vor allem im (damaligen) Westen und im Süden. Kurz: ein Populist avant la lettre.

Tocqueville erfasste den Politiker­typus Jackson scharfsinnig – «General Jackson ist der Sklave der Mehrheit: Er folgt ihr in ihrem Wollen, in ihren Wünschen, ihren halbverborgenen Trieben, oder vielmehr, er errät diese und stellt sich eilends an ihre Spitze.»

Gerade als Freund der Freiheit erkannte Tocqueville die Schwächen der Demokratie, wie er sie in Amerika vorfand. Für öffentliche Wahlämter, so schloss er aufgrund des Anschauungsunterrichts in Washington und in der Provinz, würden sich die Begabtesten gar nicht erst melden (in den USA strebten solche Persönlichkeiten vielmehr primär nach Reichtum); würden die grössten Talente sich dagegen um solche Positionen ­bemühen, so wäre ihre Wahl keinesfalls gesichert. Der Geistesaristokrat Tocqueville unterstellt dem demokratischen Wahlverfahren also eine ihm innewohnende Neigung zum Mittelmass – bestenfalls. Zeitlose Einsichten, gültig für alle Länder, die Amerika auf dem Weg zur Demokratie folgten.

Das zweite Grundübel, die Fortsetzung der schlechten Auslese, ist deren Zählebigkeit. Der amerikanische Präsident, schreibt Tocqueville, «regiert nicht mehr zum Wohl des Staates, sondern zum Vorteil seiner Wiederwahl». Das ist nicht nur in den USA wahr. Immerhin, selbst wenn sich nächste Woche die gesetzliche Revolution nicht abspielen sollte, wäre in weiteren vier Jahren eine Wiederwahl ausgeschlossen.

Die beiden Bände seines Jugendwerks über Amerika erschienen 1835, bzw. 1840, mit Erfolg. Tocqueville ging in die französische Politik und blieb ­Autor. Verheiratet war er mit einer Engländerin. Von seiner Mary schrieb Tocqueville, der 1859 an Tuberkulose starb, dieses: «Ich zankte oft mit ihr und hatte fast immer Unrecht.» Auch in Ehe­dingen ein fürwahr weiser Analytiker.

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