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09:32 Uhr - 21.06.2016

ABB: Die ständige Flucht nach vorn

Die Entstehung von ABB war ein visionärer Befreiungsschlag. Sie steht am Anfang einer strategischen Selbstfindung.

Wenigen wird ein zweites Leben geschenkt. Der BBC schon: In der Nacht auf den 5. Januar 1988 wird die altehrwürdige Badener Industriegruppe als globaler Elektrotechnikgigant mit 25 Mrd. Fr. Umsatz und 170 000 Mitarbeitenden wiedergeboren. Als ABB (ABBN 20.32 0.15%) betritt sie die Weltbühne. Der Schulterschluss mit der schwedischen Asea ist in ihrer Zeit eine der grössten Fusionen überhaupt. In Europa ist sie einzigartig. Für den damaligen BBC-Grossaktionär Stephan Schmidheiny ist die Transaktion eigentlich «undenkbar». Und gerade deshalb wird sie von besonderer Durchschlagskraft sein.

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Mit zehn Jahren Vorsprung ist ABB die Vorbotin einer Ära der Konsolidierung, die nicht nur die Elektroindustrie, sondern auch den Pharmasektor, Telecom, Banken, Auto- und Stahlindustrie erfassen wird. Auf einen Schlag katapultiert sich ABB in die globale Topliga von General Electric (GE 30.83 0.75%), Siemens (SIE 95.29 0.36%), Hitachi und Toshiba (6588 3.5 -14.63%). Zur Ruhe wird ABB aber nie kommen. Der Konzern wird sich strategisch immer wieder neu erfinden, bis heute.

Die Pioniere

ABB ist das Kind von zwei Industriegeschichten, einer schweizerischen und einer schwedischen. «Charles E. L. Brown von Brighton (England) und Walter Boveri von Bamberg (Bayern) in Baden (…) haben unter der Firma Brown Boveri & Cie. eine Kommanditgesellschaft eingegangen (…). Natur des Geschäfts: Fabrikation von elektrischen Maschinen», heisst es im Amtsblatt des Kantons Aargau im Oktober 1891. zoomEs ist der erste Auftrag, der die BBC-Gründer nach Baden zieht: Das Wasserkraftwerk Kappelerhof soll mit Generatoren ausgerüstet werden. Ein Jahr später kommt ein Folgeauftrag für Lokomotiven. Die Auftragsbücher sind rasch voll. Baden wird Fabrikationsstandort und Zentrale von BBC.

Die folgenden Jahrzehnte lesen sich wie eine Chronik elektrotechnischer Innovationen: 1901 entwickelt BBC die erste Dampfturbine Europas. Es folgen 1923 der Turbolader für Dieselmotoren, 1939 die Verbrennungsgasturbine, 1968 die Stromrichterlokomotive. Übernahmen wie die Maschinenfabrik Oerlikon (1967) oder Sécheron (1969) stärken BBC. In Baden und Birr werden Werkhallen hochgezogen, die Belegschaft wächst jedes Jahr 5 bis 10%. Niederlassungen entstehen auf allen Kontinenten.

Zur gleichen Zeit gedeiht in Schweden Asea; auch sie das Ergebnis der Zusammenarbeit zweier Elektropioniere. Die Gründer, Gustav Granström und Göran Wenström, ziehen 1890 nach Västerås, nahe Stockholm. Wie Brown und Boveri winkt auch ihnen der Auftrag für ein Wasserkraftwerk. Asea wird führende Anbieterin von Hochspannungs-Gleichstrom-Anlagen, von Robotern, von kleinen und mittelgrossen Gas- und Dampfturbinen und von Reaktoren für Kernkraftwerke.

Die Ölkrise der Siebzigerjahre ist auch für die Elektroindustrie hart. Vermeintlich starke Rivalen wie die deutsche AEG müssen (1982) aufgeben. Äusserlich übersteht die alternde BBC den Sturm gut, innerlich geht es aber auch ihr schlecht. Sie ist gross, unübersichtlich, schwer zu manövrieren. 1979 verzeichnet BBC zwar einen Umsatzrekord, der Gewinn bricht jedoch ein. 1981, 1982, 1983 enden in roten Zahlen.

Zwangsehe für müde Dame

Dabei investiert man weiter viel in Forschung und Entwicklung. Technologisch sei BBC wie ein «schweizerischer Apple-Konzern», sagt Edwin Somm, ehemaliger Chef von ABB-Schweiz, Jahre später. Doch die Badener verstehen es schlecht, Innovation in Geld zu verwandeln. BBC bleibt ein Reich der Ingenieure.

