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07:03 Uhr - 03.10.2019

«Notenbanken waren zu wenig aggressiv»

Jeremy Lawson, Chefökonom und Leiter des Forschungsinstituts Aberdeen Standard Investments, empfiehlt Schwellenländeranleihen und zur Absicherung Währungen.

Herr Lawson, was bedeutet der US-chinesische Handelskrieg für die Finanzmärkte?
Ich rechne mit schwerwiegenden langfristigen Folgen, auch wenn am Markt die Tendenz besteht, sich auf die kurzfristige Volatilität zu konzentrieren. Bereits seit der letzten Finanzkrise ist eine Zunahme von Handelshemmnissen zu beobachten. Das politische und wirtschaftliche Umfeld hat sich verändert, das Vertrauen in das internationale System ist gesunken.

Werden die Spannungen zwischen den USA und China weiter bestehen, unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahlen 2020 gewinnt?
Verstärkte wirtschaftliche Integration mit China gewinnt in den USA keine Wählerstimmen. Auch wenn sich unter einer demokratischen Administration die Rhetorik ändern wird, die Fragmentierung der Weltwirtschaft schreitet voran.

Wie wirkt sich das auf Anleger aus?
Investieren wird komplizierter. Marktteilnehmer müssen langfristige Szenarien ausarbeiten, um Wert zu schaffen. Zudem muss die Illusion aufgegeben werden, dass man den Status vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten wiederherstellen kann. Ein weiterer Punkt ist, dass man sich bei der Bewertung von Unternehmen nicht mehr auf historische Durchschnittswerte verlassen kann. Die Vergangenheit gibt keinen Aufschluss darüber, wie der zukünftige Ertrag ausfallen wird, weil sich das strukturelle Umfeld verändert hat.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Nach der Krise wurden europäische Banken lange falsch beurteilt von Analysten. Das regulatorische Umfeld hat sich so stark verändert, dass die alten Ertragsprofile einfach nicht mehr realistisch sind.

Wie ändert sich das strukturelle Umfeld mit dem Brexit?
Drei Jahre nach dem Brexit-Volksentscheid sind immer noch alle Optionen auf dem Tisch. Das zeigt, wie schwierig es ist, einen Kompromiss zu finden, und kommt einem Versagen des politischen Systems gleich. Zudem hat Grossbritannien die Beziehung zu seinem wichtigsten Handelspartner, der EU, nachhaltig beschädigt.

Was entgegnen Sie auf das Argument, dass ein No-Deal-Brexit zumindest klare Verhältnisse schaffen würde?
Das ist eine falsche Annahme, denn auch bei einem Austritt aus der EU ohne Abkommen muss Grossbritannien seine Handelsbeziehungen mit Europa vertraglich festhalten. Sie auszuhandeln, wird noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Welche Auswirkungen hat diese Unsicherheit auf Grossbritannien?
Nicht nur in Bezug auf die EU steht Grossbritannien still, auch andere Probleme im Land wurden nicht angegangen. Das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung, die Infrastruktur – das alles liegt ausserhalb der europäischen Zuständigkeit, aber dennoch hat es die britische Regierung nicht geschafft, dort Reformen einzuleiten. Das schafft ein begrenztes Wachstumsumfeld, die Wirtschaftsleistung des Landes wird gebremst.

Durch die Anschläge in Saudi-Arabien hat sich der Ölmarkt verändert. Wird der Ölpreis weiter steigen?
Nein, die Vorfälle von Mitte September zeigen, dass wir viel weniger besorgt sein müssen als in der Vergangenheit. Klar, der Nahe Osten bleibt eine geopolitisch heikle Region, das dürfen wir nicht unterschätzen. Aber wäre ein ähnlich schwerwiegender Anschlag vor fünfzehn Jahren verübt worden, hätte das viel verheerendere Auswirkungen gehabt auf den Ölpreis und somit auch auf die Weltwirtschaft.

Worauf ist das zurückzuführen?
Die Opec-Fördermenge ist im Verhältnis zur weltweiten Fördermenge zurückgegangen. Das vergrösserte Ölangebot – denken Sie nur an Schieferöl – entspannt die Situation. Die Macht des Kartells, das früher den Markt dominierte, ist schwächer. Das verändert die gesamte Dynamik.

Eine globale Konjunkturabschwächung ist bereits zu beobachten, wie geht es weiter?
Unser Basisszenario nimmt an, dass die Weltwirtschaft in den nächsten zwei Jahren auf niedrigem Niveau weiterwächst. Wir rechnen weder mit einer gross angelegten Erholung noch mit einer Rezession.

