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13:40 Uhr - 26.07.2017

«Die Gefahr einer Korrektur ist beträchtlich»

Der renommierte Wallstreet-Augur Byron Wien warnt vor einem Kursrückschlag an der Börse. Der Marktstratege von Blackstone sagt aber auch, warum Investoren trotzdem einen kühlen Kopf bewahren sollten.

Das Unerwartete vorauszusehen, ist der Schlüssel zum Erfolg beim Investieren. Byron Wien hat sich genau das zum Markenzeichen gemacht. Zu Beginn jedes Jahres erstellt die lebende Wallstreet-Legende eine Liste mit zehn Prognosen, die Investoren überraschen werden. Angefangen hat er damit vor mehr als drei Jahrzehnten als Investmentstratege der Investmentbank Morgan Stanley (MS 47.61 1.93%), wodurch er im Lauf der Zeit zu einem der einflussreichsten Meinungsmachern an den globalen Finanzmärkten avanciert ist.

«Rund um die Welt kennt man mich für die zehn Überraschungen», sagt der 84-Jährige, der heute als Investmentstratege in Diensten des Private-Equity-Hauses Blackstone steht. «Die Leute mögen wohl, dass ich mich einem Risiko aussetze und am Jahresende dafür geradestehen muss.» Wie fällt also seine bisherige Bilanz für 2017 aus? Was könnte Anleger bis Ende Jahr noch überraschen? Und vor allem: Wo ortet der Börsenexperte die grössten Chancen und Risiken?

Herr Wien, an Wallstreet kennt Sie jeder für Ihre Liste mit den zehn Überraschungen. Was verblüfft Sie dieses Jahr denn selbst am meisten?
Bis jetzt liegt meine Trefferquote für 2017 etwa im Durchschnitt, was fünf bis sechs korrekten Voraussagen entspricht. Meine Liste zählt zwar Überraschungen auf. Für mich sind das aber eher marktrelevante Prognosen, denen ich im Gegensatz zum Konsens eine Chance von mehr als 50% zumesse. Wie ich letztlich abschneide, ist mir nicht so wichtig, denn ich will damit vor allem zum Denken anregen.

Wo lagen Sie richtig?
Ich habe gesagt, dass der US-Leitindex S&P 500 auf 2500 steigt. Gegenwärtig notiert er schon auf 2470, weshalb ich für diese Prognose optimistisch bin. Das Gleiche gilt für die Voraussage, dass der Ölpreis auf tieferem Niveau verharren wird, als es die meisten erwartet hatten.

Und was hat Sie nun überrascht?
Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Renditen am US-Bondmarkt sinken und der Dollar sich abschwächt. Da lag ich grundfalsch. Das Gleiche gilt für Donald Trump. Ich nahm zwar richtig an, dass er als Präsident viele seiner Extrempositionen aufweichen wird. Dass er in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit aber so wenig erreicht, hätte ich nicht gedacht. Trump verbringt viel zu viel Zeit auf Twitter (TWTR 19.97 -0.15%), und es ist ihm nicht einmal gelungen, die Gesundheitsreform seines Vorgängers Barack Obama zu revidieren.

Wie geht es mit Trumps Wirtschaftsagenda weiter? Hat sein Plan einer Steuerreform überhaupt noch eine Chance?
Wenn die Republikaner diesen Kernpunkt seiner Agenda nicht umsetzen können, droht ihnen bei den Zwischenwahlen im Herbst 2018 eine Schlappe. Trumps Steuerpaket wird deshalb durchkommen. Er verhält sich aber sehr eigenbrötlerisch und hat seine Partei nicht im Griff. Dank der republikanischen Mehrheit hätte er eigentlich die Kontrolle über den Kongress. Im Lager der Republikaner herrscht jedoch Anarchie, wie das Debakel mit der Demontage von Obamacare zeigt.

Ein kostengünstiger Ersatz von Obamacare hätte für die Steuersenkungen mitzahlen sollen. Was liegt jetzt noch drin?
Das US-Haushaltsdefizit beträgt rund 550 Mrd. $ pro Jahr. Gelingt Trump eine Steuerreform, dürfte es auf 1000 Mrd. $ zunehmen. Das ist aber kein Desaster. Amerikas jährliche Wirtschaftsleistung beläuft sich auf fast 20 000 Mrd. $. Ein Defizit von 5% ist damit nicht das Ende der Welt.

