Zurück zur Übersicht
13:45 Uhr - 09.02.2016

«Wir stecken in einem deflationären Sturm»

Michael Kurtz, Chef Aktienstrategie von Nomura, äussert sich über das Potenzial japanischer und europäischer Aktien, die Abkoppelung Chinas sowie politische Risiken.

Herr Kurtz, wie schätzen Sie die weltwirtschaftliche Lage ein?
Wir befinden uns inmitten eines deflationären Sturms. Das zumindest ist die Wahrnehmung der Investoren. Die Märkte sind Anfang Jahr auf alle Fälle durch die Ängste über eine massive Abwertung des chinesischen Yuans, die Talfahrt des Erdölpreises und Zweifel ob der Richtigkeit der von der US-Notenbank Fed heraufgesetzten Zinsen in Aufregung versetzt worden.

Wie sollten sich Investoren in diesem herausfordernden Umfeld positionieren?
Wir gehen trotz allem immer noch davon aus, dass die Weltwirtschaft auf dem Weg der Erholung ist, und ziehen insbesondere japanische Aktien sowie, mit Ausnahme Grossbritanniens, die Börsen der westeuropäischen Staaten vor. Japan und seine Exportindustrie dürften in den kommenden Monaten von dem gegenüber dem Yen weiter erstarkenden Dollar profitieren. Japanische Aktien erhalten aber auch von der verbesserten Corporate Governance der Unternehmen Rückenwind, die höhere Dividendenausschüttungen zur Folge hat.

Empfehlen Sie aus den gleichen Gründen auch europäische Aktien zum Kauf?
Was den Wechselkurs des Euros zum Dollar betrifft: Ja, denn auch die europäischen Börsen reagieren gemeinhin mit einem ausgeprägten Kursanstieg auf einen erstarkenden Dollar. Wir gehen davon aus, dass die Europäische Zentralbank in den kommenden Monaten anders als das Fed an ihrer lockeren Geldpolitik festhält und über das Kreditwachstum auch die Binnennachfrage Auftrieb erhält, was sich in höheren Unternehmensgewinnen niederschlagen sollte.

Wie schätzen Sie die Lage der Schwellenländermärkte ein?
In den kommenden sechs bis zwölf Monaten sehen wir einzig für die Börsen einzelner asiatischer Schwellenländer Aufwärtspotenzial. Wir bevorzugen zyklische Titel, das heisst insbesondere Technologie-, Industrie- und Konsumgüterwerte sowie im Finanzbereich Bankaktien. Dieses positive Szenario setzt allerdings voraus, dass die amerikanischen und die europäischen Konjunkturdaten auch in den kommenden Monaten auf eine weitere Erholung der Wirtschaft hindeuten.

Seit Anfang Jahr haben sich in einem volatilen Umfeld defensive Werte jedoch weit besser geschlagen als wachstumssensitive zyklische Aktien.
Unsere Strategie läuft zugegebenermassen dem seit Anfang Jahr beobachteten Trend entgegen. Ich halte allerdings an meiner Einschätzung fest. Dabei gehe ich davon aus, dass die chinesische Regierung keine massive Abwertung des Yuans, sondern lediglich eine leichte und geordnete Abschwächung zulassen wird. Zudem sind unserer Meinung nach tiefe Erdölpreise insgesamt gut für die Weltwirtschaft. Auch weisen US-Daten wie etwa der Arbeitsmarktbericht vom Januar auf eine weitere Erholung hin. Davon sollten die von uns bevorzugten zyklischen Sektoren und darüber hinaus auch zyklische Märkte wie Taiwan, Korea und Indien Auftrieb erhalten.

Wo liegen die grössten Risiken?
Man kann die bereits erwähnten deflationären Risiken auf einen Nenner bringen, nämlich die amerikanische Notenbank. Ein Fehlentscheid des Fed könnte die People’s Bank of China zwingen, ihre Geldpolitik noch mehr von der des Fed abzukoppeln. Das würde den auf dem Yuan lastenden Abwertungsdruck noch vergrössern und auch die Rohstoffpreise weiter in den Keller treiben.

Allerdings sollten – wie von Ihnen erwähnt – tiefe Energiepreise für die erdölimportierenden Länder unterstützend sein, steigt für die dortigen Konsumenten damit doch das verfügbare Einkommen.
Ja, doch anderseits verschlechtert sich mit einem niedrigen Rohstoffpreis die Finanzlage der Erdölkonzerne und vor allem der stark von Energieexporten abhängigen Staaten. Das könnte höhere Ausfälle am Kreditmarkt nach sich ziehen und für grössere Unruhe im globalen Finanzsystem sorgen.

Stimmt es, dass Staatsfonds von erdölproduzierenden Ländern bereits jetzt in grösserem Umfang ihre Reserven auflösen, um damit die tiefer werdenden Löcher in ihren Haushalten zu stopfen?
Gewisse Zeichen weisen darauf hin. Wie ernst die Lage ist, zeigt sich daran, dass Saudi-Arabien bei einem Erdölpreis von unter 90 $ ein Budgetdefizit schreibt. Es ist somit sehr wahrscheinlich, dass dieses Land – wie auch sechs oder sieben andere Erdölproduzenten – angefangen hat, einen Teil der im Ausland angelegten Finanzreserven aufzulösen. Sollte dieser Verkaufsdruck länger anhalten, könnte er an den Börsen für einen kräftigen Abwärtssog sorgen.

