Aus einheitlichen Informationen resultieren nicht immer homogene Erwartungen, und Kapitalmärkte sind pfadabhängig.
Wirtschafts- und Finanztheorie stehen heute vor ernsthaften Herausforderungen. Ursache ist die zunehmend bestätigte Erkenntnis, dass diesen Theorien ein völlig realitätsfernes Menschenbild zugrundeliegt. Diese Einsicht zwingt die Wirtschaftswissenschaften, insbesondere aber die Kapitalmarkttheorie, zu einem eigentlichen Paradigmenwechsel. Dies wurde in der vorherigen Folge dieser dreiteiligen Abhandlung deutlich gemacht.
Die wichtigsten Fakten und Argumente liegen allesamt im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften. Was lässt sich daraus ableiten? Zum einen geht es um eine grundlegende Bestandesaufnahme, wie der kognitive Apparat des modernen Homo sapiens funktioniert. Zum anderen geht es darum, die Auswirkungen dieser Faktoren für das Geschehen an komplexen Kapitalmärkten zu verstehen.
Kapitalmärkte sind hochgradig kommunikationsintensive öffentliche Veranstaltungen. Unter dem Sammelbegriff der «Information» werden dort Meldungen, Mitteilungen, Nachrichten und selbst Gerüchte subsumiert und verarbeitet. Hinzu kommt eine nicht zu unterschätzende Fülle nonverbaler Kommunikation.
Der Erkenntnisbeitrag der kognitiven Neurowissenschaften liegt primär darin, Selektion, Rezeption und Interpretation der Signalflut durch die Marktteilnehmer nachzuvollziehen. Dieser Vorgang der «Informationsextraktion» ist zentrale Grundlage für die Bildung von Erwartungen und ihrer Umsetzung am Markt.
Die Neurowissenschaften lehren, dass dieser Vorgang höchst subjektiven Prägungen unterliegt und demzufolge bei substanziell gleicher Informationslage verschiedene Personen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen können. Folglich ist die gängige Vorstellung, wonach eine Information für jedermann die gleiche Bedeutung hat, unhaltbar. Die sich daraus ergebenden heterogenen Erwartungen sind Voraussetzung für das Funktionieren der Finanzmärkte, da sonst überhaupt kein Handel zustande käme.
Wo liegen nun die für das Verständnis der Finanzmärkte wesentlichen Erkenntnisse? Es gilt, Licht in die Blackbox menschlicher Kognition zu bringen. Dabei liegt der Schwerpunkt zunächst auf fünf Meta-Eigenschaften: Konstruktivismus, beschränkte Willensfreiheit, Mustererkennung, Pfadabhängigkeit und Theory of Mind.
Ein Bild konstruieren
Konstruktivismus bedeutet, dass unser Gehirn Dinge nicht wirklich real wahrnimmt, sondern sich statt dessen ein Bild der Aussenwelt «konstruiert», das von der Realität abweicht. Der Gehirnforscher Wolf Singer schreibt dazu in seinem Buch «Der Beobachter im Gehirn»: «…dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines ausserordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat.»
Konstruktivismus steht dafür, dass vom gleichen Informationssubstrat nicht nur heterogene Erwartungen abgeleitet werden. Aus der Informationsflut werden nicht von allen Teilnehmenden die gleichen Informationen zur Entscheidungsfindung ausgewählt.
Damit schliesst die aktuelle Diskussion an die «Satisficing Strategy» des Nobelpreisträgers für Ökonomie Herbert Simon an, die besagt, dass Menschen nicht optimale Entscheidungsgrundlagen herstellen, sondern lediglich «ausreichende». Dieser Zweig der Forschung rekurriert unter anderem auf das Phänomen der Heuristiken, also vom Gehirn schnell abrufbarer Entscheidungsroutinen, die ein Minimum an Zielerreichung gewährleisten, jedoch von einer vollständigen Informationsverarbeitung weit entfernt sind.
