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07:11 Uhr - 21.07.2016

Das Inflationsziel der EZB rückt nach dem Brexit in die Ferne

Die Europäische Zentralbank wird die Geldpolitik höchstwahrscheinlich noch mehr lockern. Heute dürfte sie aber noch keine Schritte beschliessen.

Die 25 Mitglieder im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) dürften beim Zinsentscheid am Donnerstag vor allem über drei Belange debattieren: Die Brexit-Abstimmung vernebelt den Konjunkturausblick, die Schieflage der italienischen Banken bedroht die Stabilität des Finanzsystems, und für das Anleihenkaufprogramm werden deutsche Bundesobligationen knapp.

Ein kleiner Lichtblick: Die Teuerungsrate ist im Juni mit 0,1% endlich ins Positive gestiegen, nach vier Monaten auf oder unter null. Doch das Inflationsziel der EZB von «knapp unter 2%» liegt in weiter Ferne. Und bei den langfristigen marktbasierten Inflationserwartungen, die EZB-Präsident Mario Draghi oft als Orientierungspunkt nennt, «kann von einer Erholung noch nicht die Rede sein», erklären die Ökonomen der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Mit dem Brexit-Entscheid verzögere sich die Annäherung an das Inflationsziel erneut, bestätigt Chefvolkswirt Harald Preissler von der Bantleon Bank. «Nach der aktuellen geldpolitischen Logik sind damit zusätzliche Lockerungen unvermeidlich.»

Ein tieferer Negativzins?

Die revidierten Prognosen für Teuerung und Konjunktur sind aber noch nicht verlässlich genug. «Trotz höherer Abwärtsrisiken und Unsicherheit wartet die EZB vorerst wohl auf Hinweise, die eine Einschätzung des Wachstumsumfelds nach dem Brexit ermöglichen», folgern die Ökonomen von UniCredit (UCG 2.252 1.72%). Die Kollegen von Bank of America (BAC 14.4 0.98%) Merrill Lynch erklären, die nach dem Brexit robusten Finanzmärkte würden es dem EZB-Rat erlauben, sich auf Andeutungen zu beschränken. Eine «zusätzliche Schicht Stimulus» werde an der Ratssitzung vom 8. September angekündigt. Preissler ergänzt, an den Märkten sorge einzig Italiens Bankenkrise für Unruhe. Zur Lösung dieses Problems könne die Geldpolitik aber wenig beitragen.

Die Finanzmärkte haben sich neu positioniert, als die Bank of England am letzten Donnerstag die Geldpolitik nicht gelockert hat. «Der Markt hat das 15%ige Restrisiko, dass die EZB nun ihren Einlagenzins senkt, ausgepreist», erklärt Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Den Einlagenzins von –0,4% bezahlen die Banken, wenn sie Geld bei der EZB parken. Er ist – anstelle des Hauptrefinanzierungssatzes – derzeit der wichtigste der drei Leitzinsen für den Geldmarkt.

Es wäre ohnehin ein zwiespältiges Signal, vor der Bank of England zu lockern, argumentiert die Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba): Die Hauptbetroffenen des Brexit müssten sich als Erste bewegen. «Alles andere würde nur Fragen bezüglich der Stabilität des Euroraums provozieren.» Die Bank of England hat für August eine Zinssenkung in Aussicht gestellt. Die EZB könnte im September nachziehen. Dann werde sie den Einlagenzins von –0,4 auf –0,5% herabsetzen, erwartet Elga Bartsch, Europa-Chefökonomin bei Morgan Stanley (MS 28.78 2.09%). UniCredit teilt diese Meinung nicht, weil «die Nebenwirkungen schwerwiegender sein könnten als die Vorteile».

Grenzen der Anleihenkäufe

Zudem werde die EZB im September das Anleihenkaufprogramm um ein halbes Jahr verlängern, bis September 2017, ergänzt Bartsch, und damit rechnet auch UniCredit. Um den Markt nicht allzu sehr zu verzerren, hat sich die EZB Obergrenzen gesetzt, etwa den Kapitalschlüssel und die Mindestrendite: Sie kauft Staatsanleihen pro Land im Umfang von seiner Wirtschaftskraft, deren Rendite über dem Einlagenzins von –0,4% liegt. Hält die Zentralbank die Grenzen ein, gibt es bald nicht mehr genügend deutsche Bundesanleihen zum Kauf – je nach Annahmen im Herbst oder spätestens Ende Jahr.

Die EZB drehe kaum am Kapitalschlüssel, erklärt Krämer. Das käme vor allem den grossen Schuldnern Italien und Frankreich zugute und bärge politischen Zündstoff. «Die wirkungsvollste Massnahme, um das Knappheitsproblem anzugehen, wäre, die Renditeuntergrenze auf Höhe des Einlagenzinses aufzuheben.»

Zuerst werde Draghi nun am Donnerstag die Unterstützung der EZB zusichern und zum wiederholten Mal warnen, die Notenbanken könnten nicht alle Probleme lösen, prophezeit Chefökonomin Michala Marcussen von Société Générale (GLE 30.275 -0.15%). «Die Regierungen werden diese Warnung aber kaum beherzigen, damit bleiben die Realwirtschaft und die Märkte verletzlich gegenüber Unsicherheiten und Schocks.»

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