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13:56 Uhr - 09.09.2022

Wenn der Profit tötet

OxyContin steht am Anfang der Opioidkrise in den USA. Das Unternehmen dahinter, Purdue Pharma, ist insolvent. Die Besitzerfamilie stiehlt sich aus der Verantwortung.

Die Geschichte des Aufstiegs und Falls von Purdue Pharma ist nicht nur eine Unternehmens-, sondern eine Familiengeschichte. Denn Purdue ist bis 2019 ein Synonym für die Sackler-Familie – gleichgültig, wie stark die einzelnen Mitglieder sich bemühen, ihren Namen vom Pharmaunternehmen fernzuhalten.

Sie sehen «Sackler» zu gerne auf Universitätsgebäuden und an den Wänden von Museen. Finanziert werden die Millionen für Kunst, Bildung und die eigenen Taschen der Sacklers durch ein starkes, schnell abhängig machendes Schmerzmittel, das bei Purdue lange die Kassen klingeln liess: OxyContin.

OxyContin ist das Medikament, das am Anfang der Opioidkrise in den USA steht. Gerichtsdokumente, Whistleblower und Recherchen von Investigativjournalisten zeigen auf, dass die Sacklers grosses Interesse daran hatten, so vielen Menschen so viele Pillen wie möglich zu verkaufen – auch wenn medizinisch gesehen Opioide nur zur kurzfristigen Therapie bei starken Schmerzen eingesetzt werden sollten.

Andere Akteure sind mitschuldig am Ausmass des Opioidmissbrauchs in den USA: die Zulassungsbehörde FDA und weitere Behörden, die ihre Aufsichtspflicht ungenügend wahrnahmen; die Ärzte, denen der Verschreibungsblock zu locker sitzt; Schwarzmarktakteure, die den Bedarf nach Stoff der Süchtigen ausnutzten; andere Pharmaunternehmen, die Nachahmermedikamente auf den Markt brachten. Aber Purdue und die Sacklers setzen den Standard.


Aufbau des Imperiums


Arthur wird 1913 als ältester Sohn von europäischer Immigranten in Brooklyn geboren. Seine beiden Brüder, Mortimer und Raymond, werden ihn um Jahrzehnte überdauern und sein Vermächtnis in ein schlechtes Licht rücken; aber während ihr grosser Bruder noch lebt, ist er der Anführer.

Alle drei studieren Medizin und arbeiten zusammen in einer psychiatrischen Anstalt in New York. Doch Arthur verfolgt zeitgleich lukrativere Geschäfte: 1952 kauft er Purdue-Frederick für seine Brüder und hält selbst bloss eine Option. Zudem arbeitet Arthur für eine medizinische Werbeagentur. Er hilft bei Pfizers Umstellung vom Chemie- zum Pharmagigant und propagiert die Vermarktung von Medikamenten direkt an Ärzte. Unter seiner Ägide wird Valium das erste Medikament, das einen Umsatz von mehr als 100 Mio. $ erzielt.

Als Arthur 1987 stirbt, verkauft Purdue vor allem Abführmittel und Wundsalben. Der Fokus auf Schmerzmittel kommt erst in den Neunzigerjahren, angeführt von der neuen Generation der Sacklers. Mortimers Tochter Kathe behauptet, die Idee für OxyContin gehabt zu haben, ihr Cousin Richard bestreitet dies. Klar ist, dass die jungen Sacklers sich zur Vermarktung von OxyCotin des Handbuchs von Arthur Sackler bedienen: direktes und aggressives Lobbyieren, sowohl bei den Zulassungsbehörden als auch bei den Ärzten und Kliniken.

OxyContin kommt 1996 auf den Markt und verspricht effektives Schmerzmanagement: Eine hohe Dosis Oxycodon, verpackt in einer Tablette, die das Schmerzmittel über Stunden hinweg in den Körper abgibt. Aufgrund dieser langsamen Freisetzung des Wirkstoffs bestehe keine Missbrauchs­gefahr, betonen die Sacklers. Purdue drängt darauf, dass OxyContin für den «langfristigen Gebrauch» und mehr Schmerzindikationen freigegeben werden soll. Die FDA folgt der Argumentation ohne langfristige Studienergebnisse und eröffnet Purdue Pharma ab 2001 so einen riesigen Markt.


Opioide für die Massen


Interne Memos, die durch die Gerichtsfälle öffentlich werden, beweisen, dass Purdue bereits vor der Jahrtausendwende wusste, dass OxyContin missbraucht wird: Oxycodon macht schnell abhängig. Um den Euphorieschub aufs Mal zu erleben, fangen Süchtige an, die Tabletten zu zerkleinern. Das kann zu Atemdepression und gar zum Tod führen. Mehr als eine halbe Million Menschen sind von 1999 bis 2020 an einer Überdosis Opioide gestorben. Wie viele abhängig sind, ist unklar.

