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10:38 Uhr - 24.10.2017

Plädoyer für mehr Durchblick an der Börse

Historische Kursverläufe beeinflussen das Verhalten der Marktteilnehmer. Die Gehirnforschung liefert die wissenschaftliche Erklärung.

Cognitive Finance bietet eine leistungsfähige Methodik, um wirtschaftliche Prozesse der realen Welt und speziell das Geschehen an den Kapitalmärkten besser zu verstehen, als dies auf Grundlage der bisherigen Paradigmen der Wirtschafts- und Kapitalmarkttheorie möglich ist. Das haben die ersten beiden  Folgen dieser Serie aufgezeigt. Im Gegensatz zu diesen inzwischen weitgehend überholten Konzepten öffnet Cognitive Finance den Blick für menschliche Verhaltensweisen, die mit Hilfe moderner Neurowissenschaften und interdisziplinärer Kognitionsforschung erschlossen, verstanden und sowohl nachvollziehbar als auch erklärbar gemacht werden können.

Dieses tiefere Verständnis für menschliches Handeln ist eingebettet in ein dynamisches Bild realer Wirtschaftsprozesse. Märkte werden nicht mehr als effizient funktionierende und letztlich irrelevante Blackboxes fehlgedeutet. Stattdessen werden Marktprozesse, ganz im Sinne der neueren Komplexitätsforschung, als Ergebnis und Manifestation komplexer adaptiver Systeme interpretiert (vgl. Text unten).

Sowohl die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen, die Bildung von Erwartungen, das Treffen von Entscheidungen als auch der ständige Abgleich eines Agenten mit seiner Referenzgruppe – dem Markt – basieren auf hochkomplexen kognitiven Prozessen. Dazu zählen auch unbewusste Heuristiken und andere psychologisch oder neurobiologisch geprägte Mechanismen, die im zweiten Teil der Serie eingehend dargestellt wurden.

Verzerrte Wahrnehmung

Mit Hilfe der modernen Neurowissenschaften lässt sich nachweisen, dass viele dieser Prozesse zu systematischen Verzerrungen bei der Wahrnehmung und Auswahl von Information führen (Selection Bias und Pfadabhängigkeit des Gehirns). Gleichzeitig lässt sich belegen, dass Entscheidungsprozesse nie wirklich rational sein können, sondern allenfalls das subjektive Ergebnis individueller Gehirnfunktionen spiegeln.

Dieses Ergebnis wird bereits bei Entstehung durch individuelle Erfahrungen (Prägung) und ein oft stark vereinfachendes oder sogar falsches Bild realer Fakten und Zusammenhänge (Konstruktivismus) determiniert. Somit spielen das menschliche Gehirn und seine Eigenheiten eine ganz entscheidende Rolle dabei, welche Art von Informationen und Erwartungen an den Kapitalmärkten tatsächlich gehandelt werden, oft völlig unabhängig von einer objektiven Informationsstruktur.

Eine weitere Eigenschaft menschlicher Neurobiologie und darauf basierender Kognitionsprozesse liegt darin, dass ein ständiger Abgleich mit der als relevant empfundenen Aussenwelt stattfindet. Evolutionsbiologisch betrachtet ist der Mensch noch immer ein Herdentier, und das individuelle Wohlbefinden orientiert sich stark in Bezug zu einer Referenzgruppe. Was früher die Horde oder der Clan war, ist heute der Markt oder das soziale Umfeld. Dieser laufende, inter-individuelle oder soziale Abgleich (entsprechend der Theory of Mind), zusammen mit dem Prinzip der Pfadabhängigkeit, führt dazu, dass menschliche Handlungen im Marktgeschehen mehr als psychosoziale Verkettungen (Adaption) und multiple Feedback-Schleifen (Reflexivität) definiert werden müssen denn als individuell-rationales Verhalten auf Basis objektiver Informationen. Die entscheidenden Stichworte sind hier adaptives Verhalten und Feedback im Rahmen einer komplexen Konstellation, also exakt die Basisannahmen der modernen Komplexitätsforschung.

