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15:51 Uhr - 20.10.2015

«Chancen in kleinen und mittleren Unternehmen»

Anja Hochberg, CIO Schweiz und Europa von Credit Suisse, erläutert im Interview mit «Finanz und Wirtschaft», warum sie auf Aktien setzt.

Frau Hochberg, die hiesige Wirtschaft scheint das Ende des Euromindestkurses gut zu verkraften. Lässt sich die massive Aufwertung so einfach wegstecken, oder kommt das Schlimmste noch?
Die Schweizer Wirtschaft und insbesondere die Industrie haben sich den Herausforderungen eines starken Frankens unter enormen Anstrengungen gestellt. Gleichwohl zeigen auch die aktuellen Wirtschaftsdaten, dass das Exportwachstum nach wie vor rückläufig ist oder stagniert und dass wir es mehrheitlich dem robusten privaten Konsum, dem Immobilienmarkt und dem staatlichen Sektor zu verdanken haben, dass die Schweizer Wirtschaft mit einem leichten Wachstumsplus aus dem Jahr gehen dürfte.

Um das Wachstum in Europa zu stützen, könnte die EZB am Donnerstag beschliessen, die Anleihenkäufe auszuweiten.
Die Europäische Zentralbank wird – insbesondere im Sinne eines schwächeren Euros – versuchen, geldpolitisch einen bestimmten Abstand zu den USA herauszuarbeiten. Mit der nun verschobenen US-Zinserhöhung und bei nach wie vor tiefen Teuerungsraten wird die EZB «nachliefern» müssen und die Geldpolitik weiter lockern. Das könnte sie bereits im Oktober andeuten. Im Dezember, mit den neuen Konjunktur- und Inflationsprognosen, kann die Kommunikation aber klarer ausfallen – und vielleicht gibt es dann mehr Informationen zur US-Zinserhöhung.

Die EZB fürchtet sich vor Deflation. Wann verschwindet der Energiepreisverfall aus der Statistik, und wie wirkt dieser Basiseffekt auf den Konsumentenpreisindex?
Wir prognostizieren keine Deflation. Die tiefen Energiepreise dürften sich in den nächsten zwölf Monaten aus dem Index herausarbeiten. Die Kernrate, also die Teuerung ohne diese volatile Komponente, fällt bereits höher aus. Hinzugefügt werden muss aber, dass Inflationserwartungen sich mehrheitlich aus der Gesamtrate inklusive Energie bilden. Möchte die EZB die Inflationserwartungen anheben, reicht eine erhöhte Kernrate nicht aus.

Treibt die EZB mit dem Anleihenkaufprogramm – ähnlich wie das Fed in den USA – die Aktienmärkte nach oben?
Zentralbankenliquidität hat auch in den vergangenen 30 bis 35 Jahren am Anfang eines Aktienmarktzyklus die Börsen durch den «Hoffnungseffekt» gestützt. In einer zweiten Phase – in der sind wir jetzt – müssen auch die Gewinne anziehen.

Sollten Anleger europäische Aktien kaufen, und welche Sektoren sind zu bevorzugen?
Ja, wir empfehlen Aktien aus der Eurozone und der Schweiz. Neben dem konjunkturellen Erholungspotenzial sprechen für die Eurozone die stützende Geldpolitik, ein schwächerer Euro, neutrale Bewertungen und auch das wieder zunehmende Investoreninteresse und damit der Kapitalzufluss. Wir favorisieren zyklische Konsumgüter, Gesundheitsdienstleister und IT.

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Der Schweizer Aktienmarkt erholte sich schnell vom Frankenschock. Welche Sektoren und Einzeltitel empfehlen Sie?
Wir setzen nach wie vor auf den Schweizer Aktienmarkt und sehen insbesondere in kleineren und mittleren Unternehmen interessante Chancen. Sie verfügen über einen hohen operativen Hebel – Umsatzsteigerungen schlagen also überproportional auf den Gewinn durch. Sie sind günstig bewertet und profitieren von der Stabilisierung des Franken-Euro-Kurses.

US-Aktien sind teuer bewertet, zumindest gemäss dem zyklisch adjustierten Kurs-Gewinn-Verhältnis nach Shiller. Auch die Margen der Unternehmen sind hoch.
Bewertungen sind an Extrempunkten ein wesentlicher Impuls für die Finanzmärkte. Die Korrektur im Spätsommer und Frühherbst hat selbst das Shiller-KGV sichtbar reduziert, das nun als fast neutral bezeichnet werden kann. In unserem Anlageprozess betrachten wir darüber hinaus zyklische, technische und Stimmungsfaktoren sowie die Risikoneigung. Auch quantitative Modelle helfen uns, Signale zu identifizieren, die man sonst vielleicht übersieht. Die Aggregation und Gewichtung der Signale zeigt ein etwas positiveres Bild als noch vor zwei Monaten.

