Thomas Härter, CIO von Aquila, erachtet US-Aktien als stark überbewertet. Im Interview erklärt er, warum er auf europäische Titel und ausgewählte Schwellenländer setzt.
Herr Härter, haben die Börsen noch Luft nach oben oder ist der Zenit erreicht?
In den USA ist wohl Letzteres der Fall. Denn die US-Notenbank Fed will vermeiden, dass die Vermögenspreise überschiessen, was die Marktstabilität gefährden könnte. Es gibt also nicht nur den «Yellen-Put», bei dem die US-Notenbank Fed immer zur Rettung eilt, sobald es an den Börsen etwas rumpelt, sondern auch den «Yellen-Call».
Woraus schliessen Sie, dass es diesen Yellen-Call gibt?
Einerseits hat das Fed kürzlich begonnen, sich laut darüber Gedanken zu machen, wann und wie es seine Bilanz verkleinern möchte. Andererseits hat das Fed erklärt, dass US-Aktien mittlerweile teuer geworden sind. Es ist kein Zufall, dass beide Statements zeitlich nahe beieinander lagen. Das war eine klare Ansage an die Marktteilnehmer: Passt auf, bläst ihr die Vermögenspreise weiter auf, werden wir die Stimulierungsmassnahmen schneller und aggressiver reduzieren müssen.
Das erinnert an 1996: Damals warnte der Fed-Vorsitzende Alan Greenspan ebenfalls – und die Börsen haussierten weiter. Warum sollte Yellen das Drehbuch ändern?
Damals waren die Aktien nicht so teuer wie heute. Das gilt besonders, wenn man die Verschuldung der Unternehmen berücksichtigt. Das machen die meisten Bewertungsmasse nämlich nicht. US-Unternehmen haben in den vergangenen Jahren massiv eigene Aktien auf Kredit zurückgekauft und somit teures Eigenkapital durch extrem günstiges Fremdkapital ersetzt. Dieses Spiel läuft schon seit geraumer Zeit – und irgendwann wird man feststellen, dass der Leverage zu hoch ist.
Wann wird es brenzlig für die Börsen?
Den genauen Wendepunkt kennt keiner. Wir befinden uns mitten im grössten wirtschafts- und sozialpolitischen Experiment, das die Menschheit je gesehen hat – abgesehen vielleicht von der Einführung des Sozialismus oder Kommunismus. Man hat noch nie den Fall gehabt, dass die Notenbanken ihre Munitionskammern komplett leer geschossen haben. Wir wissen schlicht nicht, wie es ausgeht.
Was ist die Konsequenz dieser Geldpolitik?
Wenn die Notenbanken über Jahrzehnte hinweg bei jeder Rezession massiv eingreifen oder – wie zur Jahrtausendwende aus Furcht vor Computerproblemen wegen des Datumswechsels – gar präventiv die Zinsen senken und diese Massnahmen im Aufschwung nicht vollends rückgängig machen, wird die Konjunktur permanent überstimuliert.
Haben die Notenbanken also übertrieben?
Die quantitative Lockerung wurde bis an die Grenze getrieben. Die EZB kauft mittlerweile über die Banque de France indirekt Anleihen eines französischen Joghurtherstellers. Das ist absurd! Das ist nicht die Aufgabe einer Zentralbank. Dabei handelt es sich eigentlich schon um eine partielle Abschaffung der Marktwirtschaft, weil immer mehr Vermögenswerte auf den Bilanzen der Notenbanken landen. Bei der EZB sind es Bonds, bei der Schweizerischen Nationalbank und der Bank of Japan sind es bereits Aktien.
Was ist die Folge?
Durch das Aufschieben der notwendigen Anpassungen werden die darauffolgenden Krisen immer grösser, was die Notenbanken wiederum zu noch drastischeren Eingriffen animiert. Deshalb kommt der nächste Crash sicher – aber noch nicht jetzt. Derzeit ist der konjunkturelle Schwung stark genug.
Zinserhöhungen sind also kein Problem?
Eine Wirtschaft kann man sich wie einen riesigen Tanker vorstellen: Hat er erst einmal Fahrt aufgenommen, fährt er noch einige Zeit weiter, auch wenn man den Motor abstellt. Die globale Wirtschaftsdynamik sollte deshalb auch ohne Stimulus noch einige Monate anhalten.
Worauf sollen Anleger achten?
Wenn die USA ihre Geldpolitik normalisieren, werden risikolose Staatsanleihen für Anleger dereinst wieder attraktiv. Momentan kaufen ja eigentlich nur Zentralbanken diese Papiere und entziehen damit dem typischen Anleger zusehends die Anlagemöglichkeiten. Das könnte sich ändern, wenn die Notenbanken ihre Stimuli reduzieren.
Wird die Normalisierung der Geldpolitik in den USA den nächsten Absturz auslösen?
