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15:36 Uhr - 27.11.2015

«Negativzins ist keine langfristige Massnahme»

Ernst Baltensperger, Professor und früherer Berater der Nationalbank, erwartet dank der Zinswende in den USA abnehmenden Druck auf den Franken.

Die Schweizerische Nationalbank (SNB (SNBN 1092 -1.62%)) gerät in Zugzwang, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) am kommenden Donnerstag ihre Geldpolitik lockert. Erwartet wird, dass die EZB ihr Anleihenkaufprogramm ausdehnt und die Geldmarktzinsen weiter in den negativen Bereich herabdrückt. Entlastung für beide Notenbanken bringe die Zinswende in den USA, deren Wirkung unterschätzt werde, sagt Professor Ernst Baltensperger. Der Doyen der Schweizer Geldpolitik relativiert zudem die bisherige Aufwertung des Frankens.Zur PersonErnst Baltensperger ist emeritierter Professor für Makroökonomie der Universität Bern und Berater des Studienzentrums Gerzensee der Schweizerischen Nationalbank (SNB), das er von 2007 bis 2009 leitete. Er studierte Ökonomie an der Universität Zürich und doktorierte 1969 an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Von 1968 bis 1979 war er Professor an der Universität Ohio, dann folgten Heidelberg, St. Gallen und ab 1984 Bern. Zu Forschungsaufenthalten etwa in Los Angeles und Berlin sowie im Research der SNB kam der Einsitz in den Redaktionsleitungen mehrerer internationaler Fachzeitschriften. Baltensperger war Berater der Nationalbank und Doktorvater von SNB-Präsident Thomas Jordan. Er war Mitglied der Expertenkommission «Too big to fail» des Bundes und ist Autor des im Auftrag der SNB verfassten Buchs «Der Schweizer Franken – eine Erfolgsgeschichte» über zweihundert Jahre Währungsgeschichte.

Herr Baltensperger, wird der Franken noch stärker, wenn die EZB ihre Geldpolitik Anfang Dezember lockert?
Dies könnte einen gewissen Aufwertungsdruck ausüben. Unklar ist, wie stark der Effekt ausfällt, weil eine geldpolitische Lockerung der EZB vom Markt erwartet wird. Zudem ist für Euroanleger der Zinsertrag in Dollar attraktiver als in Franken. Als Alternative zum Euro ist also der Dollar interessanter, und er könnte stärker reagieren als der Franken.

Wie reagiert die SNB?
Sie wird womöglich den Negativzins weiter herabsetzen und falls nötig am Devisenmarkt intervenieren. Die SNB hat ein Interesse daran, die Zinsdifferenz zum Euro einigermassen zu erhalten.

Die Zinsdifferenz könnte zunehmen: Die SNB hat den Leitzins noch nie weniger als einen Viertelprozentpunkt bewegt, die EZB könnte den Einlagenzins bloss von –0,2 auf –0,3% senken.
Das ist durchaus möglich. Nicht unbedingt weil die SNB den Abstand vergrössern will, aber weil sie möglicherweise verhindern will, dass er kleiner wird.

Am 15. Januar hatte die Nationalbank bereits eine Woche vor dem EZB-Entscheid den Mindestkurs aufgehoben. Könnte sie auch diesmal vorpreschen?
Ich erwarte nicht, dass die SNB präventiv etwas unternimmt. Vor dem 15. Januar war die Situation viel dramatischer. Nun ist der Wechselkurs zwar von 1.10 auf 1.08 Fr./€ gesunken, aber das ist nicht viel – besonders in Anbetracht der recht nervösen Weltlage. Ich gehe davon aus, dass die SNB den Entscheid der EZB und die Marktreaktion abwartet.

Wie weit lässt sich der Negativzins senken, bis auf Bargeld ausgewichen wird?
Dies genau abzuschätzen, ist schwierig. Eine Begrenzung sind die Aufbewahrungs- und Versicherungskosten von Bargeld. Seine Verwendung könnte aber eingeschränkt oder mit einer Gebühr belastet werden. Ohne solche zusätzlichen Massnahmen könnte ein Leitzins von –1% möglich sein, sehr viel weiter kann man wohl nicht gehen.