Davon ist bereits seit zwei oder drei Wochen die Rede. Ist dieses Szenario nicht schon in den Aktienpreisen enthalten?
Nicht unbedingt, denn es ist ja nicht sicher, ob die Rohstoffpreise angesichts der anhaltenden Überkapazitäten wirklich schon die Talsohle durchschritten haben.

Befinden wir uns in einem normalen Zyklus, oder ist die Weltwirtschaft in eine neue Phase eingetreten, die in den reifen Industrieländern säkulare Stagnation und in China neue Normalität genannt wird?
Dass mittlerweile sowohl die Europäische Zentralbank wie auch die Bank of Japan Negativzinsen eingeführt haben und die Erholung der USA nach der Finanzkrise lange harzig verlief, ist ein klarer Hinweis, dass sich die Weltwirtschaft in einem tiefgreifenden strukturellen Wandel befindet. Und sollte das nicht zutreffen, so muss zumindest von einem aussergewöhnlichen Superzyklus geredet werden. Das trifft klar auf China zu, das sich von seinem alten Wachstumsmodell verabschiedet hat, womit sich auch die Geldpolitik der People’s Bank of China von der des Fed abkoppelt. Die Volkswirtschaften der reiferen Industrieländer erleben ihrerseits einen tiefgreifenden demografischen Wandel, der gerade in Japan mit dem schrumpfenden Anteil der aktiven Bevölkerung starken deflationären Druck verursacht.

Wie wirkt sich all das auf den Markt aus?
Das sind klare Zeichen, dass Wachstums-, Inflations- und somit auch Zinserwartungen weltweit tief bleiben. Das dürfte für die absehbare Zukunft grössere Auswirkungen auf alle Anlageklassen haben.

Gibt es dazu historische Parallelen?
Das gegenwärtige Szenario erinnert, wenn auch unter teilweise anderen Vorzeichen, an Mitte und Ende der Neunzigerjahre. Damals wurden in den USA die geldpolitischen Zügel anzogen. Der damit einhergehende erstarkende Dollar trieb die Rohstoffpreise in den Keller, was wiederum die Zahlungsbilanzen wie auch die Haushalte stark rohstofflastiger Volkswirtschaften in Schieflage brachte. Dieser Prozess mündete 1994 in eine Finanzkrise Mexikos. 1997 waren Thailand und Indonesien, später Brasilien und Russland und schliesslich 2001 Argentinien betroffen. Die Geschichte muss sich nicht unbedingt wiederholen, doch sind die Parallelen zu heute schon frappant.

Auf der anderen Seit bringt die zunehmende Automatisierung eine Produktivitätssteigerung mit sich. Das sollte die Finanzmärkte doch unterstützen?
Die laufende Strukturveränderung ist nicht mehr zu übersehen, so etwa in Supermärkten, wo die Arbeit von Kassierern wegfällt. Weitere Beispiele sind der Taxifahrservice Uber oder die Mitwohnzentrale Airbnb. Das hat auf der Angebotsseite einen massiven Anstieg nach sich gezogen, was sich zum Beispiel an den fallenden Preisen für Hotelübernachtungen ablesen lässt. Uber hat fast über Nacht aus Autos, die zuvor täglich nur wenige Stunden für den persönlichen Gebrauch benutzt worden sind, ein Produktionsmittel gemacht. All das ist mit deflationärem Druck verbunden, der für die Konsumenten zwar gut ist, der jedoch die Arbeit der Notenbanken erschwert und damit auch für Turbulenzen an den Finanzmärkten sorgt.

Die Welt ist gegenwärtig mit grösseren politischen Krisen konfrontiert. Sind die damit verbundenen höheren Risiken bereits in den Aktienpreisen enthalten?
Die politischen Risiken sind heute unbestritten grösser als vor ein oder zwei Jahren und dürften an den Märkten auch 2016 ein wichtiges Thema bleiben. Dies nicht nur, weil sich die gegenwärtigen Krisen etwa in Nahost oder auf der koreanischen Halbinsel noch verschlimmern werden, sondern auch, weil die Welt im laufenden Jahr vor neuen politischen Unwägbarkeiten steht. Etwa dann, wenn im Mai in Taiwan Tsai Ing-wen, die auf grössere Distanz zu China geht, das Präsidentenamt übernimmt. Die Wahl von Donald Trump, der eine stark protektionistische Haltung einnimmt, kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Diese Möglichkeit wird an den Märkten bereits jetzt einkalkuliert. Solange die Frage, wer auf Präsident Obama folgen wird, nicht geklärt ist, werden viele Unternehmen wichtige Investitionsentscheide vor sich herschieben.

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.

Seite empfehlen



Kopieren Sie den Link [ctrl + c] und fügen Sie ihn in ein E-Mail ein [ctrl + v]. Aus Sicherheitsgründen ist kein Versand von E-Mails direkt vom VZ Finanzportal möglich.