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12:48 Uhr - 29.04.2016

James Bianco: «Risiko eines Unfalls ist enorm hoch»

James Bianco, Chef von Bianco Research, warnt vor den unbeabsichtigten Konsequenzen negativer Zinsen und der Gefahr einer Kreditkrise im Energiesektor.

An den globalen Finanzmärkten ist es seltsam still. Nach einer kräftigen Erholung treten die Weltleitbörsen in den USA inzwischen seit zwei Wochen auf der Stelle. Jim Bianco macht das stutzig. Der unter institutionellen Investoren hoch angesehene Stratege aus Chicago ist vor allem skeptisch, was die Experimentierfreudigkeit der Notenbanken betrifft: «Niemand versteht, was negative Zinsen wirklich bedeuten», sagt der Chef des Analysediensts Bianco Research. Auch der Hausse im Energiesektor traut er nicht. Er zieht beunruhigende Parallelen zum Subprime-Debakel im US-Häusermarkt und fürchtet eine neue Kreditkrise, falls der Ölpreis erneut auf Tauchkurs geht.

Zur PersonJames Bianco ist einer der wenigen Querdenker unter den amerikanischen Marktstrategen. Sein täglicher Investmentkommentar ist für Manager von Hedge Funds, Anlagefonds oder Pensionskassengeldern Pflichtlektüre.
Biancos Analysen stechen durch eine Vielzahl origineller Grafiken und ein reiches Wissen in der Markttechnik heraus. Sein Unternehmen Bianco Research, das zum Broker Arbor Research & Trading gehört, startete er 1990.
Davor arbeitete er als Markttechniker und Stratege für den US-Handel von UBS, Shearson Lehman Brothers und das Investmenthaus First Boston, das später von Credit Suisse gekauft wurde. Bianco lebt in Chicago und ist ein grosser Fan des lokalen Baseballteams White Sox.
Herr Bianco, kaum ein Thema ist derzeit so kontrovers wie negative Zinsen. Zweifel hat jetzt offenbar auch die Bank of Japan, die diese Woche mit einer weiteren Offensive gezögert hat. Was denken Sie dazu?
Selbst wenn man bis zu den alten Ägyptern und Mesopotamiern zurückblickt, hat es negative Zinsen in der Geschichte der Menschheit bis vor zwei Jahren noch nie gegeben. Entsprechend skeptisch sind die Finanzmärkte. Sie halten negative Zinsen für einen Fehler, der nur noch mehr Verzerrungen verursacht. Das zeigt sich deutlich in Japan. Falls negative Zinsen wirklich die Wirtschaft beleben sollen, dann müssen uns die Zentralbanken besser erklären, warum.

Weshalb ist die Skepsis so gross?
Es fällt schwer, zu verstehen, was negative Zinsen wirklich bedeuten. Als die Europäische Zentralbank im Sommer 2014 erstmals zu dieser Massnahme griff, interpretierten Investoren das zunächst lediglich als temporäres Nebenexperiment. Doch nun hat die Bank of Japan Ende Januar nachgezogen, womit es plötzlich ernst wird. Das weltweite Volumen an Anleihen mit negativer Rendite hat sich dadurch schlagartig verdoppelt. Klammert man die USA aus, rentieren inzwischen über 45% aller Staatsanleihen negativ.

Was ist denn genau das Problem mit negativen Zinsen?
Dazu gibt es zwei Aspekte. Erstens ist das Finanzsystem nicht darauf ausgerichtet. Auf den Bildschirmen der Bondhändler leuchten zwar negative Zahlen auf. Im Alltag existieren negative Zinsen jedoch nicht. Europäische Banken offerieren bislang keine Sparkonten mit negativen Zinsen oder Anleihen mit negativem Coupon. Das, weil es technisch sehr kompliziert ist. Würden zum Beispiel in der Schweiz Bonds mit negativem Coupon herausgegeben, müssten Investoren dem Emittenten einen Zins zahlen. Doch wie soll dieses Geld eingezogen werden? Dafür gibt es kein Verfahren. Ähnliche Hindernisse stellen sich bei einer Hypothek mit negativem Zins, bei der die Bank dem Hauseigentümer Geld auszahlen müsste.

Und zweitens?
Negative Zinsen stellen den gesamte Kreditprozess auf den Kopf. Angenommen, ein Unternehmen begibt einen Bond mit negativer Rendite an Tausende von Investoren. Was für eine Bonität hat dann diese Anleihe? Und wie wird das Ausfallrisiko erfasst, zumal gewisse Anleger mit den Zinszahlungen in Verzug geraten könnten? Das Kreditrating einer solchen Anleihe müsste sich deshalb aus der Summe der Kreditwürdigkeit aller Investoren zusammensetzen, womit die Investmentqualität wohl ähnlich wie bei einer Ramschanleihe wäre.

