Energiepreisschocks haben eine internationale Umverteilung des Wohlstands von Nationen zur Folge. Das ist auch diesmal der Fall. Vor allem Schwellenländer sind betroffen.
Während sich die Öffentlichkeit vor allem über die Auswirkungen der rekordhohen Inflation Sorgen macht, hat die Energiekrise einen weiteren wichtigen, wenn auch weniger beachteten Effekt. Die globalen Ungleichgewichte zwischen den Staaten nehmen wieder zu.
In der Vergangenheit waren solche Phasen stets mit grösseren weltwirtschaftlichen Risiken verbunden.
Erstmals seit dem Krisenjahr 2008 fährt Südkorea wieder ein Aussenhandelsdefizit ein. In Japan hat es sich in den vergangenen Monaten deutlich vergrössert. Und die Eurozone, die seit rund zehn Jahren aus dem Währungsraum insgesamt mehr exportiert als einführt, verzeichnet einen Importüberschuss, der seinesgleichen sucht. Im April erreichte die Handelsbilanz mit –33 Mrd. € das grösste Loch seit der Einführung des Euros. Im Juli belief es sich auf –25 Mrd. €.
Bei den Rohstoffexporteuren spielt sich das Gegenteil ab. Australien verzeichnete im Juni den grössten Handelsüberschuss der Geschichte. Mit einem Plus von 18 Mrd. austr. $ wurden selbst die optimistischsten Vorhersagen geschlagen. Die Exporte nahmen im Vormonatsvergleich 5% zu, auf ein Rekordvolumen von 59 Mrd. austr. $. Damit fällt der Aussenhandelsüberschuss im ersten Halbjahr ein Drittel höher aus als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Das hinterlässt bereits Spuren in den Leistungsbilanzen. Sie fassen ausser dem Aussenhandelssaldo auch die Finanzflüsse mit dem Ausland zusammen und liefern ein umfassenderes Bild der Aussenwirtschaftsposition.
«Weiten sich weltweit die Abstände zwischen den Leistungsbilanzsalden aus, entspricht das einer internationalen Vermögensumverteilung», erläutert Heiner Mikosch von der Konjunkturforschungsstelle Kof der ETH Zürich. Die Umverteilung «verläuft von den Ländern, die netto Energie und Rohstoffe importieren und mit diesem Input produzieren, hin zu denjenigen, die netto Energie und Rohstoffe exportieren».
Tatsächlich fallen die Effekte in den Industrieländern gegensätzlich aus. Kanada, Australien sowie andere Nettoexporteure, die vom Preisboom ihrer Rohwaren profitieren, erzielen wachsende Überschüsse in der Leistungsbilanz. Grossbritannien erlebt dagegen einen Einbruch: Das Defizit beläuft sich dieses Jahr auf mehr als 8% des BIP, schätzen die Konjunkturbeobachter der Bank Citi.
Anderswo verringern sich allerdings die Extreme. Im Euroraum schrumpft der Positivsaldo. Dieses Jahr dürfte er nur noch 1,3% des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausmachen. Deutschlands Rekordüberschuss, der seit Jahren international in der Kritik steht, wird kleiner. Dass das vor allem den hohen Energiekosten zuzuschreiben ist, trübt die Freude über den Abbau. «Deutschland ist als Nettoimporteuer von Energie ärmer geworden», schreibt Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank (CBK 7.04 +4.61%).
In Japan verringert sich der Saldo, der vor wenigen Jahren noch mehr als 3% des BIP ausmachte, fast auf null. Und selbst die USA erleben eine leichte Entspannung an der Aussenwirtschaftsfront: Citi schätzt, dass sich das chronisch hohe Defizit in der Leistungsbilanz verringert, auf 3% des BIP und darunter. Seit 2010 exportieren die USA mehr Mineralölerzeugnisse, als sie importieren. Der Energiepreisschock stärkt das Land aussenwirtschaftlich.
Die Schweiz wiederum schlägt sich im internationalen Vergleich überdurchschnittlich. An ihrem hohen Leistungsbilanzüberschuss dürfte sich wenig ändern.
Entscheidend ist, ob es Ländern gelingt, die höheren Importpreise weiterzureichen. Können sie die Preise ihrer Ausfuhren entsprechend hochfahren, bleiben sie realwirtschaftlich wenig betroffen. Mikosch traut dies der Schweiz zu. Sie habe sich als Folge der langjährigen Frankenaufwertung auf Nischenprodukte mit Markt- und Preissetzungsmacht spezialisiert. Hingegen habe der langjährig schwache Euro Deutschlands Exportstruktur anfälliger gemacht. Ein grösserer Teil der Exporte seien inzwischen Produkte für den Massenmarkt, beispielsweise in China, wo sie mit anderen Anbietern konkurrieren. Die hohen Kosten können nicht immer an die Abnehmer weitergereicht werden. Die Aussenwirtschaftssituation verschlechtert sich.
