Die EU hat sich zu unvollständigen Ölsanktionen durchgerungen. Das wird die globalen Handelsströme neu ordnen und die Preise hochhalten.
Mehr als drei Monate nach Kriegsbeginn sanktioniert die Europäische Union, was die Ukraine bereits im Februar forderte: russisches Öl. Es ist ein gewichtiger und moralisch richtiger Schritt. Ob er allerdings der europäischen Wirtschaft mehr Schaden zufügen wird als der russischen, wird sich zeigen.
Denn das sechste Sanktionspaket hat mehrere Löcher: Das grösste ist, dass nur die Öllieferungen via Schiff bis Ende Jahr gestoppt werden. Als Eingeständnis gegenüber Ungarn, Tschechien und Slowenien bleibt die Druschba-Pipeline weiterhin in Betrieb. Polen und Deutschland wollen bis Ende Jahr kein Öl mehr aus der Pipeline empfangen, die nach dem russischen Wort für Freundschaft benannt ist. Halten sie diesen Zeitplan ein, wird bis Ende Jahr 90% weniger russisches Öl nach Europa fliessen, das vor dem Krieg ein Viertel des europäischen Bedarfs deckte.
Während Ungarns Orban mit seiner Blockadepolitik die Schlagzeilen dominierte, stiessen Griechenland und Malta – Länder mit grossen Erdöltankerflotten – im Hintergrund eine weitere Strafmassnahme aus dem Paket: Europäische Schiffe dürfen weiterhin russisches Öl transportieren. Einzig die Versicherung dieser Transporte in Drittstaaten wird verboten bis Ende Jahr. Das ist relevant, da 90% der Hochseefracht von der Schiffvereinigung IGP&I versichert wird, die wiederum Verträge mit europäischen Rückversicherern hat und sich deshalb an die Sanktionen halten muss.
«Die Sanktionen werden die globalen Energieströme grundlegend umlenken», sagt Gérard Delsad, Schweiz-CEO beim Rohstoffhändler Vitol, im Gespräch. Europa werde vermehrt in der Nordsee und den USA sowie potenziell im Nahen Osten einkaufen. Während eine Reorganisation der Handelsrouten für Rohöl «für einen gewissen Preis» bis Ende Jahr machbar sei, mache er sich Sorgen um die Versorgung mit Diesel, Benzin und Flugzeugtreibstoff, so Delsad. Dort sei Europa ebenfalls abhängig von Russland, da die europäischen Raffineriekapazitäten in den vergangenen Jahren deutlich abgebaut wurden.
Dass die Verschiebung der Handelsrouten bereits begonnen hat, zeigen Schifftrackingdaten. Während im Februar noch 85% der Öltanker in den beiden baltischen Häfen Ust-Luga und Primorsk sowie von Noworossijsk im Schwarzen Meer Kurs nach Europa aufnahmen, waren es im Mai nur noch 35%. Diese Zahl dürfte weiter sinken. Das verhältnismässig günstige Öl fliesst nun nach Indien und China – allerdings dauert der Transport statt fünf dreissig Tage.
Es wird zudem getrickst: Schiffe stellen ihre Tracking-Software ab, sodass nicht genau verfolgt werden kann, wohin das Öl transportiert wird. Eine weniger offensichtliche Variante, Beobachter hinters Licht zu führen, sind Tanker-zu-Tanker-Transfers: Dabei wird in der Mitte des Ozeans die Ladung des Öls fragwürdiger Herkunft auf ein leeres Schiff transferiert, das in einem Hafen losgefahren ist, der unproblematisch ist. Beides wurde für Öl aus sanktionierten Staaten wie Iran nachgewiesen und dürfte nun auch mit russischem Öl geschehen.
Iran ist allerdings zusätzlich mit sekundären Sanktionen belegt, die auch für Personen und Unternehmen ausserhalb der sanktionierenden Staaten gelten. Solange diese für Russland ausbleiben, gibt es für europäische Unternehmen auch legale Wege, die nun beschlossenen Sanktionen zu umgehen. So kann ein in den Niederlanden domizilierter Rohstoffhändler via einer in Dubai beheimateten Tochterfirma russisches Öl direkt nach China liefern. Tatsächlich nehmen die Handelsaktivitäten kleinerer, kaum bekannter Händler mit Sitz in Dubai zu, wie das «Wall Street Journal» berichtet.