Wie hoch ist Ihre Aktienquote, und wie teilen Sie das Aktienportefeuille auf?
Im Moment sind wir neutral gewichtet, sehen aber neben der leicht verbesserten Bewertung eine wieder etwas erhöhte Bereitschaft der Investoren, Risiko einzugehen. Hinzu kommt eine gewisse saisonale Attraktivität. Ob das reicht, unsere Aktienquote von derzeit rund 42% für ein ausgewogenes Portefeuille spürbar anzuheben, werden wir in unserem globalen Anlage-Komitee in Kürze entscheiden. Regional setzen wir Akzente in der Eurozone und der Schweiz. In den USA bleiben wir neutral gewichtet.

Populär waren Aktien mit hoher Dividende als Anleihenersatz, dann Titel von Exporteuren für Schwellenländer und später Unternehmen mit viel Cash, die womöglich zum Übernahmeziel werden. Und jetzt?
Das Thema «hohe liquide Mittel» ist nach wie vor aktuell, da die Zinsen generell eher tief bleiben dürften. Neben den Themen Dividenden sowie Fusionen und Übernahmen gehören aber mittlerweile auch Spin-offs und Aktienrückkäufe selektiv dazu. Darüber hinaus identifizieren wir Potenzial bei der Erholung des Konsums in Europa und bei besagten mittleren und kleineren Unternehmen in der Schweiz.

Investoren blicken bange nach China. Dort meldete die Regierung am Montag für das dritte Quartal ein Wirtschaftswachstum von 6,9%. Kühlt sich China weiter ab?
Nein, es dürfte sich stabilisieren. Wesentlicher als bange auf schwache Indikatoren aus der Industrie zu schauen ist es aber, den privaten Konsum zu beobachten. Dort soll und wird das neue Wachstum stattfinden. Auch der Immobilienmarkt stabilisiert sich. Wir beobachten die 70 grössten Städte in China. Nach der Korrektur steigen bei rund 40% davon die Preise und die verkauften Volumen.

Wie stark wirkt China auf die anderen Schwellenländer?
Insgesamt können die Schwellenländer nicht mehr mit dem Wachstumsboom vor rund zehn Jahren mithalten. Neben strukturellen Themen wie vernachlässigten Reformen in einigen Regionen sind ein nachlassendes Kreditwachstum und die Rohstoffschwäche ursächlich. Der Tiefpunkt scheint aber erreicht zu sein.

Aktien aus den Emerging Markets sind günstig. Ist es Zeit einzusteigen?
Wir haben jüngst aufgrund der deutlichen Bewertungssignale und eines sich stabilisierenden technischen Trends trotz der Wachstumsschwäche Schwellenländer von «untergewichtet» auf «neutral» heraufgestuft. Die Region Europa, Naher Osten und Afrika hat bereits angezogen, auch dank der gestiegenen Energiepreise. Wir setzen aber auch Akzente in Asien, etwa mit China und Indien.

Droht nach wie vor die Gefahr von Zahlungsbilanzkrisen?
Ja, zum Glück findet mittlerweile eine gewisse Differenzierung statt. Schwellenländer mit einer hohen externen Verschuldung und finanziellen Abhängigkeit sind in Zeiten von zumindest marginal steigenden US-Zinsen eher zu meiden.

Sind Anleihen aus Schwellenländern interessant, in Lokalwährung oder in Dollar?
Wir bevorzugen nach wie vor Unternehmens- und Hochzinsanleihen aus den Industrieländern, die sich einen beachtlichen Zinsvorsprung und damit auch Puffer erarbeitet haben. Schwellenländeranleihen sind auf dem Weg dorthin, und die Verschiebung der US-Zinserhöhung wirkt sicherlich stützend. Regional würden wir hier eher auf Asien und die Region Europa, Naher Osten und Afrika setzen.

Was bedeutet das für die Zinsen und für Obligationäre?
Die Zinsen dürften insgesamt eher tief bleiben. Egal ob im Dezember oder im März, das Fed wird sie nur äussert moderat anheben, und in der Eurozone und der Schweiz bleiben wir auf expansivem Kurs. Die Kapitalmarktzinsen werden über die nächsten zwölf Monate bei etwas mehr Wachstum und Inflation vielleicht 0,5 bis 0,7 Prozentpunkte zulegen. Bei den aktuell tiefen Coupons reichen aber selbst diese kleinen Steigerungen, um negative Renditen zu erwirtschaften. Wir empfehlen noch eine gewisse Vorsicht, die Beimischung von höherverzinslichen Papieren und möglichst flexible Anlagestrategien.

Erwarten Sie an den Börsen ein Jahresend-Rally, und was wäre der Auslöser?
Die moderate globale Konjunkturerholung sowie die anhaltend tiefen Zinsen sprechen dafür, die Bewertungen zumindest nicht dagegen. Technisch ist ein Ausbruch möglich. Jetzt kommt es darauf an, ob der tief gefallene Risikoappetit wieder zunehmen kann, ob also insbesondere institutionelle Anleger sich nach einem schwierigen Jahr nochmals stark positionieren werden. Auf zwölf Monate sehen wir durchaus Aktienmarktpotenzial inklusive Dividenden von 7 bis 9%.

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