Wichtige Oppositionspolitiker sind von den Wahlen am Sonntag ausgeschlossen. Der grösste Herausforderer von Präsident Maduro ist ein ehemaliger Chavist.
Die Avenida Bolívar im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas leuchtet an diesem Donnerstagnachmittag in Rot – der Farbe des Chavismus. Busse haben Regierungsanhänger aus allen Teilen des Landes auf die Wahlveranstaltung von Präsident Nicolás Maduro gekarrt. Auf zwei Kilometern Länge sind Bühnen aufgebaut, aus den Boxen schallt eingängiger Pop mit revolutionärer Botschaft: «Alle mit Maduro, das ist die Zukunft.» Einige Zehntausend Menschen sind da, die meisten in Maduro- oder Hugo-Chávez-Shirts oder Uniformen staatlicher Behörden.
«Es sind weniger Leute da als früher», sagt Escarlet Madrid. Die Mittvierzigerin arbeitet als Näherin und ist überzeugte Regierungsanhängerin. Früher unter Chávez seien die Avenida und selbst die Seitenstrassen brechend voll gewesen. «Die Wirtschaftslage hat sich verschlechtert, es wird immer schwieriger, Lebensmittel zu besorgen, die Preise steigen und steigen.» Gemäss offiziellen Schätzungen beträgt die Jahresteuerung rund 9000%. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für 2018 einen Preisauftrieb von 14‘000%. Immerhin gebe es die staatlichen Sozialprogramme. Für 27’500 Bolívares – zum offiziellen Dollar-Kurs sind das rund 40 Cent, zum inoffiziellen sogar nur 3 Cent – gibt es die sogenannten Cajas Clap, Kartons mit Grundnahrungsmitteln, die in der Regel von Mitgliedern der Regierungspartei PSUV verteilt werden. Nach Schätzungen beziehen mindestens 30% der Venezolaner die Cajas Clap. Escarlet ist gezwungen, sich privat mit Näharbeiten etwas Geld dazu zu verdienen. Schuld an der Misere habe aber die Oberschicht, die die Produktion boykottiere und künstlich für Lebensmittelknappheit sorge.
Zerstrittene Opposition
Dass sie Maduro ihre Stimme geben wird, steht für sie ausser Frage. Er sei zwar nicht wie Chávez, aber eben sein Erbe. Denn vor Chávez ging es ihnen noch schlechter als heute: «Früher hatten wir weder eine Stimme, noch wurden wir gehört», sagt sie. Gegen vier Uhr erscheint dann endlich Maduro auf der Rednerbühne, in Begleitung von Diego Armando Maradona. In einer kurzen Ansprache verspricht Maduro «mit eiserner Hand» gegen Korruption und die «kriminelle Mafia der Schwarzmarkthändler» vorzugehen, die für die Instabilität des Landes verantwortlich sind. Dann trotten die Leute nach Hause oder Richtung der Busse.
In anderen Teilen der Stadt ist von Wahlkampf wenig zu spüren. In Altamira, wo die obere Mittelschicht zuhause ist, warten vor den Banken Rentner auf die Auszahlung ihrer Pension. Geschäftsleute eilen über die Strasse, Graffitis wünschen Maduro zum Teufel. Einzig die Wahlplakate künden vom bevorstehenden Urnengang. Hier, im Zentrum der Proteste des vergangenen Jahres, ist es auffällig ruhig.
«Das Land ist nicht mehr dasselbe wie vor Jahresfrist», sagt Michael Langer vom Instituto Latinoamericano de Investigaciones Sociales (ILDIS) der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, die in Altamira ihr Büro hat. Nach der Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung, mit deren Einberufung das Parlament entmachtet wurde, sei alles zusammengebrochen.
Die Opposition hat nun zum Boykott der Wahlen aufgerufen. «Es sind betrügerische Wahlen seit dem Tag, an dem sie einberufen wurden», sagt Nicmer Evans, Politikwissenschaftler und früherer Chávez-Anhänger, heute entschiedener Gegner der Regierung. Wichtigen Oppositionspolitikern wie Leopoldo López oder Henrique Capriles wurde die Wahlteilnahme untersagt. Die Wahlbehörden werden von der Regierung kontrolliert.
Allerdings gibt es auf Seiten der Opposition keinen Konsens. Henri Falcón erklärte im Februar seine Kandidatur. Der Ex-Gouverneur des Bundesstaates Lara war früher Chavist, schloss sich dann der Opposition an und versucht, enttäuschte Anhänger beider Pole anzusprechen. Beraten vom früheren Chefökonomen der Bank of America (BAC 30.64 -0.55%) hat Falcón die Dollarisierung der Wirtschaft ins Spiel gebracht, um die Hyperinflation zu beenden. «Im Gegensatz zur restlichen Opposition hat er konkrete Vorschläge», sagt eine investigative Journalistin, die unter dem Pseudonym Alejandra Meza für ein oppositionelles Onlinemedium arbeitet. Gegner wiederum werfen Falcón vor, aus dem Drehbuch der Opposition ausgeschert zu sein und einen Wahlprozess zu legitimieren, den er nicht gewinnen könne. Und dann ist da noch Javier Bertucci. Der evangelische Pastor und Geschäftsmann, dessen Name in den Panama Papers auftaucht, war bisher ein unbeschriebenes Blatt in der Politik. Ohne Partei und mit biblischer Botschaft versucht er sich, von Regierung und Opposition abzusetzen. «Es ist ihm gelungen, Interesse zu wecken», erkennt Langer an. Evans dagegen vermutet einen Plan der Regierung. Bertucci nehme Falcón Stimmen weg, und das helfe Maduro.
Anhaltende Versorgungskrise
Der aber könnte trotz Hyperinflation, Lebensmittel- und Medikamenteknappheit und Massenexodus wiedergewählt werden. «Die Leute sind mit dem Überleben beschäftigt», sagt Meza. Auch wenn die Versorgungskrise nicht mehr so schlimm sei wie vor einem Jahr. «Die Warteschlangen sind nur verschwunden, weil sich fast niemand die Produkte leisten kann». Der Mindestlohn, gerade zum wiederholten Male erhöht, liegt bei knapp 2,5 Mio. Bolívares. Dafür bekommt man einen Karton Eier – oder einen Tanklaster Benzin.
Angesichts solch surrealer Zustände sollte Falcón eine reelle Chance haben, würde man meinen. Die Umfragen variieren extrem und haben wenig Prognosekraft. «Alles hängt von der Wahlbeteiligung ab», sagt Langer. Das grösste Problem für die Opposition sei nicht die Enthaltung sondern die Spaltung, sagt Luis Vicente León, Präsident des Forschungsinstituts Datanálisis. «Du kannst boykottieren oder massiv wählen gehen, sodass es für die Regierung schwierig wird, die Mehrheit zu verstecken». Doch bei einer Spaltung gelingt weder das eine noch das andere. Aber Maduros grösste Sorge sei nicht die Opposition, glaubt León, sondern eine mögliche Implosion des Chavismus, ein Auseinanderbrechen von zivilem und militärischem Flügel. «Aber derzeit ist ein solches Szenario nicht sehr wahrscheinlich. Maduro wird gewinnen und es wird härtere Sanktionen geben.»
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