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13:30 Uhr - 26.04.2022

Zweifel an der Value-Erholung

Lange Zeit hat es sich nicht ausgezahlt, auf günstige Titel zu setzen. Dank der Öl- und der Finanzaktien sieht es – vorübergehend – besser aus.

Günstig kaufen, teuer verkaufen. Diese Binsenweisheit nehmen manche Anleger als wörtliches Rezept: Sie erwerben niedrig bewertete Aktien – Value genannt – und meiden teure Titel von Wachstumsunternehmen (Growth). In der Zeit nach dem Coronaeinbruch im Frühjahr 2020 führte dieses Rezept zu Frustration. Value-Papiere hatten es schwer, dagegen lief die Growth-Auswahl im Weltaktienindex MSCI World besonders stark.

In den vergangenen Monaten haben die Wachstumstitel aber verloren, während sich Value zumindest halten konnte (vgl. Grafik 1).

Ein Blick auf die verschiedenen Faktorstrategien – also die systematische Auswahl von Titeln nach bestimmten Kriterien – zeigt, dass im Pandemiejahr 2020 die günstigen Valoren drei Quartale in Folge vom Markt deutlich abgestraft wurden (vgl. Grafik 2). Nur Ende 2020 und im ersten Quartal 2021 kam es schon einmal zu einer temporären Erholung im Vergleich zum Gesamtmarkt.

Für die Value-Faktorstrategie werden meist klassische Bewertungskriterien wie Kurs-Gewinn-Verhältnis, Kurs-Buchwert-Verhältnis und Dividendenrendite herangezogen. Henrik Muhle, Fondsmanager beim deutschen Asset-Manager Gané, betont, dass es Durchhaltevermögen braucht, um mit solch einem Ansatz erfolgreich zu sein: «Ein klassischer Value-Ansatz ist grundsätzlich Contrarian – läuft also gegen den Marktkonsensus.»

Als Grund für die relative Schwäche von Growth sehen Experten die steigenden Zinsen. Yun Bai, Leiterin Factor Investing Research bei Vontobel, erklärt den negativen Zusammenhang zwischen Zinsniveau und Growth mit der niedrigen Profitabilität vieler Wachstumsunternehmen: «Einige Wachstumswerte sind anfällig, wenn die Finanzierungskosten steigen. Für die Unternehmen wird es dann noch schwerer, Gewinn zu erzielen.» Doch da die Konjunktur weiterhin rund läuft, sollte der Effekt begrenzt sein.

Auch Muhle scheut nicht vor höher bewerteten Papieren zurück, nur weil die Zinsen steigen. Er sagt: «Man muss differenzieren: Einige Unternehmen können problemlos in ihre Bewertung hineinwachsen.»

Einfluss des Wirtschaftszyklus

Die Rendite der verschiedenen Anlagefaktoren hing in der Vergangenheit eng am Konjunkturzyklus. Eine Datenauswertung der Investmentbank JPMorgan kommt zum Schluss, dass Value-Titel besonders in der Erholung nach einem Wirtschaftseinbruch und in der Expansionsphase gut abschneiden (vgl. Grafik 3). Doch auch Growth-Aktien legen dann zu. Schlecht sieht es für Value dagegen in der Phase aus, in der sich das Wachstum verlangsamt oder die Wirtschaft gar schrumpft. Dann sind Papiere von Qualitätsunternehmen zu empfehlen und solche mit besonders grosser Kursdynamik (Momentumaktien).

Bank- und Ölaktien sind die treibenden Kräfte hinter der Value-Performance. «Die jüngste Überrendite war den Sektoren Finanz und Energie zu verdanken, die einen grossen Anteil an den Value-Titeln ausmachen», sagt Yun Bai. So sind etwa Finanzwerte in der Value-Auswahl des MSCI World um 8 Prozentpunkte höher gewichtet als im Gesamtindex (vgl. Text «Was jetzt günstig ist»).

Die Kurse der Banken konnten sich – global gesehen – in den vergangenen Monaten stabil halten, während die tendenziell teuren Softwareaktien stark nachgegeben haben. Die Energietitel haben sich seit dem Tief im Februar 2020 verdreifacht (vgl. Grafik 4).

Gefahrenlage spricht für Qualität

Banktitel profitieren durch ihr Kreditgeschäft tendenziell von einer besseren Konjunktur. Die Energieaktien hängen an den Öl- und den Gaspreisen, die sich stark erhöht haben. Trotzdem hätte Yun Bai sich vor der Ukrainekrise nicht von Growth losgelöst: «Wir hatten ein ähnliches Muster wie 2004 erwartet – ein Umfeld mit hoher Inflation, steigenden Zinsen, aber auch starkem Wirtschaftswachstum. In einem solchen Umfeld schneiden sowohl der Growth- als auch der Value-Faktor besser ab.»

