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16:10 Uhr - 24.08.2017

«Deutschland wäre nur noch Zahlmeister»

Hans-Werner Sinn, vormaliger Präsident des Ifo-Instituts, fordert eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik. Sonst sei eine politische Union unmöglich.

Mit der Wahl von Emmanuel Macron hat sich in der Europafrage eine neue Dynamik breitgemacht. Hans-Werner Sinn begrüsst den europäischen Geist des neuen französischen Präsidenten, ist seinen Plänen gegenüber aber trotzdem skeptisch. Die von Macron angestrebte Fiskalunion müsse gleichzeitig mit einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik eingeführt werden, fordert Sinn. Und dagegen habe sich Frankreich immer gewehrt.

Herr Sinn, die Konjunktur in der Eurozone erholt sich. Ist das Schlimmste vorbei?
Sicherlich belebt sich auch im Euroraum die Konjunktur. Das liegt daran, dass sich viele Länder grosse Schlucke aus der Schuldenpulle genehmigt haben – jenseits der vereinbarten Grenzen. Damit kann man den Staatssektor und nachgelagerte Binnensektoren aufblähen, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen.

Was bedeutet das für den Privatsektor?
Es schadet dem verarbeitenden Gewerbe, weil so ein künstlicher Lohnimpuls erzeugt wird. Heute liegt die Industrieproduktion in den südlichen Euroländern weit unter dem Vorkrisenniveau von 2007. Selbst in Frankreich ist die Produktion noch 12% darunter, in Italien 21%, in Griechenland 21% und in Spanien 23% – und das, obwohl mittlerweile nahezu zehn Jahre verstrichen sind. Ich sehe keine entscheidende Stärkung des verarbeitenden Gewerbes, die eine Erholung einer Volkswirtschaft signalisieren würde.

Was muss passieren, damit man die Eurozone wirklich wetterfest bekommt?
Man muss sie flexibler gestalten und zurückkehren zu marktwirtschaftlichen Prinzipien. Dabei sollte das Haftungsprinzip an erster Stelle stehen. Wenn Investoren einem Land Geld geben, das es nie zurückzahlen kann, dann müssen diese Investoren selbst dafür geradestehen, indem sie einen Schuldenschnitt akzeptieren. Wir brauchen eine Konkursordnung für Staaten und gleichzeitig auch Austrittsoptionen. Es macht keinen Sinn, einen Staat in Konkurs gehen zu lassen und Schuldenschnitte vorzunehmen, ohne dass die Volkswirtschaft anschliessend wettbewerbsfähig wird.

Wie kann ein Land durch den Austritt aus dem Euro wettbewerbsfähiger werden?
Um eine Volkswirtschaft wie Griechenland wieder wettbewerbsfähig zu machen, muss sie vorübergehend den Euro verlassen können. Mit einer eigenen, sich kräftig abwertenden Währung hat das Land die Chance, international wettbewerbsfähig zu werden – mit der Option, dass es nach der Genesung in den Euroraum zurückkehren kann. Diese Schäuble’sche Idee von 2015 aufzugreifen, dient der Eurozone mehr, als diese Länder endlos zu finanzieren und damit eine destabilisierende Transferunion in Kauf zu nehmen.

Wie gross ist das Risiko weiterer Krisen?
Die Krisengefährdung liegt im politischen Bereich. Das Ökonomische ist unterschwellig. Spätestens im kommenden Jahr stehen in Italien Wahlen an. Die Mehrheit der Bevölkerung will Umfragen zufolge die Währungsunion verlassen – das gilt auch für die meisten Parteien. Zu halten wäre das grosse Italien dann nur mit sehr hohen Transfers, die jedoch innerhalb der Eurozone anders als im Fall Griechenland kaum zu verkraften wären.

Gibt es noch andere Risiken?
Ein weiteres grosses politisches Risiko ist das Referendum in Katalonien. Die Provinz strebt die Unabhängigkeit an und will im Herbst gegen das entschiedene Nein der spanischen Zentralregierung darüber abstimmen. Auch hier sind es wirtschaftliche Verhältnisse, die für Unfrieden sorgen. Die Katalanen zahlen Transfers an den wirtschaftlich schwachen Süden des Landes. Sie empfinden dies als sehr hohe Belastung, zumal auch sie die letzte Krise noch spüren.

Kommt es zu weiteren EU-Austritten?
Ich glaube, nein. Grossbritannien ist ein Sonderfall. Ich halte es für notwendig, dass die europäische Integration voranschreitet. Aber jetzt geht es darum, ob unter den restlichen EU-Mitgliedern ein Europa der zwei Geschwindigkeiten angestrebt werden soll, wie dies neben der Kommission auch der französische Präsident  Macron anstrebt – scheinbar im engen Schulterschluss mit Kanzlerin Angela Merkel. EU-Ratspräsident Donald Tusk kritisiert ein solches Europa mit dem Hinweis, die zwei Geschwindigkeiten habe man bis 1989 schon einmal gehabt. Das brauche man nicht nochmals. Und in der Tat, so teilt man die EU.