Und wie schätzen Sie das Rezessionsrisiko im konkreten Fall von Deutschland ein?
Prognostiziert wird eine technische Rezession, aber es wird wohl kaum zu einer tiefen, breit angelegten Rezession kommen. Es ist allerdings möglich, dass die Probleme im Industriesektor stärker auf den Rest der deutschen Wirtschaft übergreifen. Das Land hat nach der Eurokrise profitiert von der schwachen Währung und vom Umstand, dass es kaum verschuldet war, und hat somit einen Beitrag zum europäischen Wachstum geleistet. Aber was nie zustande kam, war eine gesunde Binnennachfrage.

Worauf führen Sie das zurück?
Deutsche Unternehmen finden im Ausland nicht die richtigen Investitionsmöglichkeiten. Der Haushaltssektor bleibt relativ vorsichtig. Und die Budgetdebatte fokussiert weiterhin darauf, ein Defizit zu vermeiden, statt auf Massnahmen, die das Wachstum ankurbeln.

Ist Westeuropa exponierter als die USA, weil die Binnennachfrage zu schwach ist?
Der Konsumzyklus in den USA ist robuster als in Europa. Aber wir prognostizieren keine Rezession in Europa. Auch wenn Deutschland zu kämpfen hat, geben Länder wie Frankreich und Spanien Schub.

Können die Notenbanken gegensteuern?
Die Wachstumsverlangsamung im Euroraum war einer der Gründe, weshalb die EZB ihr Anleihenkaufprogramm wieder aufgenommen hat. Ich gehöre nicht zu den Skeptikern, die glauben, dass die Zentralbanken keinen Manövrierraum mehr haben. Klar haben die japanische und die Europäische Zentralbank weniger Spielraum als die US-Notenbank. Untersuchungen belegen jedoch, dass eine weitere Lockerung der Geldpolitik in Europa immer noch positive Auswirkungen hat. Aber es braucht zusätzliche Massnahmen.

Worauf spielen Sie an?
Im Niedrigzinsumfeld ist Fiskalpolitik effizienter als Geldpolitik. Die Probleme gehen tiefer, als dass die Notenbanken sie allein lösen können. Die Regierungen müssen aktiv werden. Um das Wachstum anzukurbeln, sind Strukturreformen nötig.

War die Geldpolitik seit der Finanzkrise 2008/2009 zu locker?
Im Gegenteil, sie war zu wenig aggressiv. Die Notenbanker haben Fehler begangen. Sie haben die disinflationären Risiken in früheren Phasen zu wenig ernst genommen. Die EZB hatte das falsche Inflationsprognosemodell, war zu zuversichtlich. Auch das Fed war zu optimistisch, was die Wachstumsprognosen anging. Natürlich liegt die Schuld nicht allein bei den Notenbanken, aber sie sollten sich ihres Beitrags zur momentanen Situation bewusst sein, dass sie zu langsam reagiert haben.

Was bedeutet das für die SNB (SNBN 5510 -0.9%)?
Die SNB befindet sich in einer schwierigen Situation. Erstens sind ihre Handlungen von der Politik der EZB abhängig. Zweitens gibt es in Zeiten der Unsicherheit einen Aufwertungsdruck auf den Franken. Nicht nur aufgrund der Flucht globaler Anleger in sichere Häfen, wie der Franken einer ist, sondern auch weil die Schweizer selbst bei einem riskanteren externen Umfeld aufhören, im Ausland zu investieren.

Wie können Anleger in diesem unsicheren Umfeld ihr Portfolio absichern?
Eine vollständige Absicherung des Portfolios ist nicht möglich, aber man kann es versuchen. Neben den klassischen sicheren Häfen wie Staatsanleihen und Gold (Gold 1499.45 1.37%) sind auch Währungen ein guter Diversifikator. So haben wir in unseren Portfolios beispielsweise Yen gegenüber dem kanadischen Dollar: Wenn der Zyklus zu Ende geht, tendiert der Yen zu einer Aufwertung, der kanadische Dollar hingegen zu einer Abwertung.

Wo können Investoren in diesem schwierigen Umfeld noch Rendite erzielen?
Bei Schwellenländeranleihen werden die Anleger für das langfristige Risiko gut entschädigt. Bei Aktien präferieren wir entwickelte Märkte. Auch private Vermögenswerte, besonders Infrastrukturprojekte, sind vielversprechend.

Wo weicht Ihr genereller Ausblick vom Marktkonsens ab?
Nur weil wir uns in einem Umfeld befinden, in dem es schwer ist, vorauszusagen, was als Nächstes geschieht, und es gefühlt viele Risiken gibt, bedeutet das nicht, dass man die wichtigen strukturellen Veränderungen nicht analysieren kann. Beispiele dafür sind der Klimawandel, die Fragmentierung des internationalen Systems, der technologische Wandel und die mit diesen Phänomenen einhergehenden politischen Entwicklungen. Grundlegender darüber nachzudenken, was die längerfristigen Herausforderungen antreibt und was sie bedeuten, lohnt sich.

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