Markttechnik funktioniert

Bekanntlich führen Feedbackschleifen zu charakteristischen Effekten, insbesondere an Kapitalmärkten. Positive Feedbacks erzeugen prinzipiell steigende Trajektorien (Kursverläufe), während negative Feedbacks in der Regel fallende Trajektorien nach sich ziehen. Solche Verläufe werden sichtbar als visuelle Kurspfade (Charts), was direkt überleitet zu einem anderen neurobiologischen Phänomen: Viele Marktteilnehmer rezipieren – bewusst oder unbewusst – die visuellen Informationen von Kurscharts und integrieren diese – wiederum oftmals unbewusst – in ihren Erwartungsbildungs- und Entscheidungsprozess (Prinzip der Mustererkennung).

Dadurch erhalten Kurscharts und somit historische Preisinformationen eine Relevanz, die ihnen vom Paradigma der informationseffizienten Kapitalmärkte stets aberkannt wurde. Individuelle Wahrnehmungen und Deutungen historischer Preisdaten in Charts beeinflussen dann, über oftmals unbewusste Prozesse der Mustererkennung, sowohl die Gegenwart (über entsprechende Erwartungsbildung) als auch die Zukunft (Mustererkennung löst Handlungen aus und determiniert so zukünftige Preisentwicklungen). Hier liegt also eine wissenschaftliche Fundierung für spezielle Verfahren der technischen Analyse, jedoch nicht misszuverstehen als simples Chart Reading.

Cognitive Finance bietet auf Basis dieser Erkenntnisse und Ableitungen eine deutlich verbesserte Ausgangsbasis, um sowohl reales Marktgeschehen als auch eigenes Verhalten besser verstehen, kontrollieren und zielgerichtet nutzen zu können. Aus der Cognitive-Finance-Analytik lassen sich wichtige Einsichten über Märkte als komplexe adaptive Systeme gewinnen, oft im direkten Widerspruch zum realitätsfremden Paradigma der Markteffizienz.

Wie kann dieses Wissen und die Methodik der Cognitive Finance aus Sicht eines Investors sinnvoll eingesetzt werden? Primär geht es hier um drei zusammenhängende Aspekte: individuelles Verständnis (Investor), kollektives Verständnis (Kapitalmarkt) und dynamisches Verständnis (Marktphasen, Trends und spezielle Phänomene).

Das individuelle Verständnis kann mit Hilfe der Cognitive-Finance-Methodik insofern erweitert und verbessert werden, als unterbewusste Beiträge zur Erwartungs- und Entscheidungsbildung – und somit die Grenzen eigenen rationalen Verhaltens – bewusst gemacht und inhaltlich klarer nachvollzogen werden können. Bereits diese grundlegende Kalibrierung hilft dabei, eigene Fehler der Kognition zu vermeiden, zu reduzieren oder deren Auswirkungen auf das eigene Denken und Handeln klarer zu erkennen. Hier sind auch die aus der Behavioral Finance gut dokumentierten Verzerrungen (Biases), Wahrnehmungsstörungen (z. B. Kontrollillusion) und Entscheidungsanomalien (z. B. Anchoring Effect) relevant, die bereits in Teil 1 dieser Serie kurz behandelt wurden. Speziell die Arbeiten der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky haben ein breites Spektrum kognitiver Unstimmigkeiten (Anomalien) dokumentiert, das jeder Investor kennen und sich bewusst machen sollte.

Für das kollektive Verständnis ist eine aufgeschlossene Sicht auf reale Kapitalmärkte erforderlich, die den Leitlinien der Komplexitätstheorie folgt. Finanzmärkte als komplexe adaptive Systeme erfordern eine völlig andere Art der Betrachtung als tradierte Paradigmen, die von einem eher stationären Marktverständnis ausgehen. Wichtig ist hierbei der Aspekt des laufenden Abgleichs vieler Marktteilnehmer mit dem Markt, also einer Adaption an die Signale des Marktes als einer übergeordneten Instanz. Faktisch entspricht dies einer ständigen Rückkopplung eigener Entscheidungen und Werturteile mit vom Markt kommunizierten Preissignalen und Preissystemen. Diese soziale Adaption läuft an den Finanzmärkten als Anpassung an grundlegende Signale des Preissystems, also insbesondere an die leicht wahrnehmbaren Botschaften Trend und Volatilität.