Im vergangenen Jahr wird ein trauriger neuer Rekord von mehr als 100 000 Todesopfern aufgrund von Medikamenten- und Drogenmissbrauch erreicht. Drei Viertel davon sterben nach der Einnahme von Opioiden. Die Krise hat auch finanzielle Auswirkungen, wie sie das Pew Research Center berechnet hat: Jährlich verursacht Opioidmissbrauch 35 Mrd. $ an Gesundheitskosten, 92 Mrd. $ an verlorener Produktivität und 14,8 Mrd. $ an Rechtskosten.

Der dritte Punkt beschäftigt auch die Sacklers und Purdue. Mehr als zehn Jahre, bevor die grosse Welle an Klagen losgeht, wird Purdue Pharma schuldig gesprochen: Drei Manager hätten Falschaussagen bezüglich des Suchtpotenzials von OxyContin gemacht. Purdue bezahlt eine Busse von 634 Mio. $ – ein Drittel des Umsatzes, den OxyContin allein im betreffenden Jahr 2007 generiert.


Konkurs statt Gerechtigkeit


Keiner der Verurteilten trägt den Nachnamen Sackler, doch die Familie reagiert. Über die folgenden zwölf Jahre zweigt der Clan 10,8 Mrd. $ vom Unternehmen in die eigenen Taschen ab. Das geht aus Unterlagen hervor, die öffentlich wurden, nachdem 2019 alle Sacklers die operative Leitung abgegeben hatten und das Unternehmen Konkurs anmeldet. Unter dem sogenannten Kapital-11-Verfahren können Unternehmen weiter tätig sein, selbst wenn sie kein Geld mehr haben, und sie sind vor weiteren Klagen geschützt.

Im März erreicht der Richter einen Kompromiss zwischen Purdue und den klagenden US-Bundesstaaten: Purdue zahlt bis 2030 insgesamt 6 Mrd. $, die Sacklers stossen ihre Anteile ab. Im Gegenzug werden Purdue und die Sacklers von allen künftigen Zivilklagen im Bezug auf Opioide geschützt. Doch dagegen wird Berufung eingereicht: «Das Insolvenzgericht hat keine Autorität, um den Opfern der Opioidkrise ihr Recht zu nehmen, die Sackler-Familie zu verklagen», sagt US-Justizminister ­Merick Garland. So liegt die Zukunft von Purdue weiter in der Schwebe.


Juristischer Schneeballeffekt


Nicht nur gegen Purdue werden Tausende Klagen eingereicht: Gemeinden, Bundesstaaten, indigene Stämme und Einzelpersonen klagen gegen Opioid-Hersteller und -Vertreiber, Apotheken, die Beratungsfirma McKinsey und einzelne Ärzte. Doch die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Viele Unternehmen entscheiden sich deshalb für aussergerichtliche Einigungen: Unter der Bedingung, dass sie keine Schuld eingestehen müssen, zahlen Johnson & Johnson und drei Vertreiber von Medikamenten 26 Mrd. $ an US-Bundesstaaten. Es ist die grösste, aber sicher nicht die letzte Strafsumme, die Unternehmen für ihre Rolle in der Opioidkrise bezahlen müssen. Die Medikamenthersteller Teva, Allergan, Endo sowie die Apothekenketten Walmart, Walgreens und CVS sind noch in Verfahren.

Derweil haben sich Purdue sowie einige Sacklers für ihre Rolle in der Opioidkrise entschuldigt, doch sie weisen jegliche Schuld von sich. Zudem besitzen die Sacklers nach wie vor Purdue, deren Tochterfirmen mit Abführmitteln, ADHS-Tabletten und Schmerzmitteln weiter Einkommen generieren. Der Verkauf des internationalen Arms, Mundipharma, der auch in der Schweiz Opioide vertreibt, wird laut der Nachrichtenagentur Bloomberg geprüft und würde 5 Mrd. $ einbringen – damit wäre die Strafsumme bereits fast beglichen.

So endet diese Episode von «Der tiefe Fall» nicht so, wie es moralisch wünschenswert wäre. Denn selbst wenn die Sacklers dereinst persönlich zur Verantwortung gezogen würden und Purdue Pharma zerschlagen wird – ihr Erbe bleibt: die Opioidekrise. Die Leidtragenden sind die Menschen, deren Leben daran zerbricht.

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