Die Märkte nehmen Trumps Unvermögen bisher recht locker. Wie lange noch?
Trump ist ein Glückspilz. Trotz seines dürftigen Leistungsausweises ist die Börse sogar gestiegen. Dass er bislang so glimpflich davonkommt, hat mit den Unternehmensgewinnen zu tun, die besser ausfallen als erwartet.

Wird das weiterhin gutgehen?
Unberechenbare Faktoren wie das Chaos im Weissen Haus, ein potenzieller Konflikt in Nordkorea oder die Gefahr eines Einmarsches von Russland im Baltikum sind zwar nicht zu unterschätzen. Dennoch ist der Grundton an den Märkten freundlich. Weniger gut ist die Stimmung hingegen unter den Verbrauchern. Die Wirtschaft schafft zwar neue Stellen. Das Lohnwachstum bleibt aber flach, und das Konsumentenvertrauen ist auf den tiefsten Stand seit neun Monaten gesunken.

Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Die Aktienkurse werden von den steigenden Konzerngewinnen getrieben. Corporate America unternimmt alles, um die Profitabilität zu verbessern. Zu einem gewissen Grad sind allerdings auch Finanzspielereien involviert, denn die Unternehmen nutzen die Mittel auf ihrer Bilanz primär zum Rückkauf eigener Aktien und für Dividendenausschüttungen.

Auffällig ist auch, dass es kaum Kursschwankungen gibt. Der Volatilitätsindex Vix notiert auf dem tiefsten Stand seit 1993.
Ich verschwende keine Minute daran, über Volatilität nachzudenken. Auch rate ich vehement davon ab, den Vix als Vorlaufindikator zu nutzen, denn er hat heute praktisch keine Aussagekraft mehr.

Weshalb sagt der Vix nichts mehr aus?
Das liegt am Computerhandel mit Algorithmen. Die meisten dieser Tradingprogramme basieren darauf, dass sich die Bewertungen von Finanzanlagen langfristig dem historischen Mittelwert annähern, was Kursschwankungen glättet. Die Volatilität ist deshalb ein schlechter Risikoindikator. Sie bildet lediglich Variationen in Preisen ab, während Risiko die Gefahr bedeutet, Geld zu verlieren.

Wo besteht demnach das grösste Risiko?
Zwei Dinge machen mir Sorgen: erstens die geringe Produktivität. Sie erlebte dank dem Internet in der Periode von 1995 bis 2005 einen kräftigen Schub. Seither gab es aber keine bedeutenden Innovationen mehr. Der nächste Umbruch wird mit fahrerlosen Autos und Lastwagen kommen. Davon sind wir aber noch mehrere Jahre entfernt, weshalb die Produktivität gering bleiben wird.

Und zweitens?
Die Liquiditätsschwemme der Zentralbanken war bisher der wichtigste Antriebsmotor der Finanzmärkte. In den USA strafft das Federal Reserve jetzt aber die Zügel und wird wohl im September mit dem Abbau seiner Bilanz beginnen. Auch die Europäische Zentralbank signalisiert eine weniger expansive Geldpolitik. Wir stehen damit vor dem Wechsel zu einem restriktiveren Regime, was für die Märkte zur Belastung wird.

Es zeigt aber auch, dass die Notenbanken der Wirtschaft wieder mehr zutrauen.
In den USA hat das Fed ein Mandat für Preisstabilität und Vollbeschäftigung. Es besteht demnach kein Grund, die Geldpolitik zu straffen, denn die Inflation ist tief, und der Arbeitsmarkt brummt. Das Problem ist aber die Bilanz. Sie nahm in den 95 Jahren seit der Gründung des Fed bis zur Finanzkrise zunächst allmählich auf 1000 Mrd. $ zu. Doch dann ist sie fast über Nacht auf 4500 Mrd. $ aufgebläht worden. Des Fed fühlt sich deshalb schuldig, zu viel Geld gedruckt zu haben.

Was heisst das für die Märkte?
Um die Bilanz abzubauen, lässt das Fed die Wertschriften in seinem Portfolio auslaufen und nimmt so Geld aus dem Finanzsystem. Die Gefahr einer Korrektur an der Börse ist dadurch beträchtlich.