Was verbirgt sich hinter dem Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Es geht darum, die Eurozone weiter zu entwickeln, auch wenn der Rest der EU nicht mitmachen will. Ähnlich wie die EU-Kommission hat Macron Vorschläge für die Weiterentwicklung des Euroraums vorgelegt. Dazu zählen ein gemeinsamer Finanzminister mit einem eigenen Haushalt, einer Steuerkompetenz und dem Recht, sich über Eurobonds zu verschulden. Ferner ein Euro-Parlament sowie eine europäische Einlagenversicherung und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung für die Euroländer. Der Oberbegriff ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Und Sie befürchten dadurch eine Teilung der EU?
Ja, ausgeschlossen sind die nördlichen EU-Staaten Schweden und Dänemark sowie Polen, Tschechien, Kroatien, Ungarn Rumänien und Bulgarien im Osten. Die zu erwartende Spaltung würde also mitten durch Mitteleuropa verlaufen – durch den alten Kulturkreis, dem auch Deutschland angehört. Wir hätten eine Art Lateinische Münzunion, in der Deutschland lediglich die Rolle eines Zahlmeisters einnehmen würde.

Wer profitiert?
Das wäre im Sinne Frankreichs und der hoch verschuldeten südlichen Euro-Partner, die wichtige Absatzmärkte französischer Produkte sind. Aber die Bundesrepublik hat andere Interessen und muss an ihre Nachbarn im Norden und vor allem im Osten denken, mit denen Deutschland auch kulturell sehr viel verbindet.

Die EU-Kommission versichert, dass ein Europa der zwei Geschwindigkeiten letztlich ohnehin in eine alle EU-Länder umfassende Eurozone münden werde.
Sämtliche Euroländer in die Eurozone integrieren zu können, ist ein frommer Wunsch Brüssels. Warum sollten sich diejenigen integrieren lassen, die aufgrund eigener relativ stabiler finanzieller Verhältnisse davon ausgehen müssen, dass sie dann zu Zahlungen an finanzschwache Euro-Partner verpflichtet werden? Ich musste jüngst bei Gesprächen in Schweden immer wieder feststellen, dass dieses Thema für die Schweden absolut tabu ist. Gleiches gilt für die Polen und die Ungarn, eingeschränkt auch für Tschechien und Dänemark. Um Zwang auf einzelne EU-Staaten ausüben zu können, fehlen der Kommission ohnehin die Möglichkeiten.

Damit würde aber auch eine politische Union in weite Ferne rücken.
Durchaus, denn die Vergemeinschaftung des Budgets, die für die Eurozone angedacht ist, wird auch den Weg zu einer politischen Union in Europa  erschweren. Die Väter eines geeinten Europas hatten zunächst denn auch ganz andere Prioritäten.

Welche denn?
Bereits 1954 waren sich die damaligen Europapolitiker einig, dass der erste Schritt zu einer politischen Union eine gemeinsame Armee sein müsse. Nach zwei verheerenden Weltkriegen ging es auf dem Weg zur politischen Einheit zunächst darum, zu einer Sicherheitspartnerschaft zu kommen, denn nur sie könne neue Kriege in Europa verhindern. Paraphiert wurden Verträge zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG.

Aber nicht abgeschlossen?
Nein, weil die französische Nationalversammlung die Ratifizierung verweigerte. Frankreich sah die Möglichkeiten der Atombewaffnung und wollte sein Militär nicht vergemeinschaften, und das gilt bis heute – daran hat kein französischer Präsident einen Zweifel gelassen. Man ist seinerzeit dann auf das Ziel einer wirtschaftlichen Verdichtung ausgewichen.

Wo liegt das Problem?
Wenn wir jetzt dem Wunsch Frankreichs entsprechen und einer gemeinsamen Fiskalpolitik zustimmen, bevor die Franzosen der Schaffung einer gemeinsamen Armee zugestimmt haben, wird es nicht zur gewünschten politischen Union kommen. Beides, die Vergemeinschaftung der Portemonnaies und die Vergemeinschaftung der Armeen, muss in einem Deal passieren. Hier liegt die Chance einer Einigung aller EU-Länder, die Macrons Eintrag in die Geschichtsbücher sichern würde. Da sehe ich derzeit aber keinen Ansatz bei ihm, und deshalb bin ich gegenüber seinen Ideen für Europa skeptisch. Eine Fiskalunion ohne politische Union würde den europäischen Einigungsweg für immer verbauen.

Die EU-Kommission setzt sehr auf Macron, zumal seine Pläne auch von der deutschen Kanzlerin nicht mehr grundsätzlich abgelehnt werden. Vollzieht sich in Berlin ein grundsätzlicher Wandel?
Nein, auf die Interpretation der Begriffe kommt es an: Die Vorstellungen, die Berlin von der Tätigkeit eines gemeinsamen Finanzministers hat, sind andere als die der Franzosen oder der Italiener. Den Deutschen zufolge soll der Finanzminister lediglich die Budgetkontrolle ausüben und verhindern, dass die nationalen Schulden aus dem Ruder laufen. Dagegen sehen Frankreich und andere Euroländer die hoheitlichen Befugnisse eines Finanzministers in einer gemeinsamen Verschuldung und der Steuerkompetenz.