Diese können nun schnell viel Geld machen. Denn die Giganten der Branche kehren Russland den Rücken zu: Sowohl die kotierten BP, Shell und Total als auch die privaten Rohstoffhändler wie Trafigura, Vitol und Gunvor haben bereits vor den EU-Sanktionen den Rückzug aus Russland bekanntgegeben.
Die Sanktionen beziehungsweise die Erwartung von Handelseinschränkungen haben also durchaus einen Effekt. Zurzeit ist ein Fass Uralöl mehr als 22 $ günstiger als die Nordseesorte Brent. Bloomberg schätzt, dass Russland durch den Preisabschlag dieses Jahr 10 Mrd. $ entgehen. Viel Geld an sich, aber wenig im Verhältnis zu den gesamten Energieeinnahmen von 270 Mrd. $, die Russlands Regierung für das laufende Jahr prognostiziert. Die Zahlen der IEA zeigen, dass die Staatskasse bereits massiv von den hohen Ölpreisen profitiert hat: Im Rekordmonat März waren es 21,3 Mrd. $.
Diese Einnahmen fliessen weiter. Im April exportierte Russland pro Tag 7,7 Mio. Fass Öl, ein beträchtlicher Teil des Gesamthandels von ungefähr 100 Mio. Fass pro Tag, so Delsad. Allerdings holt Russland heute knapp 1 Mio. Fässer Öl pro Tag weniger aus der Erde als vor Kriegsbeginn, in der zweiten Jahreshälfte könnte sich diese Zahl verdoppeln, schätzt die österreichische Raiffeisenbank.
Gemäss der finnischen Forschungsorganisation CREA hat Europa seit Kriegsbeginn 60 Mrd. € für fossile Brennstoffe an Moskau überwiesen – gut die Hälfte davon für Öl. Der Rest für Kohle und Gas, weshalb sich in Brüssel die Diskussion nun um Gassanktionen dreht. Was gar nicht erst angesprochen wird, sind Sanktionen gegen russische Agrargüter oder Metalle. So fliessen dank dem Rohstoffreichtum weiterhin ungehindert Milliarden nach Russland – auch wenn die Routen der Öltanker nun einiges komplizierter werden.
Am Donnerstagabend haben die Opec-Staaten und ihre Verbündeten beschlossen, ihre Ölproduktion im Juli und August statt um 432’000 Fass um 648’000 Fass pro Tag zu erhöhen.
Auf den ersten Blick ist das ein Eingeständnis gegenüber den Forderungen der USA und der anderen G7-Staaten, dass Länder der Golfregion mehr Öl pumpen sollen, damit man weniger auf russische Importe angewiesen ist. Tatsächlich wird die Fördererhöhung nichts gegen die angespannte Marktsituation und die hohen Preise ausrichten.
Die geplante Erhöhung entspricht 0,7% der globalen Ölnachfrage – sofern sie eingehalten werden kann. Doch das ist zweifelhaft, denn abgesehen von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und potenziell Irak hat der Rest der Opec+ keine Kapazität, mehr Öl zu fördern. Im Gegenteil: Bereits jetzt liegt die Gesamtproduktion der 23 Staaten unter den Vorgaben. So hat Russland im April etwa 9,3 Mio. Fass Öl pro Tag aus dem Boden geholt, das liegt mehr als 1 Mio. Fass unter seiner Förderquote. Aber auch andere Staaten haben Produktionsprobleme.
Medienberichte im Vorfeld des Treffens der Opec+ schürten die Hoffnung, dass Russland aus der Allianz ausgeschlossen werden könnte – oder zumindest die Regeln so gelockert werden, dass andere Staaten die russische Produktionslücke mit ihrer Förderung schliessen dürfen. Stattdessen wurde in der Erklärung nach der virtuellen Sitzung der Ölminister der Krieg in der Ukraine als Ursache der hohen Ölpreise nicht einmal erwähnt.
Damit scheint es realistisch, dass der Preisrekord von 147 $ je Fass – der wurde kurzzeitig im Jahr 2008 erreicht – bald übertroffen werden könnte.
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