Weswegen?
Seit 2009 verläuft die Performance des S&P 500 praktisch deckungsgleich mit der wachsenden Bilanz der US-Notenbank. Zuletzt blieb die Bilanz jedoch praktisch konstant, während Aktien weiter aufwärtsjagten. Ich fürchte deshalb, dass es zu einem Wile-E.-Coyote-Phänomen kommen könnte. Das ist der Moment, in dem die Cartoonfigur über die Klippe rast und noch eine ganze Weile nicht realisiert, dass sie längst keinen Boden mehr unter den Füssen hat. Ähnlich könnten die Kurse an der Börse 10% fallen, wenn Investoren plötzlich realisieren, dass dem Markt das Fundament fehlt, weil das Federal Reserve beginnt, Geld aus dem System abzuziehen.

Wäre die Hausse damit zu Ende?
Obschon das Risiko eines Rückschlags besteht, rechne ich nicht mit einem Bärenmarkt, in dem die Kurse mehr als 20%  einbrechen. Dies, weil es dafür zu einer Rezession kommen müsste, wofür ich bis mindestens 2019 keinen Grund sehe.

Warum droht vor 2019 keine Rezession?
Eine Rezession ist in der Regel das Resultat von Übertreibungen: sei das eine abrupte Straffung der Geldpolitik, ein exzessiver Lageraufbau der Unternehmen, ein Anstieg der Arbeitslosenquote oder ein Überschiessen der Inflation. Derzeit ist nichts dergleichen der Fall.

Was raten Sie also Investoren?
Wenn es zur Korrektur kommt, darf man sich nicht von Emotionen überwältigen lassen. Es wird sich lohnen, den drohenden Sturm auszusitzen, denn die Fundamentaldaten bleiben solid. Die Konzerngewinne im S&P 500 wurden für 2017 auf 125 $ geschätzt. Es werden aber über 130 $ sein und in zwei Jahren wohl rund 150 $. Mittelfristig sind die Bewertungen daher attraktiv, auch wenn US-Aktien aktuell etwas teuer erscheinen.

Wo sehen Sie noch bessere Aussichten?
Ich mag Aktien aus Amerika, aber noch lieber aus Europa und am liebsten aus Japan. Die japanische Wirtschaft wächst stattlich, die Unternehmensgewinne sind ansprechend und die Bewertungen günstiger als in den USA und in Europa. Entscheidend ist jedoch, dass bislang praktisch niemand davon Kenntnis nimmt. Wenn ich mir die Portfolios unserer Kunden ansehe, sind alle in Amerika und Europa engagiert. Japanische Aktien hingegen hält kaum jemand. Das eröffnet Chancen.

Und wie sieht es nach Sektoren aus?
Mir gefallen Unternehmen mit unlimitiertem Gewinnpotenzial. In den USA sind das Konzerne aus den Sektoren IT und Biotechnologie. Facebook (FB 165.28 -0.43%), Amazon (AMZN 1039.87 0.09%), Netflix (NFLX 186.97 -0.5%), Microsoft (MSFT 74.19 0.8%) und Apple (AAPL 152.74 0.43%) läuft es nicht zufällig so gut. Sie dominieren ihre Branche und erwirtschaften hohe Kapitalrenditen. Amazon etwa hat sich ein ausgezeichnetes Geschäft aufgebaut. Der Konzern beschäftigt rund 340 000 Angestellte und wird an der Börse zu 500 Mrd. $ bewertet. Im Gegensatz dazu zählt Wal-Mart (WMT 78.52 2.12%) rund 2,3 Mio. Mitarbeitende mit einer Marktkapitalisierung von nur 230 Mrd. $.

Wovon würden Sie die Finger lassen?
Ich erwarte, dass die Rendite auf zehnjährige US-Schatzpapiere nächstes Jahr über 3% steigt. Daher meide ich Titel aus den Bereichen Telecom und Versorger, die anfällig für steigende Zinsen sind.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie arbeiten seit über fünfzig Jahren an Wallstreet. Was ist die wichtigste Lektion Ihrer Karriere?
Als man mir meine erste Stelle als Investmentstratege anbot, war ich zunächst unsicher, ob ich dafür geeignet bin. Alle rieten mir davon ab, und ich musste eine wesentliche Lohnkürzung in Kauf nehmen. Ich wollte aber schon immer einen Job, in dem ich schreiben und an Orte reisen konnte, die ich noch nie gesehen hatte. Ich sagte schliesslich zu und wurde glücklicher als je zuvor. Mein Rat ist daher, im Leben Risiken einzugehen. Man hat zwar nicht immer Erfolg. Ohne etwas zu wagen, kommt man aber nie an sein Ziel.

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