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14:48 Uhr - 19.02.2016

«Effiziente Märkte für Lebensmittel»

Sumiter S. Broca, Agrarökonom der FAO, zu den volatilen Lebensmittelpreisen, der Spekulation auf dem Agrarrohstoffmarkt und der Nahrungsmittelsicherheit.

Der Agrarökonom Sumiter S. Broca kennt die desaströsen Folgen eines aus dem Gleichgewicht geraten Lebensmittelmarktes aus eigener Erfahrung. Der gebürtige Inder erlebte Anfang 1974 die letzte grosse «Teufelszeug» SpekulationDie am 28. Februar zur Abstimmung gelangende Initiative der Juso gegen die Nahrungsmittelspekulation kann auch als Etappe im Kampf gegen das kapitalistische System gesehen werden. Lesen Sie hier den Kommentar von FuW-Redaktor Peter Morf.Hungersnot, die seine Heimat heimsuchte. «Ich sah als Schüler mit eigenen Augen, wie ausgehungerte Menschen in den Strassen Kalkuttas starben», sagt der agrarpolitische Berater der Welternährungsorganisation FAO der Vereinten Nationen im Interview mit «Finanz und Wirtschaft». Ausgelöst wurde die Krise nicht durch Spekulationen an den Agrarrohstoffmärkten, sondern durch eine wetterbedingt schlechte Ernte in Russland und den darauf folgenden geheimen Aufkauf von Weizen (Weizen 104.6 -0.43%) durch die Sowjetunion.

Als deshalb die Weizenpreise deutlich zu steigen begannen, erliess die amerikanische Regierung ein Exportverbot. Die darauf folgenden weltweiten Panikkäufe trieben die Preise trotz der weltweit ausreichenden Lagerbestände in stratosphärische Höhen. Dabei war – wie bei anderen Lebensmittelkrisen zuvor und danach – nicht in erster Linie der Mangel an Nahrungsmitteln Grund der Katastrophe, sondern ein Mangel an Transparenz und die Marktabschottung. Immerhin blieben die Preise nur kurze Zeit rekordhoch.

Wo liegt der richtige Preis?

zoomDie Lebensmittelpreise sind seit Anfang der Sechzigerjahre inflationsbereinigt sogar deutlich gefallen, bei gleichzeitig weltweit stark gestiegenen Einkommen. Es stellt sich damit die Frage, ob so etwas wie ein «richtiger Preis» für Agrargüter überhaupt existiert. Das sei schwer zu beantworten, meint Broca: «Bauern sagen auf alle Fälle immer, die Preise seien zu tief. Für Haushalte, die bis zu 80% ihrer Einkommen für Lebensmittel ausgeben, sind Lebensmittel klar zu teuer.»

Das führt zur Frage, wie effizient die zunehmend in das globale Finanzsystem integrierten Agrarrohstoffmärkte sind. Für Broca spielen gerade die Warenterminmärkte eine wichtige Rolle im Preisfindungsprozess. Dort werden Terminkontrakte (Futures) auf Landwirtschaftsprodukte gehandelt. «Käufer und Verkäufer einigen sich im Voraus auf einen Preis, was zur Glättung von Volatilität beiträgt, etwa wenn eine Ernte wider Erwarten schlecht oder gut ausfällt.»

Dennoch sind die Agrarterminmärkte vor allem nach der Lebensmittelkrise von 2008/09 ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Das in erster Linie, weil Hedge Funds und andere Finanzinvestoren ab 2005 – zur Abrundung des Gesamtportfolios und damit verbunden zur Risikoverminderung – vermehrt auch Wetten auf Entwicklung von Agrargüterpreisen abgeschlossen haben. Gerade diese reinen Finanzakteure werden von verschiedenen Seiten für die temporär massiven Preisausschläge verantwortlich gemacht, die vor sieben Jahren in ärmeren Ländern erhebliche soziale und politische Turbulenzen auslösten.

Broca steht diesen Finanzprodukten, die sich auf Landwirtschaftsgüter beziehen, weniger kritisch gegenüber als andere Ökonomen. «Ich sehe keinen direkten Zusammenhang zwischen den Terminmärkten oder auch Nahrungsmittelfonds und wilden Preisschwankungen auf dem Agrarrohstoffmarkt.»