Falls die SNB das Bargeld belastet, würde wohl noch am selben Tag eine Volksinitiative dagegen lanciert.
Bargeld zu belasten oder gar zu verbieten, wäre in der Tat ein extrem starker und politisch sehr sensibler Eingriff. Ich hoffe und glaube aber, dass die SNB das Bargeld unangetastet lässt.

Die meisten Bankkunden sind bislang verschont vom Negativzins. Wird er künftig überwälzt?
Ich sehe die Negativzinsen nicht als langfristige Massnahme. Die SNB wird bestrebt sein, davon so bald wie möglich wegzukommen. Entscheidend ist die Zinswende in den USA, die absehbar ist und hoffentlich im Dezember kommt. Das Fed hätte sie schon früher durchführen sollen. Die USA haben zwar nicht alle ihre ökonomischen Probleme gelöst, aber ihre Wirtschaft ist wieder robust und weit weg von einem Krisenzustand. Die Geldpolitik sollte deshalb den Krisenmodus beenden. International wird die US-Zinswende eine viel grössere Wirkung haben, als viele heute erwarten.

Würde die US-Zinswende den Druck auf den Franken lindern?
Ja, damit würde das Fed Druck wegnehmen, sowohl von der EZB wie auch von der SNB. Die USA haben der Welt während fast sieben Jahren ihre Nullzinspolitik aufoktroyiert. Die EZB machte nicht von Beginn weg mit. Auf Dauer wurden aber alle zum Nachziehen gezwungen, wollten sie eine übermässige Aufwertung ihrer Währung vermeiden. Das Fed ist nach wie vor die bedeutendste Zentralbank der Welt. Seine Wende wird sich global auf das Zinsgefüge auswirken.

Es sieht aber nicht so aus, als ob die EZB ihre Geldpolitik bald straffen wollte, der Abwertungswettlauf geht weiter.
Europa und auch Japan bleiben vorläufig expansiv, ein Abwertungswettlauf ist nicht unmittelbar vom Tisch. Aber die beiden Länder werden entlastet, wenn sich mit höheren US-Zinsen der Dollar aufwertet. Ein schwächerer Euro lockert die monetären Bedingungen in der Eurozone. Das macht expansive Massnahmen der EZB weniger notwendig. Ausserdem ist eine allzu schwache Währung nicht die Lösung aller Probleme, sie bringt auch Nachteile mit sich. Auch Europa muss sich international refinanzieren.

Trotz US-Zinswende müsste die SNB den Negativzins beibehalten, falls der Franken als Anlagewährung weiterhin viel gefragter bleibt als vor der Finanzkrise.
Das trifft zu, aber ich glaube, dass sich die Situation entspannen wird, wenn die USA ihre Zinswende vornehmen. Wichtig ist dann, dass das Fed glaubwürdig auf seinem neuen Kurs bleibt und nicht schon bald zurückkrebst. Die US-Zinswende könnte das Signal dafür sein, dass auch die Schweiz nach einiger Zeit vom Negativzins wegkommt.

Wie lange könnte die Schweiz die unerwünschten Nebenwirkungen der Negativzinsen ertragen?
Die negativen Auswirkungen sind bedeutend, deshalb soll und wird die SNB dieses Instrument nicht unnötig lange einsetzen. Die Negativzinsen verzerren Marktsignale und Marktentscheide. Sie sind ein Anreiz, sich übermässig zu verschulden. Und sie schaffen Probleme für Banken, Versicherungen und vor allem für die Pensionskassen.

Mit der zweiten Massnahme der SNB, der Intervention am Devisenmarkt, wächst ihre Bilanz. Gibt es eine Schmerzgrenze?
Seit Mitte Januar hat die Nationalbank in gewissen Phasen interveniert, allerdings weit weniger, als wenn sie den Mindestkurs aufrechterhalten hätte. Sie wird weiterhin intervenieren, wenn es aus ihrer Sicht notwendig ist. Eine fixe Grenze lässt sich nicht identifizieren. Die SNB will aber keinen Automatismus mehr, wie er mit dem Mindestkurs gegeben war.