Wie Gehirnforscher Gerhard Roth darlegt, definieren «Erlebnisse, Erfahrungen, Assoziationen», die in unserem Gedächtnis abgelegt wurden, «die einmal bewusst waren und jetzt ins Unbewusste bzw. Vorbewusste abgesunken sind», welche Variablen wir in einem gegebenen Kontext in unsere Überlegungen einbeziehen. Dabei spielen frühere persönliche Erfahrungen eine entscheidende Rolle.
Somit bestimmen individuelle Vorprägungen unser Handeln zu einem weitaus grösseren Teil, als uns bewusst ist. Unbewusste Elemente der Gehirnaktivität bestimmen massgeblich darüber, wie Menschen Information verarbeiten, entscheiden und agieren. Diese «unbewusste Vorselektion» impliziert letztlich eine Beschränkung der Willensfreiheit.
Beschränkte Willensfreiheit
Die These der beschränkten Willensfreiheit ist ein wesentlicher Aspekt, der den «rationalen» Umgang mit Informationen als unmöglich erscheinen lässt. Sie ist auch eine der wissenschaftlich validen Grundlagen für Interpretations-Asymmetrie trotz Informations-Symmetrie.
Konstruktivismus und beschränkte Willensfreiheit sind neurowissenschaftlich sehr gut belegbare Treiber für heterogene Erwartungen. Parallel dazu gibt es andere kognitive Eigenschaften, die einer gewissen Homogenisierung Vorschub leisten. Zu letzteren gehört das Phänomen der Mustererkennung. Dahinter steht die interessante Erkenntnis, dass menschliche Gehirne unvollständige Teilinformationen durch Mustererkennung schnell zu einem kohärenten Ganzen komplettieren.
Auf diese Weise verarbeiten die Finanzmarktteilnehmer die zahlreichen Meldungen, die täglich auf sie einströmen. Jede Meldung repräsentiert lediglich Fragmente eines Gesamtbildes. Welche Verknüpfungen dann in den einzelnen Köpfen stattfinden, hängt von den zum Einsatz gelangenden Heuristiken ab, die wiederum von den persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen der einzelnen Personen abhängen. Damit repräsentiert die jeweilige Kurshistorie die Gesamtheit kollektiver Erfahrungen und daraus abgeleiteter Erwartungen, was eine wichtige Prämisse etwa für die Anwendung technischer Analyse darstellt.
Im Gegensatz zur Effizienzmarkt-Hypothese, die der Kurshistorie keine Bedeutung beimisst, sieht die Cognitive-Finance-Logik darin eine wichtige Informationsquelle. Denn: «Vergangenheit» – im Sinne früher «gelernter Schlussfolgerungen» oder «gemachter Erfahrungen» – hat stets einen wesentlichen Einfluss auf heutige Aktionen. Dies gilt insbesondere für die Art und Weise, welche aktuellen Informationen wie gewichtet werden und welche Interpretation und Einordnung sie erfahren. Marktverhalten wird zu einem dynamischen, ständig fortschreitenden und damit evolutorischen Prozess.
Diese intertemporale Verknüpfung liegt daran, dass das Gehirn ein pfadabhängiges System ist. Der Gehirnforscher Wolf Singer führt aus, dass das autobiografische Gedächtnis, das aus persönlichen Erfahrungen entsteht, einen hochgradigen Einfluss auf Denkabläufe nehmen kann. Er verweist auf zahlreiche Untersuchungen, die belegen, dass Erfahrungen «…tatsächlich zu strukturellen Veränderungen führen, die so massiv sind, dass man sie im Mikroskop sehen kann». Besonders bemerkenswert ist, dass es sich dabei nicht ausschliesslich um tatsächlich erlebtes Geschehen handelt, sondern auch um vom Gehirn selbst fantasievoll konstruierte Narrative, nach Singer also Geschichten, die wir «unwissentlich fortwährend erfinden».
Die Pfadabhängigkeit stellt somit eine Klammer dar zu einer Abgleichung und Homogenisierung der eigenen Handlungen mit dem Marktgeschehen. Andererseits erlaubt und induziert sie individuelle Abweichungen in der Interpretation identischer Informationen, schafft also auch eine Tendenz zur Heterogenisierung.
