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16:05 Uhr - 03.05.2019

«Es wäre töricht, Roche abzuschreiben»

Bill Anderson, CEO der Pharmadivision, ist überzeugt, der Konzern werde die Leaderposition in der Onkologie behaupten – und auch in der Neurologie vorn sein.

Die Medikamentenpipeline von Roche (ROG 270.4 1.01%) stösst bei Finanzanalysten auf Skepsis. Bill Anderson, seit Anfang Jahr CEO der Pharmadivision des Konzerns, ist da ganz anderer Meinung.

Herr Anderson, aus aktuellem Anlass: Roche plant die Übernahme von Spark Therapeutics für 4,3 Mrd. $. Bloss 26% der Aktionäre des auf Gentherapie spezialisierten US-Unternehmens haben das Angebot in der zweiten Frist angenommen. Sind Sie wirklich überzeugt, dass der Deal wie vorgesehen im zweiten Quartal klappt?
Ja, es ist nicht unüblich, dass die Wettbewerbsbehörde mehr Zeit braucht für die Prüfung. Zudem werden bei solchen Offerten die meisten Aktien erfahrungsgemäss erst am letzten Tag angedient.

Sie arbeiteten während zehn Jahren für die Roche-Tochter Genentech. Haben Sie nun als Chef der Pharmadivision des Konzerns in Basel eine andere Welt angetroffen?
Der Stil mag sich unterscheiden, aber unsere Werte sind an jedem Standort die gleichen. Unser Gegner ist nicht ein Konkurrent, sondern die Krebszelle.

Und was ist mit Grabenkämpfen zwischen den Forschungsstandorten, vor allem zwischen San Francisco und Basel?
Das ist zum grossen Teil Mythen- und Legendenbildung. Ich habe an beiden Standorten gearbeitet und festgestellt, dass es weit mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen gibt. Es gibt auch in der Forschung nur wenige bedeutende Überlappungen. Etwa 95% der Zeit investieren unsere drei grossen Innovationszentren in Kalifornien, Basel und in Japan in unterschiedliche Forschungsansätze.

Bringen Sie einen neuen Managementstil in die Pharmadivision?
Roche ist mit 26 Produktkandidaten mit dem Status eines Therapiedurchbruchs einer der erfolgreichsten Pharmakonzerne der Welt. Doch seit zweieinhalb Jahren gibt es eine wachsende Ambition auf allen Stufen, noch mehr zu erreichen.

Inwiefern?
Machen wir uns nichts vor: Der direkte Einfluss des Managements in unserer Branche ist mittlerweile klein. Unser Geschäft ist unglaublich komplex geworden. Es geht um Genomsequenzierung, das genetische Profil von Krebszellen, um Diagnostik und das Nutzen riesiger Datenmengen. Das alles kommt beim Patienten zusammen und ist sehr komplex. Die nötigen Entscheide können daher nicht nur von einigen wenigen Personen auf oberster Führungsstufe getroffen werden. Wenn wir allen Mitarbeitern mehr Kompetenzen und Freiräume überlassen, liefern sie bessere Resultate.

Das klingt wie aus dem Mund des neuen Novartis-CEO…
Wir haben den Ansatz bereits vor zweieinhalb Jahren eingeführt. Anzunehmen, dass ein Topmanager bloss ein paar Hebel in Gang setzen muss, damit ein Spitzenresultat herauskommt – das ist eine Illusion. Erhalten Mitarbeiter mehr Verantwortung, werden Entscheide rascher gefällt und Fehlentwicklungen direkt korrigiert. In der Vergangenheit verschwendeten die Mitarbeiter zu viel Zeit gefangen in Bürokratie.

Gilt das auch für Forschung und Entwicklung von Medikamenten?
Absolut. Früher dauerte es vom Abschluss einer klinischen Studie der Phase III bis zum Einreichen der Dokumente bei den Zulassungsbehörden durchschnittlich 24 Wochen. Im vergangenen Jahr haben wir den Entscheidungsprozess an die zuständigen Teams übertragen. Trotz einer Rekordzahl von Eingaben ist es ihnen gelungen, den Zeitraum auf 19 Wochen senken.

Heisst das Ziel auch, Kosten zu sparen?
Nein, Kosten senken ist kein motivierendes Ziel. Der primäre Ansporn muss sein, das Leben einer Patientin oder eines Patienten zu verbessern.