Doch Bai hat diese Einschätzung zuletzt geändert: «Nach der russischen Invasion und den Lockdowns in China, dem Schock für die Lieferketten, den höheren Zinsen und der schnelleren Schrumpfung der Fed-Bilanz neigen wir nun zu einer konservativeren Sicht.» Für die Faktorstrategien folgt daraus: «Mehr Qualitätsaktien und Titel mit geringer Volatilität sollten das Portfolio schützen.»

Neben den Ansätzen der Faktorauswahl widmet sich die Vontobel-Expertin zunehmend dem thematischen Investieren, da das Timing von Faktoren in den letzten Jahren extrem schwierig geworden sei. Vor der Finanzkrise hätten die Value-Valoren über einen langen Zeitraum eine Outperformance erzielt, «danach gab es eine lange Überrendite von Wachstums- und Qualitätsaktien. Jetzt vollziehen sich die Regimewechsel viel schneller.»

Value hat sich verändert

Christophe Braun, Investment Director bei Capital Group, beobachtet, dass sich eine Eigenschaft von Value fundamental verändert hat: «Das Gewinnwachstum ist in den vergangenen zwanzig Jahren unbeständiger und volatiler geworden als das von Growth-Titeln.» Das stelle in Zweifel, ob es wie zuvor regelmässig zu einer Erholung der Value-Titel komme oder «es möglich ist, für die Rotation zwischen Faktoren den richtigen Zeitpunkt zu finden».

Für Value-Anleger Muhle sind die klassischen Bewertungskennziffern nicht alleinig relevant. Er setzt auf «attraktiv bewertete Unternehmen, die ein robustes Geschäftskonzept, eine geringe Zyklizität und eine hohe Preissetzungsmacht aufweisen». Gerade die Möglichkeit, höhere Inputpreise weiterzugeben und so die Marge hoch zu halten, bleibe wichtig: «Inflation ist kein Phänomen, das uns nur einige Quartale beschäftigen wird.»

Christophe Braun verweist auf die zunehmende Bedeutung von «immateriellen Vermögenswerten», die die Berechnung des Substanzwerts erschweren. Traditionelle Bewertungskonzepte seien zwar noch nicht komplett unbrauchbar, aber: «Anleger müssen Anpassungen vornehmen, um den wahren Wert einer Aktie zu ermitteln.» Es sei hilfreicher, die Entscheidungen auf unternehmensspezifische Analysen und qualitative Beurteilungen zu stützen.

Einfach nur die Titel auszuwählen, die nach herkömmlichen Bewertungskennzahlen günstig aussehen, das funktioniert aktuell, weil Banken und Ölgesellschaften so im Schleppnetz hängen bleiben. Doch solche oberflächliche Analysen sind keine Garantie für künftigen Anlageerfolg. Denn an der Börse sind viele Titel mit ihrer tiefen Bewertung zu Recht abgestraft worden.


Was jetzt günstig ist


Das hohe Gewicht von Aktien aus sich erholenden Sektoren hat die Outperformance der Value-Strategien zuletzt ermöglicht. Gegenüber dem Gesamtindex MSCI World ist die weltweite Auswahl von tief bewerteten Titeln besonders in den Sektoren Finanzen (Übergewichtung von 8 Prozentpunkten, Pp), Energie (3 Pp) und Versorger (2,5 Pp) übergewichtet (vgl. Grafik).

Höheres künftiges Wachstum und damit höhere Bewertungskennzahlen zeichnen die Unternehmen aus denjenigen Sektoren aus, die im Value-Index am stärksten untergewichtet sind: IT-Titel sind gut 14 Pp weniger stark in der Value-Auswahl der Weltaktien-Benchmark vertreten. Auch der zyklische Konsum (–4,5 Pp) und Kommunikationspapiere (–3,6 Pp) sind seltener im Index der günstigen Werte zu finden. Für die Indexzusammenstellung berücksichtigt MSCI historische Bewertungen auf Basis von Buchwert, Umsatz, Gewinn und Cashflow.

Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) – auf Basis des von Analysten erwarteten künftigen Gewinns – sind die Titel des Stahlherstellers ArcelorMittal im Weltaktienindex besonders günstig (vgl. Tabelle). Das KGV liegt bei 2,6. Auch die Kennziffer für den spanischen Ölkonzern Repsol erscheint mit 4,6 sehr tief.

Gemäss KGV-Kriterium haben es auch die deutschen Autobauer BMW und Mercedes sowie die Banken Barclays und Sumitomo Mitsui unter die zehn am niedrigsten bewerteten Titel geschafft. Sie alle sind mit einem geschätzten KGV von unter 7 zu haben.

Für die Valoren der Schweizer Hauptindizes SMI und SMIM beginnen die Bewertungen über der Marke von 7. Den Aktien des Personalvermittlers Adecco schreiben Analysten ein künftiges KGV von 7,3 zu. Sonst dominieren die Finanzkonzerne die Auswahl der billigsten Titel. So sind UBS, Julius Bär, Swiss Re, Cembra, Credit Suisse und Zurich in der Liste zu finden. Die höchste laufende Dividendenrendite verbucht dabei der Rückversicherer Swiss Re mit 7,4%.

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