Zurück zur Übersicht
15:53 Uhr - 03.09.2014

Der Drift, den Draghi fürchtet

Die Inflationserwartungen könnten aus dem Ruder laufen.

Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), hat am Treffen der Notenbanker in Jackson Hole vorletztes Wochenende seine Rede praktisch in letzter Minute mit dieser Passage ergänzt: «Im August zeigten die Märkte ein Absinken der Inflationserwartungen über alle Horizonte.» Es war das erste Mal, dass Draghi seine andere maritime Metapher, diejenige fest verankerter Inflationserwartungen, fallen gelassen hat.

Um beim Bild zu bleiben: Die Sicht des Kapitäns im Eurotower scheint geschärft, seine Aufmerksamkeit hellwach. Als habe ihn etwas wachgerüttelt und ihm ein Blick auf seine Instrumente klargemacht, dass sich der Supertanker «Eurozone» bewegt und sich etwas tief unter ihm an den Ankern zu schaffen macht.

Erstmals entankert

Die grösste Furcht der EZB ist nämlich, dass sich die Inflationserwartungen aus ihrer Verankerung lösen und weiter von ihrem Zielwert von knapp unter 2% nach unten in Richtung Deflation abdriften.

Lässt sich ein solcher Drift ausmachen? Um das festzustellen, verfolgt die EZB anhand gehandelter Inflationsswaps, von welcher Teuerung der Markt in fünf Jahren für die nächsten fünf Jahre ausgeht. Wie UniCredit jüngst vorgerechnet hat, bewegten sich diese Erwartungen lange recht stabil zwischen 2,2 und 2,4%. Zwischen Januar und Juli hatten Werte von 2,1 bis 2,2% Draghi noch wiederholt feststellen lassen, die mittel- bis langfristigen Inflationserwartungen seien fest verankert. Erst vor kurzem, im August, sind sie um 15 Basispunkte eingebrochen und erstmals seit 2010 unter die Marke von 2% gesunken. Die mittel- bis langfristigen Inflationserwartungen drohen offenbar aus dem Ruder zu geraten.

zoomDie Spekulationen, ob die EZB also doch noch zu einem Wertschriftenprogramm im Stil einer quantitativen Lockerung der US-Notenbank gezwungen wird, haben danach einen neuen Höhepunkt erreicht, und die Märkte fiebern mehr denn je der Ratssitzung von Donnerstag entgegen. Die vergangene Woche publizierten Inflationszahlen vom August dürften die Erwartungen zusätzlich hochschrauben: War die Teuerung schon im Vormonat auf 0,4% gefallen, betrug sie im August nur noch 0,3%, so wenig wie seit 2009 nicht mehr.

Hoffnung Kerninflation

Einzig die Kerninflation, also die Jahresteuerung ohne Energie- und Lebensmittelpreise, verzeichnete im August einen Anstieg von 0,8 auf 0,9%. Wichtig ist der Unterschied, weil die ausgeklammerten Preise als besonders volatil gelten. Deflation wird zudem als Preisrückgang auf breiter Front verstanden.

Erst wenn die Konsumenten ihre Kaufentscheide mehrheitlich aufschieben, weil sie sinkende Preise erwarten, kommt der schwer umkehrbare Prozess selbsterfüllender Prophezeiungen in Gang, der Deflation so heimtückisch macht: Indem sich jeder einzelne Konsument in seiner Nachfrage zurückhält, sorgt er im Kollektiv mit den anderen selbst dafür, dass sich seine Erwartung sinkender Preise erfüllt. Damit würde die «Verankerung der Preiserwartungen in der mittleren Frist» gelöst, die Draghi bisher trotz der tiefen Inflationszahlen regelmässig gegen die Existenz der Deflation im Euroraum ins Feld führen konnte.

Doch der minimale Anstieg der Kerninflation – dazu von einem extrem tiefen Niveau aus – vermag nüchtern betrachtet die Bedenken über die deflationären Tendenzen im Euroraum kaum zu zerstreuen. Und schon gar nichts ändert der Wert daran, dass die Kerninflation in Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal bereits negativ ist.

Die von Banken wie etwa Société Générale erwartete Stabilisierung der Nahrungsmittel- und der Energiepreise schafft das Problem per se ebenfalls nicht aus der Welt. Zwar würden sich die Importe in Verbindung mit einer allmählichen Abschwächung des Euros verteuern. Aber erstens bliebe eine allenfalls bereits bestehende Deflationstendenz gemessen an der Kerninflation davon per Definition gerade unberührt. Vor allem aber könnte sich eine Verteuerung von Rohstoffen, etwa infolge hartnäckiger geopolitischer Krisenherde, negativ auf Wettbewerbsfähigkeit und Produktion der Unternehmen auswirken. Dies könnte Wachstum und Nachfrage zusätzlich bremsen, was den Preisdruck nach unten gerade verstärken würde.

EZB dürfte den Markt enttäuschenEZB-Präsident Mario Draghi hat im Vorfeld der Zinssitzung am Donnerstag hohe Erwartungen geschürt. Für konkrete Massnahmen scheint es zu früh. Lesen Sie hier den Bericht von FuW-Redaktorin Tina Haldner.

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.

Seite empfehlen



Kopieren Sie den Link [ctrl + c] und fügen Sie ihn in ein E-Mail ein [ctrl + v]. Aus Sicherheitsgründen ist kein Versand von E-Mails direkt vom VZ Finanzportal möglich.