In den Industrieländern verringern sich die Leistungsbilanzungleichgewichte also teilweise. In den Schwellen- und Entwicklungsländern nimmt das aussenwirtschaftliche Risiko indes zu. Betroffen sind von Energieimporten abhängige Länder. Indien zählt zu den prominentesten Opfern. Das Leistungsbilanzdefizit wird dieses Jahr gemessen am BIP dreimal so hoch ausfallen wie 2021. Als Nettoimporteur von Öl und Gas ist auch China betroffen.
Hohe Energiepreise verschärfen vielerorts die schwierige Situation noch, die angesichts des hohen Dollars und der steigenden Zinsen entstanden ist. Es wird schwieriger und kostspieliger für die Länder, sich auf den internationalen Märkten zu refinanzieren. Die aktuelle Konstellation verschiedener negativer Faktoren für die Schwellenländer gleiche einem Perfect Storm, schreibt Klaus-Jürgen Gern vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW).
Seit diesem Jahr ziehen ausländische Anleger in grossem Umfang Kapital aus China und anderen Schwellenländern ab. In den vorangegangenen Jahren war massiv Kapital dorthin geflossen. Gemäss dem Institute for International Finance (IIF) hat sich der Verkauf von Anleihen auch im Sommer fortgesetzt.
Russland als Verantwortlicher für den weltweiten Energiepreisschock fährt dagegen einen wachsenden Überschuss ein. Der Leistungsbilanzsaldo wird auf rund 10% des BIP geschätzt, mehr als doppelt so viel wie in Zeiten vor der Coronapandemie. Die Einnahmen aus dem Energieexport steigen dank der hohen Rohstoffpreise und weil das Volumen trotz der Sanktionen des Westens erstaunlich hoch bleibt.
Seit den ersten Ölpreisschocks in den Siebzigerjahren investierten die Erdölförderstaaten ihre enormen Exporteinnahmen in den Folgejahren weltweit. Diese sogenannten Petrodollar wurden zum Kauf von Luxusimmobilien und -hotels im Ausland oder für den Einstieg in Konzerne wie Daimler genutzt. Die USA profitierten zudem, weil Investoren aus den Golfstaaten in grossem Stil US-Staatsanleihen erwarben und Amerikas Staatsdefizit mitfinanzierten.
Steht ein vergleichbarer Investitionsschub erneut an? Tatsächlich sind im Juni die Fremdwährungsreserven der saudi-arabischen Zentralbank gestiegen. Die Munition für den Staatsfonds des Königreichs nimmt also zu. Der Fonds werde in den kommenden Monaten weltweit aktiver werden, um die Einkünfte des Landes anzulegen, prophezeit Alex Etra, Makroökonom beim US-Datenanbieter Exante.
Die Extraeinkünfte sind beachtlich. Dennoch bleiben Zweifel, wie gross der Petrodollarsegen tatsächlich ausfallen wird. Ökonomen argumentieren, dass die Ölpreishausse nicht lange anhalten werde. Anders als in der Vergangenheit sei sie nicht durch eine stabile, kräftige Nachfrage getrieben, sondern sei die Folge von Angebotsknappheit. Der Kaufkraftverlust werde das Wirtschaftswachstum bremsen und damit auch die Nachfrage nach Energie. Daraufhin sollten die Notierungen sinken – und auch die Exporteinnahmen der Ölförderstaaten.
Am Montag hat die Opec beschlossen, die Förderung zu kürzen, um den Erdölpreis zu stützen. Der überraschende Entscheid unterstreicht, dass die Prognosen, die auf ein baldiges Ende der Preishausse setzen, extrem unsicher sind.
Ausserdem wird der Erlös nicht nur im Ausland investiert. Bei der letzten Ölpreishausse 2002 bis 2005 gaben die Förderstaaten 52% der Öleinkünfte von damals 352 Mrd. $ für zusätzliche Importe aus. Hier dürften auch die heimischen Investitionsprojekte eine Rolle gespielt haben, mit denen der Strukturwandel zu einer Wirtschaft, die weniger auf fossile Energieträger angewiesen ist, realisiert werden soll. Dieses Ziel hat auch heute noch wirtschaftspolitische Priorität.
Aber die Petrodollar könnten diesmal auch aus einem anderen Land fliessen, etwa aus den USA. Immobilienhändler berichten, dass dank des starken Dollars das Kaufinteresse amerikanischer Kunden an Immobilien in Europa spürbar zugenommen hat. Von Paris bis an Portugals Atlantikküste werden die Objekte bereits teurer.
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