Einen wesentlichen Anteil am Phänomen der Pfadabhängigkeit haben besondere Erfahrungen wie etwa grosse individuelle Erfolge, die oft fälschlicherweise auf eigenes Können statt auf den Kontext zurückgeführt werden, aber auch kollektive Prägungen wie gemeinsam erlebte Börsencrashs. Wie MIT-Professor Andrew Lo erläutert, gibt es nichts, was sich in die Erinnerungen stärker eingraviert als kollektiv durchlebte Ängste.
Für eine erfolgreiche Positionierung als Investor ist es von entscheidender Bedeutung, zu verstehen, auf welchen Mustern und daraus abgeleiteten Szenarien die Mehrzahl der anderen Marktteilnehmer ihre Erwartungen aufbaut. Darauf eine Antwort zu finden, ist vor allem eine sozialpsychologische Aufgabenstellung. Dazu liefern die kognitiven Neurowissenschaften inzwischen sehr tiefe Einsichten; speziell im Forschungsgebiet der Theory of Mind (ToM). Der Gehirnforscher Wolf Singer führt dazu aus, dass «…die Evolution Gehirne hervorgebracht hatte, die zwei Eigenschaften aufwiesen: erstens, ein inneres Auge zu haben, (…) Protokoll zu führen über hirninterne Prozesse, diese in Metarepräsentationen zu fassen und deren Inhalt über Gestik, Mimik und Sprache anderen Gehirnen mitzuteilen; und, zweitens, die Fähigkeit, mentale Modelle von den Zuständen der je anderen Gehirne zu erstellen, eine Theory of Mind aufzubauen…»
Die anderen verstehen
Diese Fähigkeit, sich in kognitive Schemata anderer hineinzuversetzen, ist zwingend für den Erfolg an den Finanzmärkten, wo das Verhalten aller den Erfolg oder Misserfolg des Einzelnen bestimmt. Letztlich geht es also darum, zu verstehen, in welche Richtung bestimmte Populationen der Marktteilnehmer denken, wie diese sich mutmasslich positionieren (oder dies bereits getan haben) und welche Erfahrungen und Muster Grundlage ihrer Handlungen sein könnten.
Die Abgleichung der eigenen Positionen erfolgt dann im impliziten Austausch oder in echter Kommunikation mit anderen Marktteilnehmern. Verfahren der technischen Analyse bieten effiziente Möglichkeiten, um Inhalt, Ausprägung und mutmassliche Richtung der Positionierungen anderer Populationen abzuschätzen. Zu den sinnvollen Ansätzen und Methoden, eingebettet in ein tieferes Verständnis der Cognitive-Finance-Logik, bezieht der dritte Teil dieser Serie Stellung.
Als Fazit ist festzuhalten, dass Cognitive Finance und Erkenntnisse aus der kognitiven Neurowissenschaft eine erhebliche Vertiefung bisheriger Annahmen zum Verhalten von Individuen am realen Kapitalmarkt bieten. Die Cognitive-Finance-Logik geht explizit davon aus, dass selbst klar homogene Informationen am Kapitalmarkt nicht zwingend zu homogenen Erwartungen der Investoren führen. Auch weist die Cognitive-Finance-Analytik, im Gegensatz zur Markteffizienz-Hypothese, einer Betrachtung von Vergangenheitsdaten einen hohen Stellenwert zu, der sich in klaren Pfadabhängigkeiten spiegelt.
Schliesslich bietet der interdisziplinäre Cognitive-Finance-Ansatz im Vergleich zu den bereits bestehenden Ansätzen wie Behavioral Finance oder Neuro Finance wesentlich tiefere und inhaltlich besser vernetzte Einblicke in die Determinanten menschlicher Aktionen an komplexen Kapitalmärkten. Speziell in Relation zum Ansatz der Behavioral Finance ist die Perspektive der Cognitive Finance vergleichbar einem «Blick hinter den Vorhang». Der dritte Teil dieser Serie wird diese Gedanken ausführen und dabei speziell auch auf die praktische Anwendbarkeit der Cognitive-Finance-Methodik eingehen.
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