Zurück zur Übersicht
07:00 Uhr - 09.11.2015

Zurück in die Neunziger

Die Märkte sind in einer einzigartigen Situation. Doch einiges ist ähnlich wie vor zwanzig Jahren.

Ein Rückblick auf die Neunzigerjahre könnte die US-Notenbank Fed nostalgisch stimmen. Es herrschte niedrige Inflation, dazu hohes Wirtschaftswachstum und viel Optimismus. Es gab keine geldpolitischen Experimente mit Anleihenkäufen, die Zinsen waren komfortabel über null. Trotzdem: «Wenn ich zwanzig Jahre zurückschaue, erinnert mich einiges an die heutige Situation», sagt Chen Zhao im Gespräch mit FuW.

Zhao ist Co-Director des Global Macro Research von Brandywine, einer Tochtergesellschaft des Fondshauses Legg Mason. Zuvor war er Chefstratege von BCA, einem renommierten Researchhaus.  Heutige Entwicklungen von Zinsen und Marktindikatoren zeigen grosse Ähnlichkeit mit der damaligen Zeit. Zhaos These: An den Märkten könnten sich Anleger wie in den Neunzigerjahren gehörig irren.

Ganz vorne dabei in diesem Vergleich sind die Renditen der Anleihenmärkte. Sie scheinen nicht vom Fleck zu kommen – wie auch nach Mitte der Neunzigerjahre alle Erwartungen steigender Renditen für Obligationen enttäuscht wurden (vgl. Kasten «Marktzinsen»).

Das Fed steht allein da

Damals wie heute war das Fed allein mit seinem Plan, die Zinsen zu erhöhen. «Auch da gab es eine Divergenz in der Geldpolitik der Notenbanken», sagt Zhao. «Das Fed hat 1994 die Zinsen erhöht, während die Bank of Japan und die Deutsche Bundesbank sie herabsetzten.» Heute habe das Fed zwar noch nicht die Zinsen erhöht, aber sein Programm für Anleihenkäufe (Quantitative Easing, QE) gestoppt.

Die US-Notenbank lenkt heute wieder auf einen entgegengesetzten Kurs zu Europäischer Zentralbank und Bank of Japan – dort steht wohl bald eine Ausweitung der Anleihenkäufe an. Diese Divergenz zwischen den grossen Volkswirtschaften ist für Zhao entscheidend: Eine restriktivere US-Geldpolitik stärkt den Dollar (vgl. Kasten «Dollar»). Das dämpft die amerikanischen Exporte, was die Konjunktur belastet. Gleichzeitig sind die Rohstoffpreise – ebenfalls wie in den Neunzigerjahren – unter Druck (vgl. Kasten «Rohstoffe»).

Diese Belastung der Konjunktur könnte dazu führen, dass die Zinsen auch in den USA noch länger tief bleiben. Chen Zhao ist nicht überzeugt, dass die Wirtschaftskraft tatsächlich so stark ist, wie es die US-Notenbank immer wieder erklärt.

Zhao argumentiert, nominal – also vor Abzug der Inflationsrate – sei das «Wachstum weltweit sehr gering». Die US-Wirtschaft wächst derzeit nominal um 3,5%. «Historisch wäre das ein Anzeichen von Rezession.» Das nominale Wachstum sei wichtig, weil auch «die Unternehmensgewinne und die Löhne nominal sind». Löhne und Profite sind bei niedrigem Nominalwachstum unter Druck – inflationsbereinigte Zahlen sind zweitrangig.

«Wenn das Fed die Zinsen erhöhen würde, könnte das als schwerwiegender geldpolitischer Fehler in die Geschichte eingehen», warnt der Ökonom. Er geht noch weiter: «Da höhere Zinsen die Wirtschaft belasten würde, wäre die Folge ein neues Quantitative Easing, ein QE4.»

Zhao plädiert statt für mehr Geldpolitik für mehr Investitionen durch den Staat, um die Konjunkturschwäche auszugleichen. Der Harvard-Ökonom «Larry Summers liegt richtig, wenn er einen fiskalischen Stimulus wegen der anhaltenden Nachfrageschwäche fordert».