Für geldpolitische Entscheide stützt sich die SNB traditionell auf ihre Inflationsprognose. Gilt das auch jetzt?
Für ihre unmittelbaren Aktionen orientiert sie sich an mehreren Grössen: der Inflationsprognose, den Wechselkursen, der Zinsdifferenz zu Europa und den Konjunkturaussichten für die Schweiz. Zentral ist für sie die langfristige Verankerung der Geldwertstabilität, es gilt, Deflations- und Inflationsspiralen zu verhindern. Momentan droht diese Gefahr in beiden Richtungen nicht. Somit hat die Nationalbank einen gewissen Spielraum, auch auf Konjunktur und Wechselkurs zu achten. Abweichungen der Inflationsrate in den negativen Bereich spielen keine Rolle, solange sie vorübergehender Natur sind.

Die EZB dagegen spricht unentwegt von den Inflationserwartungen, die gegen 2% steigen müssten.
Die EZB hatte ursprünglich ein ähnliches Konzept wie die SNB: eine langfristig verstandene Orientierung an einer Zielzone  von 0 bis 2% für die Inflation. Dann aber ging die EZB immer mehr zu einem Punktziel von möglichst genau 2% Inflation über – in meiner Beurteilung eine Fehlentwicklung. Die EZB wäre wohlberaten, davon wegzukommen. Derzeit beträgt die Kerninflation ohne Energiepreise im Euroraum etwa 1%. Das ist geldpolitisch eigentlich ideal und unproblematisch. Ich verstehe nicht, weshalb die EZB hier ein Problem sieht.

Sie raten also der EZB davon ab, ihre Geldpolitik weiter zu lockern?
Meines Erachtens wäre dies verfehlt – erst recht, wenn die Zinswende in den USA kommt. Eine weitere Lockerung dürfte zudem in der Realwirtschaft kaum viel bewirken.

Die Schweizer Wirtschaft hat den Frankenschock bisher erstaunlich gut verkraftet. Kommt das Schlimmste noch?
Ich schätze die Lage als schwierig ein, aber nicht dramatisch. In der Tat hat sich die Schweizer Wirtschaft als robuster erwiesen, als die meisten erwartet hatten, auch wenn gewisse Folgen wohl erst noch kommen. Man darf aber nicht dramatisieren.

Weshalb sind Sie zuversichtlich?
Der Wechselkurs stand seit September 2011 auf 1.20 Fr./€. Damit kam die Schweizer Wirtschaft während drei Jahren offensichtlich ziemlich gut zurecht. Jetzt notiert der Kurs 1.08 Fr./€, das ist eine nominelle Abwertung des Euros von etwa 10%. Doch seit 2011 beträgt die Inflationsdifferenz zwischen der Schweiz und Euroland kumuliert gut 5%. Die reale Abwertung des Euros in diesem Zeitraum beträgt somit knapp 5%. Das ist nicht dramatisch. Zudem hat sich umgekehrt der Dollar zum Franken in den letzten vier Jahren deutlich aufgewertet – real noch mehr als nominell, denn die Inflationsdifferenz ist hier noch grösser.

Wird die Arbeitslosigkeit zunehmen?
Sie reagiert stets mit Verzögerung und wird wohl steigen, aber nicht allzu sehr.

Dennoch bremst der starke Franken die Wirtschaft. Sollte die SNB nicht zum Ausgleich die Geldpolitik weiter lockern?
Wechselkurssituation und Wirtschaftslage sind tatsächlich nach wie vor schwierig. Das ist aber kein Grund, die Geldpolitik immer noch expansiver zu gestalten. Sie ist schon jetzt sehr expansiv.

Langfristig hat sich der Franken aufgewertet und einen Strukturwandel verursacht, von der Maschinenindustrie zur Pharmabranche. Beschleunigt sich der Wandel?
Er muss sich nicht beschleunigen, aber er geht weiter. Der Strukturwandel war bisher insgesamt zum Vorteil der Schweiz. Der Franken hat sich seit dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen Anfang der Siebzigerjahre sukzessive aufgewertet, gegenüber allen Währungen. Ein Grund war die niedrigere Inflation in der Schweiz. Aber es gab auch eine reale Aufwertung, sie betrug zum Euro seit Ende der Siebzigerjahre durchschnittlich 0,5% pro Jahr.

Haben wir in zehn Jahren keine Maschinenindustrie mehr?
Der reale Aufwertungstrend war bisher kein Problem für die Schweiz. Sie hat sogar davon profitiert, denn die Exportwirtschaft war gezwungen, sich immer wieder zu erneuern. Gerade deshalb haben wir heute einen sehr produktiven und wettbewerbsfähigen Exportsektor. Die Sorge um den Werkplatz ist seit den Siebzigerjahren immer wieder aufgekommen. Doch Länder wie die Schweiz und Deutschland, die eine Politik der starken und stabilen Währung betrieben, konnten ihre Industriebasis weit besser erhalten als andere Staaten, etwa Grossbritannien, die ab den Siebzigerjahren eine Politik der Weichwährung und der Abwertung betrieben.