Könnte Deutschland solche Befugnisse ohne weiteres abgeben?
Nein, das Budgetrecht ist ein unveräusserliches Recht des deutschen Bundestages. Davor steht die Verfassung, die in diesem Punkt auch der Bundestag nicht ändern kann – selbst bei 100%iger Zustimmung seiner Abgeordneten. Es bedürfte eines Volksentscheids, der in der Verfassung aber nicht vorgesehen ist und letztlich nur über eine Neugründung der Bundesrepublik zu erreichen wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bundesregierung dies wagen wird. Es sei denn, es gibt ungeahnte Fortschritte bei der Sicherheitspartnerschaft.

Wie sind die Streicheleinheiten zu werten, die Frau Merkel derzeit Herrn Macron verabreicht?
Man muss den europäischen Geist, von dem Macron beseelt ist, auch positiv sehen und kann ihn aufnehmen, um Europa weiter zu entwickeln. Aber man muss es schaffen, ihn gesichtswahrend umzulenken zu einer Struktur, die weniger problematisch ist. So hat der deutsche Finanzminister vorgeschlagen, statt eines gemeinsamen Budgets den europäischen Rettungsschirm ESM in die Lage zu versetzen, in Schwierigkeiten geratenen Ländern einmalig Geld zur Verfügung zu stellen. Der Vorteil: Daraus würde kein Automatismus erwachsen. Zudem hat Deutschland in den Entscheidungsstrukturen des ESM eine Sperrminorität. Aus Brüssel hört man freilich schon, dass man diese Sperrminorität kippen will, wohl um leichter an das deutsche Geld heranzukommen.

Entscheidend für den weiteren Europakurs Berlins dürfte die Zusammensetzung der Regierung nach der Bundestagswahl sein.
Sicherlich, aber im bisherigen Wahlkampf wagt es keine Partei, wirklich kritische Themen aufzugreifen. Wir erleben einen eigenartigen Phantomwahlkampf um irrelevante Themen. Dabei ist klar, dass die Verhandlungen über das neue Europa gleich nach dem Wahlkampf beginnen werden. Eigentlich müssten jetzt alle Parteien dem Wähler ihre europapolitischen Vorstellungen unterbreiten. Stattdessen darf er über Gesichter entscheiden.

Derzeit laufen die Brexit-Verhandlungen. Wie wird man sich vermutlich einigen?
Man wird Übergangsfristen einräumen, die Zeit lassen, nachzuverhandeln und einige Punkte später zu regeln. Schwierig werden dürfte es bei der Freizügigkeit, denn die Briten sind nicht bereit, hier nachzugeben. Auch wollen sich die Briten keinesfalls der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs unterwerfen, worauf die EU besteht.

Wie sieht es wirtschaftlich auf der Insel aus?
Als Folge des Brexit war ein wirtschaftlicher Einbruch auf der Insel prognostiziert worden. Er ist bis heute ausgeblieben. Treffen wird es vor allem den Finanzsektor, der nach dem Brexit für die übrige EU bestimmte Geschäfte nicht wie bisher von der Insel aus tätigen kann. Die Abwertung des britischen Pfunds, die wir schon eine Weile beobachten, wird dauerhaft sein. Der Grund: Sie ist nicht nur durch Kapitalflucht hervorgerufen, sondern auch durch die Einschränkung des Finanzsektors.

Welche britischen Wirtschaftsbereiche profitieren?
Die erhebliche Abwertung des Pfunds stärkt die internationale Wettbewerbsfähigkeit britischer Produkte. Die billigere Währung führt aber auch dazu, dass die alten Industriegebiete auf der Insel eine neue Chance bekommen. Denn der Brexit wird die Briten von der holländischen Krankheit befreien.

Das müssen Sie erklären.
Als Holland in den Sechzigerjahren Gas gefunden hatte, stiegen die Löhne, und der holländische Gulden wertete sich deutlich auf. Die Folge: Andere Wirtschaftssektoren traten in den Hintergrund, und die niederländische Industrie wurde dezimiert.

Also werden die Briten künftig unter ihrer bisher bedeutendsten Wirtschaftsbranche leiden?
Die EU hat den britischen Finanzsektor gross und das Pfund stark gemacht. London war der wichtigste Finanzplatz in der EU. Die Folge waren neben der Aufwertung weit überdurchschnittliche Löhne in der Londoner City, mit denen die Industrie nicht mehr mithalten konnte. Die britische Industrie wurde entscheidend geschwächt und in Teilen sogar vernichtet. Der Brexit wird im Laufe der Zeit allmählich für eine gewisse Umkehr der Verhältnisse sorgen. Der Brexit ist kein Nettogewinn für Grossbritannien, aber er ist ein Gewinn für die alten Industriegebiete auf der Insel.

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