Für die Aktienmärkte sieht Zhao zwei sich widersprechende Trends. «Für Aktien wäre das geringe nominale Wachstum eigentlich schlecht.» Aber: «Wenn der Markt realisiert, dass die Zinsen weiterhin extrem niedrig bleiben, gibt es keine obere Grenze für die Kurse.» Das ist folgendermassen zu begründen: Finanztheoretisch werden zukünftige Gewinne durch den Zins abdiskontiert, um zum fairen Wert einer Aktie zu kommen. Wenn sich die Marktteilnehmer daher immer sicherer werden, dass die Zinsen für lange so niedrig wie jetzt bleiben, wird der faire Wert der Aktien steigen. Selbst wenn die Gewinne stagnieren oder gar fallen.

Gefährliche Bewertungen

Doch steigende Kurse bei fallenden Unternehmensgewinnen sind gefährlich. «Die Bewertungen könnten absurd hoch werden», meint der in Peking ausgebildete Ökonom. «Es wäre zwar ein Kartenhaus – doch die Kurse könnten mehrere Jahre nach oben gehen.»

zoomAuch dazu bieten die Neunzigerjahre für Zhao eine Orientierungshilfe: «Damals stiegen die Kurse weiter, obwohl die Unternehmensgewinne 1997 ihren Höhepunkt erreicht hatten.» Durch die ab 1995 relativ niedrigen, konstant gehaltenen Zinsen sei die Aktienblase aufgebläht worden. Das könnte sich heute wiederholen. «In den vergangenen Monaten sind die Unternehmensgewinne deutlich gefallen. Das könnte aber wie damals den Aktienkursen nicht schaden.»

Ein starker Dollar und dauerhaft niedrige Zinsen – wenn Zhao recht hat, wird dies in einem euphorischen Aktienmarkt münden. Eine neue Blase und ihr Zusammenbruch hätten noch tiefere Zinsen zur Folge. Die erhoffte Normalisierung der Finanzmärkte und der Geldpolitik ist dann noch weiter entfernt, als viele hoffen.

 

Die Marktzinsen wollen nicht steigenWie in den Neunzigerjahren verdient man heute mit US-Staatsanleihen gut. Auch wenn der Coupon tief ist. Denn die Renditen steigen nicht, folglich fallen die Anleihenpreise nicht. Dabei hatten das viele vermutet – ab Mitte der Neunzigerjahre ebenso wie heute.

Die obige Grafik zeigt einen Index, der die Gesamtperformance – Preisgewinn und laufende Rendite – von zehnjährigen US-Staatsanleihen spiegelt. Zwar gab es 1994 Kursverluste an den Anleihenmärkten durch schnell steigende US-Leitzinsen – pathetisch wurde dies «Blutbad» genannt. Doch das war nur ein kleiner Rücksetzer in der Erfolgsstory der Anleihen. Wer immer wieder in die langlaufenden Bonds reinvestiert hat, der konnte seit Anfang 2010 seinen Einsatz um 40% erhöhen.

Langfristig steigende Renditen am Anleihenmarkt wären ein Zeichen dafür, dass sich die Wirtschaftslage normalisiert. Denn das würde darauf hindeuten, dass die Finanzmärkte höhere Leitzinsen erwarten. Der Markt wäre dann optimistisch: Nur wenn die Konjunktur auf einem stabilen Kurs wäre, würde das Fed längerfristig die Zinsen erhöhen.

Chen Zhao denkt, dass keine grossen Verluste bei Bonds drohen, er glaubt also nicht an das Normalisierungsszenario. «Ich gehe davon aus, dass sich an den Anleihemärkten das Muster von vor zwanzig Jahren wiederholt.» Entgegen den Erwartungen am Markt seien die Marktzinsen nicht gestiegen: «Die zehnjährige Rendite ist von 1995 bis 1998 um 300 Basispunkte gesunken.» Ein Basispunkt ist ein Hundertstel Prozentpunkt. «Auch jetzt meinen alle, dass die Bondrendite steigen muss. Daran zweifle ich.»