Beide Parameter determinieren direkt die psychologische und neurobiologische Konditionierung vieler Investoren: Die Wahrnehmung stabiler Trends erzeugt im kognitiven System die Botschaft Ruhe und Sorglosigkeit. Das neurobiologische System (also das Gehirn) sendet dann bestätigende Signale oder sogar Glücksbotschaften. Das psychologische Profil mutiert so im Laufe der Zeit in den Zustand der Kontrollillusion, was den kognitiven Apparat gegen abweichende Meinungen und Selbstkritik immunisiert und Ignoranz (oder Arroganz) begünstigt. Über den Umweg positiver Feedbacks kann dieser Effekt sehr leicht zu Übertreibungen, Marktmoden oder Blasen führen. Nobelpreisträger Robert Shiller bezeichnet diesen Prozess auch als soziale Infektion.

Emotion statt Verstand

Hingegen führt die Wahrnehmung des Signals «erhöhte Volatilität» zu eher gegenteiligen neuronalen Reaktionen. Das Unterbewusstsein, also das limbische System des Gehirns, reagiert tendenziell mit kognitiver Dissonanz, die aber je nach Situation auch leicht in Stress, Angst oder Panik umschlagen kann. Speziell die letztgenannten Effekte wirken direkt auf die neurologische und psychologische Konditionierung, da dann Verstand unmittelbar durch Emotion ersetzt wird. Wichtig ist also hier die Einsicht, dass in bestimmten,  für den Verstand schwer decodierbaren  Marktkonstellationen (erhöhte Volatilität) bei vielen Investoren die Ratio das Steuerrad abgibt und statt dessen ein schwer kontrollierbares Bündel von Emotionen als Ersatzfahrer einspringt.

Diese Sicht führt direkt zum dritten Punkt, dem dynamischen Verständnis. Hier gilt grundsätzlich: Sowohl die positive als auch die negative Disposition individueller Gehirne kann sich über den Übertragungsweg der sozialen Adaption auf das Geschehen des Gesamtmarktes auswirken. Um die dynamischen Eigenschaften der Kapitalmärkte besser zu verstehen, ist eine Entschlüsselung dieser sozialen Effekte erforderlich. Ziel ist also eine dynamische Analyse des Marktverhaltens im Zeitablauf, idealerweise über einen gesamten Marktzyklus.

Grosse Marktübertreibungen (Blasen), scharfe Markteinbrüche (Crashes) und säkulare Trendwenden (speziell an Tiefpunkten der Märkte) lassen sich auf Basis einer kognitiven Decodierung sehr viel besser erkennen als etwa nur durch Analyse der jeweiligen Daten- oder Nachrichtenlage. Spezielle Verfahren der technischen Analyse können dabei helfen, Strukturbrüche, Marktverwerfungen und damit verbundene Einstiegs- oder Ausstiegszeitpunkte relativ zuverlässig zu identifizieren. Ähnliche Resultate lassen sich durch Einsatz computerbasierter Modelle des Cognitive Computing erzielen.

Als Fazit ist somit festzustellen, dass die Kenntnis kognitiver und neurobiologischer Faktoren ein authentischeres Verständnis realer Kapitalmärkte ermöglicht. Dies impliziert grundsätzlich auch gute Chancen für langfristig überdurchschnittliche Anlageergebnisse. Spezielle Verfahren der technischen Analyse oder der computerbasierten Modellierung können dabei wertvolle Unterstützung bieten. Ausführlichere Darstellungen zum gesamten Thema bietet das Buch «Cognitive Finance – Neue Sicht auf Wirtschaft und Kapitalmärkte» der beiden Autoren.

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