Dennoch ist eine rasante Aufwertung für die Exporteure schwierig zu verkraften.
Starke Übertreibungen können in der Tat ein Problem schaffen, wie 2011 oder 1978 – schon damals wurde ja ein Mindestkurs eingeführt. Historisch gab es immer wieder Phasen der Über- und der Untertreibung. In den Jahren vor der Finanzkrise war der Franken gemessen am realen Aufwertungstrend markant unterbewertet. Dies darf man bei Vergleichen mit heute nicht vergessen.

Die SNB erwartet, dass sich der Franken über die Zeit abschwächen wird. Er könnte aber stark bleiben, falls die Eurozone ihre strukturellen Probleme nicht löst.
Ich erwarte, dass die Eurozone trotz aller Probleme auf absehbare Zeit einigermassen funktionsfähig bleibt. Unter dieser Voraussetzung wird sich der Franken vielleicht nicht nominell abwerten, weil es Inflationsdifferenzen gibt. Aber real sollte er zu einem Normalniveau zurückkehren.

Die SNB stützt sich auf die zwei Säulen Negativzins und Interventionen. Reicht das, oder braucht es bei heftigen Überbewertungen eine dritte Säule?
Derzeit müssen diese zwei Säulen genügen. Einen neuen Mindestkurs sehe ich vorderhand nicht. Es wäre schwierig, seine Glaubwürdigkeit zu etablieren, und ich sehe derzeit auch keinen Bedarf. Skeptisch bin ich auch gegenüber einem Crawling Peg, also einer kontrollierten, langsamen Wechselkursanpassung.

Für Singapur hat sich ein Crawling Peg als nützlich erwiesen.
Ein solcher angekündigter Pfad wäre im Fall der Schweiz schwierig durchzuhalten. Sie hat ihre Geldpolitik immer stark auf die Preisstabilität ausgerichtet. Die Märkte könnten bezweifeln, dass der Pfad mit Preisstabilität vereinbar ist. Die Glaubwürdigkeit wäre auch hier ein Problem.

Eine Währungsanbindung ist vom Tisch?
Natürlich kann man Krisenszenarien nie völlig ausschliessen, in denen ein neuer Mindestkurs oder gar noch extremere Mittel wie Kapitalverkehrskontrollen notwendig werden könnten.

Hilft der Negativzins in einer Krise?
In einer akuten Krisensituation hätte er keinen grossen Einfluss. Dann werden die Kapitalbewegungen nicht mehr primär durch die internationalen Zinsdifferenzen gesteuert, sondern über Ängste, Erwartungen und Phobien. Insofern darf man die Wirkung der Negativzinsen nicht überschätzen.

Die SNB hat sich zum kommenden EZB-Entscheid nicht geäussert, wogegen die EZB und das Fed ihre Massnahmen ankündigen. Warum schweigt die SNB?
Die Zurückhaltung der SNB ist richtig. Mit Ankündigungen, heute spricht man von Forward Guidance, wollen die Notenbanken die Markterwartungen beeinflussen und dadurch die Märkte steuern. Die Grundidee ist gut. Damit sollten aber nur die grundsätzlichen Ziele und Überzeugungen der Zentralbank an die Öffentlichkeit getragen werden. Das war früher ein erfolgreiches Element der Geldmengenpolitik der SNB und der deutschen Bundesbank – lange bevor das Fed mit Ankündigungen begann.

Weshalb soll die SNB nun schweigen?
Heute wollen die Zentralbanken fast schon eine Feinsteuerung der Erwartungen und der Märkte bewirken. Da bin ich skeptisch. Eine solche Kommunikation ist häufig misslungen und hat mehr Verwirrung als Klarheit gebracht. Angekündigte Massnahmen wurden nicht getroffen, das schadet der Glaubwürdigkeit. Nichtsdestotrotz ist es gut, dass das Fed die Märkte auf die kommende Zinserhöhung vorbereitet hat – falls der Leitzins dann auch wirklich hinaufgesetzt wird.

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