Was haben negative Zinsen für Folgen?
In einer Welt mit negativen Zinsen wird Bargeld zur hoch rentablen Anlage. Der frühere US-Notenbankchef Ben Bernanke hat dazu unlängst auf einen interessanten Sachverhalt hingewiesen. Demnach würde es sich für die Banken in Europa finanziell bereits mehr lohnen, Bargeld zu horten, als ihre Reserven bei der EZB zu einem Strafzins zu deponieren. Dennoch machen die Banken das nicht, weil sie offenbar nicht daran glauben, dass negative Zinsen ein permanenter Eingriff sind, oder sie einfach nicht verstehen. In der Frage, was negative Zinsen bedeuten, tappen wir also noch immer im Dunkeln – und damit ist das Risiko eines Unfalls enorm hoch.

Gerade im europäischen Bankensektor sorgen negative Zinsen für erhebliche Verunsicherung.
Die Aktien der Deutschen Bank notieren tiefer als in der Finanzkrise. Damals war die Angst gross, dass die Welt endet. Bedeutet der aktuelle Kurseinbruch damit, dass Europas grösste Bank vor dem Ende steht? Auch den Aktien von Credit Suisse (CSGN 14.6 -3.88%) geht es kaum besser. Instituten wie der Deutschen Bank machen aber nicht nur negative Zinsen zu schaffen. Der Konzern hat Mühe, sich an die regulatorischen Rahmenbedingungen anzupassen, und trägt grosse Risiken. Keine andere Bank hält mehr in Euro denominierte Finanzderivate auf ihrer Bilanz. Was geschieht mit diesen Papieren, wenn Grossbritannien der EU den Rücken kehrt oder Griechenland aus der Eurozone austritt?

Wie steht es denn um die Grossbanken in den USA? Auch dort haben Finanzaktien zum Teil deutlich an Boden verloren.
Seit der Finanzkrise ist die Konzentration im US-Bankensektor gestiegen. Die fünf grössten Institute halten zusammen heute mehr Vermögenswerte als je zuvor. Das Too-big-to-fail-Problem ist damit noch grösser geworden, und wir wissen nicht, wie wir es lösen können.

Die Regulatoren in den Vereinigten Staaten behaupten aber, dass sich die Stabilität des Finanzsystems wesentlich verbessert habe.
In unseren Büros lachen wir über einen Running Gag. Auf jede Frage zu einem systemrelevanten Finanzinstitut gibt es nur zwei Antworten. Man kann entweder sagen: «Ich verstehe es nicht, weil es zu kompliziert ist.» Oder man lügt. Das ist das Grundproblem. Niemand weiss, was alles auf der Bilanz einer Grossbank wie J.P. Morgan Chase liegt, wohl nicht mal Konzernchef Jamie Dimon. Diese Kolosse sind so komplex, dass es das Verständnis des menschlichen Gehirns übersteigt. Das macht mir derzeit noch in einem anderen Punkt Sorgen: Energie.

Warum?
Der Ölpreis ist enorm wichtig für die Finanzmärkte. Wenn er erneut absackt, dann bedeutet das noch mehr Zahlungsausfälle, Konkurse, Liquidationen und Abschreiber auf schlechten Energiekrediten – genau wie das mit den faulen Hypothekenpapieren in der Immobilienkrise der Fall war. Damals behaupteten die Banken zunächst auch, dass sie kaum Engagements im Subprime-Segment hätten. Bald stellte sich aber das Gegenteil heraus. Ein ähnliches Risiko besteht heute im Energiesektor, wo den Banken ein Abschreiber nach dem anderen droht.

Was könnte auf uns zukommen, wenn der Ölpreis erneut einbricht?
Das Beben wird zwar nicht so heftig sein wie in der Immobilienkrise. Dennoch wird es erhebliche Erschütterungen geben. Gemäss der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich umfasst das weltweite Volumen an Krediten und Anleihen im Energiesektor rund 3000 Mrd. $. Der Ölpreis muss dabei nicht einmal viel weiter fallen. Bereits wenn er wieder unter 35 $ sinkt, können viele Förderkonzerne ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen, womit es im Finanzsystem zu einem Kreditereignis kommt.