So ist es, und wahrscheinlich wird China das Epizentrum sein. China hat wahnsinnig viel in seine Infrastruktur investiert, aber nur wenig davon ist wirklich produktiv. Bei vielen Investitionen wird man dereinst feststellen: Die Menschheit braucht sie nicht, und die Chinesen brauchen sie auch nicht.
Wie lange geht das noch gut?
Es ist schwierig, zu sagen, wann die Chinablase platzt. Das dortige Wachstum ist ungemein kreditintensiv. Deshalb hat auch die Verschuldung relativ zur Wirtschaftsleistung kräftig zugenommen. Berücksichtigt man die staatsnahen Betriebe, ist die Schuldenlast noch alarmierender. Das kann noch ein paar Quartale gut gehen, vielleicht auch noch einige Jahre.
Was raten Sie Anlegern?
Wir empfehlen Geduld, Schwellenländeranleihen und -aktien sowie europäische Valoren. Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis von Robert Shiller, das normalisierte Gewinne über zehn Jahre berücksichtigt, sind einige Schwellenländer und europäische Aktien recht günstig.
Befürchten Sie keinen politischen Unfall?
Ich erwarte weder in Frankreich noch in Deutschland einen Wahlschock, am ehesten noch in Italien. Das ist allerdings erst ein Thema für 2018. Denn die Märkte können sich in der Regel nicht über mehrere Dinge gleichzeitig Sorgen machen. Sind die Sorgen über die Politik verflogen, dürfte sich der Zinsanstieg am langen Ende fortsetzen.
Könnten die Börsen die Wahl Marine Le Pens einfach so wegstecken?
Ein Sieg Marine Le Pens allein reicht nicht, um das Europrojekt zu bedrohen. Sie müsste auch bei den Parlamentswahlen die Mehrheit erlangen.
Das ist nicht ausgeschlossen.
Der Ausgang der Präsidentschaftswahl beeinflusst die Parlamentswahlen. Die Franzosen wollen keine Machtkonzentration. Gewinnt die Rechtsaussenkandidatin, werden sie ein Parlament wählen, das eher links politisiert. Der künftige Präsident wird also höchstwahrscheinlich nicht derselben Partei angehören wie die Mehrheit im Unterhaus. Somit wird der künftige Ministerpräsident einen Gegenpol zum Präsidenten bilden.
Und wenn es anders kommt?
Über einen Austritt Frankreichs aus der Eurozone müsste immer noch abgestimmt werden. Die meisten Franzosen sprechen sich aber klar für den Verbleib im Euro aus.
Welche Länder in Europa bevorzugen Sie?
Die Bewertungen in den Ländern der Peripherie, wie etwa Spanien oder Italien, aber auch in Osteuropa – ich denke da an Polen – sind äusserst niedrig. Hier besteht enorm viel Luft nach oben. Auch wenn sich diese Märkte im Kurs verdoppeln, sind sie noch viel günstiger als US-Aktien.
Zählen Sie Russland ebenfalls zu den attraktiven Ländern?
Russische Aktien sehen immer sehr günstig aus. Doch die zentrale Frage lautet: Wie steht es um die Eigentumsrechte? Oder anders gefragt: Wem gehören die Gewinne der Unternehmen? Zu oft fliessen die Erlöse in undurchsichtige Investitionsprogramme, ohne dass die Aktionäre einen Einfluss darauf haben. Die Corporate Governance lässt stark zu wünschen übrig. Wahrscheinlich ist es besser, auf russische Bonds zu setzen.
Gibt es neben Polen weitere Schwellenländer, die Sie mögen?
Generell würde ich auf günstige Märkte mit positivem Momentum setzen. Dazu gehören etwa die Börsen Koreas, Taiwans oder Tschechiens. In Südamerika sieht Brasilien interessant aus – sein Shiller-KGV liegt unter 11. Zum Vergleich: In den USA liegt es fast bei 28.
Wovon würden Sie die Finger lassen?
Die Philippinen, Indonesien, Mexiko und Indien sind allesamt sportlich bewertet. Zudem vermag die Kursdynamik nicht vollends zu überzeugen.
Sie erwarten, dass sich der Zinsanstieg fortsetzt. Was heisst das für Aktiensektoren?
Bei steigenden Zinsen sollten die Finanztitel wieder auf die Überholspur wechseln. Denn sie profitieren von einer steileren Zinskurve und dem Verschwinden der Negativzinsen. Aktien mit Anleihencharakter – wie Nestlé (NESN 76.9 -0.52%) oder Novartis (NOVN 75.9 2.43%) – werden tendenziell zurückbleiben. Dasselbe gilt für Strategien, die auf schwankungsarme Titel setzen, die so genannten Low-Volatility-Strategien. Sie funktionieren primär bei fallenden Zinsen.
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