Er verweist dabei auf Reis: In Asien, wo 90% dieser Getreidesorte angebaut und auch konsumiert werden, gibt es dafür gar keinen Terminmarkt. Doch der Preis von Reis schoss vor sieben Jahren deutlich mehr in die Höhe als der von Mais (Mais 362.008 0.28%) und Weizen. Das sei ein klarer Hinweis darauf, dass damals nicht in erster Linie Verwerfungen an den Finanzmärkten die Lebensmittelkrise ausgelöst hätten, meint Broca und stellt die Frage: «Und wo sind die hässlichen Spekulanten heute, da die Agrarpreise ihren langfristigen Abwärtstrend wieder aufgenommen haben?»

Kein Terminhandel für Reis

Der Anbau wie auch der Handel mit den meisten Grundnahrungsmitteln werden in der Mehrheit der asiatischen Staaten vom Staat streng kontrolliert. Die Frage drängt sich damit auf, wie es 2008/09 zur Verdreifachung des Reispreises hat kommen können. Entscheidend war die Ankündigung der philippinischen Regierung, sie werde trotz den relativ hohen eigenen Lagerbeständen auf dem internationalen Markt in grossem Umfang Reis aufkaufen. Für gewöhnlich werden solch bedeutende Transaktionen diskret gehandhabt und jeweils über viele kleinere Käufe abgewickelt. Infolge des rasanten Preisanstiegs verhängte unter anderem Indien einen Exportstopp, was die Preisspirale erst recht nach oben trieb. Es bleibt bis heute unklar, ob die Ankündigung der Philippinen aus Versehen gemacht wurde oder ob sich Insider damit bewusst bereichert haben. Broca will sich mit der Antwort auf diese Frage nicht auf die Äste hinauswagen, doch verweist er auf das Sprichwort: «Wo Rauch ist, ist oft auch Feuer.»

Und er geht quasi einen Schritt zurück und erklärt die grosse Volatilität der Rohstoffpreise mit dem extrem unelastischen Spiel von Angebot und Nachfrage bei den meisten Lebensmitteln. Grund dafür sind Wettereinflüsse, aber auch die lange Zeit, die zwischen Investitionen in Landwirtschaftsprojekte und der Ankunft der Produkte beim Endabnehmer vergeht. «Gegen die extrem zyklischen Schwankungen gibt es nur zwei eng miteinander verbundene Mittel: effiziente Terminmärkte und ausreichende Lagerbestände.»

Als Folge der Hungersnot von 1974 begannen die alarmierten Staaten, dem globalen Lebensmittelmarkt grössere Beachtung zu schenken, und es wurde der erste Weltagrargipfel einberufen. Nicht nur wurde danach die weltweite Kooperation in Agrarfragen intensiviert, sondern auch die Investitionen im Landwirtschaftssektor wurden massiv ausgebaut. Broca stellt fest: «Damit besteht heute eine weit grössere Lebensmittelsicherheit als vor fünf Jahrzehnten.»

China verbraucht viel Fleisch

Die Weltbevölkerung wächst und damit auch der globale Kalorienkonsum. Kann die steigende Nachfrage auch künftig gedeckt werden, oder führt sie letztlich doch zu einer Versorgungskrise? Für Broca ist das vor allem eine Frage der Diät. Im weiterhin relativ armen China werden pro Kopf der Bevölkerung vor allem wegen des hohen Konsums von Schweinefleisch bereits heute deutlich mehr Kalorien verzehrt als im reichen Japan. «Das Problem besteht darin, dass Weizen oder Mais als Futtermittel für Schlachtvieh verwendet werden. Das ist eine extrem ineffiziente Transformation von Grundnahrungsmitteln in eine andere Nahrungsenergie.» Dabei sei seine Heimat Indien, wo ein Grossteil der Bevölkerung Vegetarier seien, klar ein Vorbild. Allein diese drei Beispiele zeigten, wie elastisch das Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Agrarrohstoffmarkt im Grunde sei.

Für Broca ist vor allem wichtig, dass die Schwellenländer den Agrarreformen grössere Beachtung schenken. Dort findet mit einer fallenden Geburtenrate ein tiefgreifender demografischer Wandel statt, dazu kommt die rasante Urbanisierung. Schon in wenigen Jahren werden Millionen kleinen Bauernhöfen, die heute den Agrarsektor dominieren, die Arbeitskräfte fehlen. Weil sich alte Menschen für ihren Unterhalt künftig nicht mehr auf Angehörige abstützen können, müssen kapitalkräftige Sozialwerke aufgebaut werden. Das wiederum setzt gut funktionierende Finanzmärkte voraus. Broca resümiert: «Nur all das garantiert die Nahrungsmittelsicherheit auch in Zukunft.»

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