Zum Glück tendiert der Ölpreis inzwischen wieder deutlich fester.
Für eine dauerhafte Erholung braucht es jedoch zuerst eine rigorose Strukturbereinigung. Die Energiebranche muss ihr Verhalten grundlegend ändern und die Produktion massgeblich drosseln. Ich sehe aber weder Angst noch Panik an den Märkten. Investoren glauben, Investments im Energiesektor sind das grosse Los. Die Ansicht dominiert, dass wir das Tief durchschritten haben und sich der Ölpreis bis Ende nächstes Jahr auf 75 bis 80 $ erholt. Obschon Energiekonzerne bereits astronomische Summen verloren haben, strömen ihnen deshalb frische Mittel an Wallstreet nur so zu. Das ermutigt sie, weiterhin auf Hochtouren zu produzieren, womit das Überangebot zunimmt und die Gefahr wächst, dass der Preis zurück auf 30 $ oder sogar auf 25 $ fällt.

Gibt es denn keinen anderen Ausweg aus diesem Dilemma?
Retten kann uns nur ein Erstarken der Nachfrage, damit sich die übervollen Öllager abbauen. Im Klartext heisst das, es braucht starkes Wachstum in China. Das zeichnet sich jedoch nicht ab. Auch in Europa und in den USA deutet nichts auf einen Wachstumsschub hin.

Über schwaches Wachstum sorgt sich auch die US-Notenbank, wie sie am Mittwoch signalisiert hat. Was heisst das für die Pläne zur Normalisierung der Geldpolitik?
Das Federal Reserve wollte den Finanzmärkten mit der Zinserhöhung Mitte Dezember signalisieren, dass sich die Konjunkturlage aufhellt und wir zur Normalität zurückkehren können. Nach dem ersten Zinsschritt knickten Öl und Aktien jedoch ein, und der Goldpreis und Staatsanleihen zogen deutlich an. Eine solche Reaktion hat das Fed nicht beabsichtigt. Vor allem die kräftige Hausse von Gold (Gold 1278.41 1.01%) überrascht. Der Goldpreis hat exakt am Tag der Zinserhöhung gedreht, wobei er im ersten Quartal sogar die beste Performance seit dreissig Jahren verzeichnete.

Seit Ende Februar bewegt er sich aber mehr oder weniger seitwärts.
Skeptiker bezeichnen Gold als barbarisches Relikt, das seit 5000 Jahren noch nie eine Rendite erwirtschaftet hat. Das mag wohl stimmen. Wie Bargeld ist Gold in einer Welt mit negativen Zinsen jedoch ein feudal rentierendes Investment. Hinzu kommt, dass sich zum ersten Mal seit vier Jahren spekulatives Interesse an Gold zeigt. Im Futures-Handel und im Markt für ETF zum Beispiel lassen sich grosse Mittelzuflüsse beobachten. Gold hat deshalb noch viel Spielraum für Avancen.

Und wie geht es mit den Zinsen in den USA weiter?
Das Fed kann zwar vorschlagen, sie weiter zu erhöhen. Solange die Finanzmärkte einen Zinsschritt aber nicht absegnen, wird Notenbankchefin Janet Yellen nichts unternehmen. Dass die Märkte in der Geldpolitik eine Art Vetorecht haben, ist übrigens nicht neu, sondern schon seit Jahrzehnten so. 1994 hat das Fed erstmals ein Statement zu seinen Beschlüssen publiziert. Seither hat es die Zinsen noch nie erhöht, ohne dass die Märkte dies am Tag des Entscheids nicht zu mindestens 60% vorweggenommen haben.

Wann rechnen Sie also mit dem nächsten Zinsschritt?
Das Fed schlägt sehr vorsichtige Töne an. Es scheut sich offensichtlich davor, die Märkte abermals zu verärgern. Anfang Jahr war der Konsens, dass es dieses Jahr vier weitere Zinserhöhungen gibt. Jetzt ist es aber gut möglich, dass wir 2016 nur einen oder gar keinen Schritt sehen.

Die Börsen mögen das anscheinend. Amerikanische Aktien haben sogar das Rekordhoch vom Mai 2015 in Griffweite.
Wenn sich an den Märkten die Ansicht durchsetzt, dass sie am längeren Hebel sitzen, dann werden US-Aktien weiter in überbewertetes Terrain vorrücken, und es könnte sich sogar eine Blase bilden. Das ist bedenklich, denn fundamental sieht das Bild nicht gut aus. Wallstreet kann die Daten zwar so lange massieren, bis sich darin etwas Positives findet. Das ändert aber nichts daran, dass die Konzerngewinne im ersten Quartal erneut rückläufig waren und sich dieser Trend in den nächsten Quartalen fortsetzen wird. Auch hat die US-Wirtschaft nahezu stagniert, und die Inflationserwartungen sind tief. Ausser im Jobmarkt gibt es kaum Anzeichen für eine robuste Konjunkturentwicklung.

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