Zum Medikamentenportfolio. Roche hat seit vielen Jahren eine führende Position in der Onkologie, der Krebsbekämpfung. Wie wollen Sie auf diesem Feld weiter wachsen?
Wir lüften immer mehr Geheimnisse dieser verheerenden Krankheit. Die Immuntherapie ist ein wichtiges Feld, aber bei weitem nicht das einzige. Wir gehen das Thema Krebs viel breiter an.

Was heisst das konkret?
Die ersten Immuntherapien basierten auf Antikörpern, die das Immunsystem aktivieren, sogenannten Checkpoint-Inhibitoren. Derzeit testen wir elf weitere Moleküle in klinischen Studien, die das Immunsystem zur Krebsbekämpfung auf anderen Wegen aktivieren. Wir sind zudem führend bei Therapien, die auf bestimmte Tumormutationen ausgerichtet sind. Schliesslich arbeiten wir an personalisierten Impfungen gegen Krebs. Das Ziel ist, jedem Patienten die auf ihn zugeschnittene Medizin verabreichen zu können.

Wie funktioniert das?
Durch Sequenzierung bestimmen wir, welche spezifischen Mutationen im Krebs eines Patienten vorkommen. Dann stellen wir individualisierte Therapien her, die zum Tumorprofil des Einzelnen passen.

Das klingt nach Suchen in einem riesigen Datenberg.
Ja, wir investieren viel Geld in die Daten-Analytik. Ausserdem haben wir Foundation Medicine übernommen, einen führenden Anbieter molekularer Informationen zu Krebs. Wir analysieren bei einem Patienten jeweils 300 bis 400 typische Gene eines Tumors und suchen dann das Medikament, das diesen Tumor am besten bekämpfen könnte.

Ist das Ihr Ansatz in der Digitalisierung der Branche?
Nicht nur. Ein weiteres Standbein haben wir mit Flatiron Health. Das Software- und Datenunternehmen ist der grösste Lieferant von elektronischen Systemen für Onkologiepraxen in den USA. Die Gesellschaft bereitet zudem die Patientendaten so auf, dass sich beispielsweise virtuelle Kontrollgruppen für klinische Studien zusammenstellen lassen. So kann jeder von dem potenziell besten Medikament profitieren.

Immuntherapien von Konkurrenten haben sich als wirksamer erwiesen als die von Roche. Zudem übernimmt Bristol-Myers Squibb in einem Mega-Deal Celgene. Fällt Roche in der Onkologie zurück?
Wir ruhen uns nicht auf Lorbeeren aus. Wir sind nicht nur führend in der Krebsforschung, sondern auch in Zukunftsfeldern wie Daten und Diagnostik. Sie helfen, unsere Führungsposition zu halten.

Woher nehmen Sie diese Zuversicht, angesichts des Erfolgs etwa von Mercks Medikament Keytruda?
Weltweit investieren wir am meisten in die Krebsforschung und haben das breiteste Programm in der Onkologie. Mit Tecentriq kamen wir später auf den Markt als andere, das stimmt. Aber nun wächst der Umsatz kräftig. Im ersten Quartal sind weitere Zulassungen hinzugekommen.

Dann teilen Sie die Meinung nicht, mit Tecentriq sei Roche hinter der Konkurrenz zurückgeblieben, sodass in der Immuntherapie nur noch Nischen übrig blieben?
Ich lasse mich nicht vom Gedanken leiten, Konkurrenten einzuholen. Bei einigen Tumorarten, da haben Sie recht, waren andere schneller. Doch erst ein kleiner Teil auf dem Gebiet der Krebsimmuntherapie ist abgedeckt. Mit Tecentriq und elf weiteren Molekülen für die Krebsimmuntherapie haben wir viel Potenzial.

Welche Rolle spielen Zukäufe?
Etwa 99% der Innovation finden in der Welt ausserhalb von Roche statt. Wir sind bestrebt, Partnerschaften in einem möglichst frühen Entwicklungsstadium abzuschliessen. Wir warten nicht, bis kleine Firmen die Entwicklung weit vorangetrieben haben, um sie dann zu einem übertriebenen Preis zu kaufen.

Andere sehen das offenbar anders.
Kommt ein interessantes Molekül auf den Markt, rechnen wir das durch. Wir gelangen dann etwa zum Schluss, dass es nicht mehr als 3 Mrd. Fr. wert ist. Sechs Wochen später zahlt ein Konkurrent das Doppelte dafür. Pro Jahr schliessen wir fünfzig bis hundert Vereinbarungen ab, fast alle im Stadium der Forschung oder der frühen klinischen Prüfung.