Als 1985 der ehemalige Nationalbank-Präsident Fritz Leutwiler das VR-Präsidium von BBC übernimmt, erkennt er rasch die prekäre Situation. Ihm ist klar, es braucht einen Befreiungsschlag. Leutwiler kontaktiert mögliche Partner, auch Asea. In geheimen Verhandlungen werden Möglichkeiten der Zusammenarbeit sondiert. Am Verhandlungstisch sitzt auch Asea-CEO Percy Barnevik. Der weiss genau, was er will. Er steuert die Diskussionen auf eine Fusion hin. Die Unternehmen ergänzen sich gut: BBC bringt Top-Technologie und ein globales Vertriebsnetz, Asea moderne Management- und Produktionsmethoden.

Die Person Percy BarnevikÜbermanager und Abzocker.
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Dass das Fusionsprodukt ABB nicht BBA heisst, ist kein Zufall. In den Verhandlungen agieren die geschwächten Schweizer aus der Defensive. Obschon BBC deutlich grösser ist, wird der Börsenwert, nicht die Substanz, als Berechnungsgrundlage für die Fusion genommen. Asea ist an der Börse doppelt so viel wert. Und Barnevik treibt die Transaktion voran, mit Tempo, ohne Anwälte.

In der neuen ABB lässt Barnevik keinen Stein auf dem anderen. Forschung, bei BBC ein Heiligtum, wird zum Profitcenter. Die Konzernzentrale in Oerlikon wird radikal zusammengestutzt. Dazu entwickelt Barnevik einen grossen Akquisitionsappetit. Zeitgleich werden im «Stammhaus», in der defizitären ABB Schweiz, Tausende Arbeitsplätze gestrichen; riesige Fertigungshallen in Baden und Zürich werden ausgeweidet oder abgerissen. Die bittere Medizin wirkt. Die abgespeckte ABB Schweiz schreibt bereits 1989 wieder schwarz.

Die Eigenkapitaldecke bleibt jedoch dünn. Hohe Restrukturierungskosten ziehen sich Jahr für Jahr durch die Konzernbilanz. Auch das US-Geschäft kommt nicht zum Fliegen. 1990 kauft Barnevik dort den maroden Dampfkesselbauer Combustion Engineering – ein Fehler: Asbest-Klagen in Milliardenhöhe werden ABB bis 2006 schwer belasten. Trotz aller Kollateralschäden schafft es Barnevik mit der Radikalkur, den Aktienkurs in seiner Amtszeit zu verdreifachen.

Das Leben nach Barnevik

Der Schwede Göran Lindahl löst seinen Meister 1996 ab. Das Image des «tanzenden Riesen», des agilen Überkonzerns, hält sich noch. Doch das zu schnell gewachsene Gebilde leidet an Wildwuchs und IT-Chaos. Lindahl trennt sich von der Eisenbahntechnik (AdTranz). Sogar die Keimzelle von BBC, das Kraftwerkgeschäft, wird an Alstom (ALO 21.345 0.59%) verkauft. Die Mitarbeiterzahl sinkt von 200 000 auf 164 000. Lindahl stösst in die Petrochemie vor und kauft 1999 Elsag-Bailey, um die Automationssparte auszubauen.

zoomzoomEs ist die Zeit der New Economy, und Lindahl will aus ABB einen digitalisierten, weniger kapitalintensiven «Wissenskonzern» machen. Zuspruch erhält das Vorgehen von einem Grossaktionär, Martin Ebner, der ABB 1999 zur Einheitsaktie drängt. Doch trotz rekordhohem Aktienpreis von 42 Fr. im Mai 2000 entpuppt sich die Ära Lindahl als Sackgasse.

Das Platzen der Internetblase, Asbest-Klagen, erdrückend hohe Schulden und ein von Ebner erzwungener Aktienrückkauf von 1,7 Mrd. Fr. sind zu viel. Eigenkapital und Liquidität schmelzen dahin. Ende Oktober 2002 sinkt die Aktie auf 1.41 Fr. ABB steht am Rand des Bankrotts.

Eine neue Mannschaft unter Präsident und CEO Jürgen Dormann und Finanzchef Peter Voser zieht den Karren aus dem Dreck. 2004 kann ABB wieder Gewinne schreiben.

Fred Kindle, der 2005 Dormann nachfolgt, führt das Schiff in ruhigere Gewässer. Die Margen expandieren, eine Dividende ist wieder möglich. Nach seinem Abgang nach drei Jahren fährt ein neuer CEO, Joe Hogan, einen aggressiveren Akquisitionskurs. Er gibt über 10 Mrd. $ für Zukäufe aus, stärkt das US- und Solargeschäft. Auch er geht abrupt. Ulrich Spiesshofer, der aktuelle CEO, steht mit ABB wieder am Scheideweg. Ein schwedischer Grossaktionär, Cevian, drängt auf die Abspaltung der Stromnetz-Division. Einmal mehr soll sich ABB neu erfinden.

Die komplette Historie zu ABB finden Sie hier. »

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