Die letzten Anläufe der US-Renditen nach oben sind gescheitert – trotz aller Rhetorik der US-Notenbank, die Zinsen zu erhöhen. «2009 lag die zehnjährige Rendite bei 1,4%. Bis Anfang 2014 ist sie auf 3% gestiegen – und jetzt liegt sie wieder um die 2%», beschreibt Zhao die Renditeentwicklung. «Das ist ein Déjà-vu zu den Neunzigerjahren.» Hat Zhao recht, wird der Finanzmarkt nur kurzfristig höhere Zinsen erwarten. Und schnell wieder kapitulieren.
zoom
Der Dollar wertet sich schnell aufDas Fed hält die Zinsen niedrig, doch die anderen Notenbanken sind noch expansiver. Das liess den Dollar in den letzten Monaten schnell und schockartig aufwerten. Eine solche Situation brachte auch schon in den Neunzigerjahren die Finanzmärkte durcheinander. Der Dollar schnellte damals wie heute zu den Währungen der Handelspartner nach oben (vgl. Grafik oben). Das verteuerte die Exporte der USA ins Ausland.

«Die Zinsdifferenz hat in den Neunzigerjahren den Dollar um über 50% aufwerten lassen», beschreibt Chen Zhao die damalige Entwicklung. «Zuletzt hat der Ausblick auf höhere US-Zinsen den Dollar aufgewertet» – seit Januar 2014 handelsgewichtet über 25%.

Die lockere Geldpolitik ausserhalb den USA sieht Zhao kritisch: «Die Anleihenkaufprogramme, Quantitative Easing, in Japan und der Eurozone schwächen hauptsächlich die jeweiligen Währungen. Damit generieren sie kein neues Wachstum.» Das Wachstum werde nur neu verteilt – durch die Promotion eigener Exporte. In den Wettlauf um die lockerste Geldpolitik müsse die US-Notenbank bald einsteigen: «Sie kann dem starken Dollar nicht untätig zusehen.»

Eine Leitzinserhöhung durch das Fed in diesem Umfeld wäre für Zhao nur durch falsch verstandene Prinzipien zu erklären: «In einer Situation mit einem tiefen nominalen Wachstum von 2,5 oder 3% scheint es eine Prinzipienfrage für Leute im Fed zu sein, die Zinsen zu erhöhen – obwohl sie genau wissen, dass es falsch ist.» Dabei sei die Unterbeschäftigung in den USA weiterhin hoch – das zeige der U6-Index, der etwa Menschen umfasst, die keine Vollzeitstelle finden. Der Index notiert eine Unterbeschäftigung von 10%.
zoom
Die Rohstoffpreise sind unter DruckDie Zentralbanken stehen auch deswegen unter wenig Zugzwang, die Zinsen zu erhöhen, weil die Inflation auf sich warten lässt. Die Teuerung ist unter anderem tief, weil die Rohstoffe immer billiger werden. Der CRB Raw Industrials Index misst die Entwicklung der Preise von Kupfer, Stahl und anderen Rohwaren für die Industrieproduktion. Wie in den Neunzigerjahren sinkt der Preis für diese Rohstoffe dramatisch. «Wie in den Neunzigerjahren leiden die Schwellenländer und die Rohstoffmärkte unter dem Aufwertungsdruck des Dollars», sagt Chen Zhao.

Ein Grund dafür: Die Rohwaren werden in Dollar gehandelt – ein stärkere US-Valuta drückt die Rohstoffnotierungen. Die Preise belasten rohstoffexportierende Schwellenländer wie Russland und Brasilien. Doch der stärkere Dollar und die Aussicht auf höhere Marktzinsen in den USA haben Kapital aus den Schwellenländern abfliessen lassen.

Die Neunzigerjahre waren durch Schwellenländerkrisen geprägt: Der Zahlungsausfall Russlands, die Pesokrise und die Asienkrise sind durch internationale Kapitalflüsse ausgelöst worden. Gelder, die kurzfristig im Überschwang in Thailand oder Mexiko investiert wurden, sind damals schnell abgezogen worden, was dort zu tiefen Wirtschaftskrisen geführt hat.

So schlimm muss es heute nicht kommen. Kapital in den Schwellenländern ist heute längerfristig investiert. Und die flexiblen Wechselkurse der Schwellenmärkte sorgen dafür, dass Abwertungen nicht mehr schockartig kommen. Der Druck des starken Dollars hat trotzdem viele Schwellenländer in enorme Bedrängnis gebracht, und das Leiden geht weiter.
zoom

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.

Seite empfehlen



Kopieren Sie den Link [ctrl + c] und fügen Sie ihn in ein E-Mail ein [ctrl + v]. Aus Sicherheitsgründen ist kein Versand von E-Mails direkt vom VZ Finanzportal möglich.