Es dauert jedoch lange, bis aus solchen Partnerschaften eine Therapie auf den Markt kommt. Wie sieht die Pipeline aus?
Wir werden noch dieses Jahr zwei neue Moleküle in der Onkologie lancieren, in den kommenden Jahren könnten bis zu sechs weitere die Zulassung erhalten. Auch nachher wird die Pipeline nicht austrocknen. Ich weiss, in der Onkologie sind wir unter scharfer Beobachtung. Es wäre aber töricht, Roche hier abzuschreiben.

Die grössten Umsatzträger in der Krebsbekämpfung verlieren in Europa und Japan hohe Anteile an Biosimilars. Wann wird Roche die Konkurrenz dieser günstigen Nachahmerprodukte in den USA spüren, dem mit Abstand grössten Markt?
Ab der zweiten Jahreshälfte. Genau lässt sich das nicht sagen. Auch den Umsatzverlust kann ich nicht beziffern, er dürfte viel langsamer ablaufen als beim Markteintritt von klassischen Generika. Wir sind aber immer mehr überzeugt: Das Wachstum unserer neuen Medikamente wie Ocrevus gegen Multiple Sklerose und Perjeta gegen Brustkrebs wird den Negativeffekt des Ablaufs von Patenten mehr als auffangen.

Doch es wird schwierig werden, wie zuletzt jedes Quartal ein Wachstum von 6% und mehr auszuweisen.
Das hängt auch von den Biosimilars ab. Aber das ist eine Diskussion über die Vergangenheit. In einigen Jahren wird die Frage nicht lauten: «Was ist mit den Biosimilars passiert?» Sondern: «Welchen Erfolg haben die neuen Produkte gebracht?»

Etwa das erwähnte Ocrevus. Das Medikament könnte dieses Jahr bereits 3 Mrd. $ in die Kasse spülen. Wie hoch schätzen Sie das Umsatzpotenzial langfristig ein?
In einigen Jahren könnte es eines der umsatzstärksten Medikamente sein – nicht nur von Roche, sondern überhaupt. Ocrevus bietet Patienten hohe Wirksamkeit und wird gut vertragen – für mehr als ein Drittel der Patienten ist es das Medikament der Wahl, trotz dreizehn weiterer verfügbarer Arzneien.

Hat Roche weitere Pfeile im Köcher?
Oh, eine lange Liste… Nehmen wir zum Beispiel Hemlibra, ein Mittel gegen Bluterkrankheit. Bislang mussten solche Medikamente den Patienten oft mehrere Male pro Woche per Infusion verabreicht werden. Hemlibra kann bis zu einmal im Monat unter die Haut verabreicht werden – und wirkt besser. Im Unterschied zu früher können Patienten ein normales Leben führen. Vielversprechend ist auch Risdiplam zur Behandlung von spinaler Muskelatrophie, einer sehr schweren Form von angeborenem Muskelschwund.

Ein Gegengewicht zur Onkologie könnte für Roche die Neurologie werden. Das menschliche Nervensystem und das Gehirn sind unglaublich komplex. Sind die Risiken in Forschung und Entwicklung nicht zu gross?
Roche betreibt seit zwanzig Jahren Grundlagenforschung in der Neurologie. Es handelt sich um ein enorm grosses Therapiegebiet und um Krankheiten, die Patienten massiv beeinträchtigen und riesige Kosten für das Gesundheitssystem verursachen, denken Sie nur an Alzheimer. In den letzten zehn Jahren gab es eine explosionsartige Zunahme im Verständnis des Gehirns und seiner Erkrankungen. Heute können wir fünf Moleküle in der Spätphase der Entwicklung in fünf Krankheitsgebieten der Neurologie vorweisen.

Und das Risiko?
Neurologieforschung hat ein eindeutig höheres Risiko. Doch man muss unterscheiden. Bei Krankheiten wie Muskelschwund und Chorea Huntington wissen wir mittlerweile ziemlich genau, wo wir ansetzen müssen. Anders bei Alzheimer oder Autismus: Dort akzeptieren wir ein Risiko, das sehr hoch ist.

Viele Pharmaunternehmen haben die Alzheimerforschung aufgegeben.
Wir haben vermutlich die aussichtsreichste Position der Branche. Wir bleiben dran.

Wird Roche in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr für Krebsbekämpfung, sondern für Neurologie stehen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir auf beiden Gebieten führend sein werden.

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