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13:55 Uhr - 30.06.2015

«Alle hielten mich für verrückt»

Leo Melamed, Ehrenpräsident der CME Group, hat den Terminhandel revolutioniert. Heute ist der Börsenpionier überzeugt, dass der Vormarsch der Computer erst begonnen hat.

Leo Melamed hat die Finanzwelt erschüttert. Als früherer Chef der Chicago Mercantile Exchange hat er den Markt für finanzielle Terminkontrakte erschaffen, die heute die Kurse von Währungen, Aktien und Bonds massgeblich beeinflussen. «Ich sah darin ein hilfreiches Instrument für viele Unternehmen. Berichte zur Einstellung des Parketthandels in Chicago» In der grössten Arena des Kapitalismus wird es still

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Das Problem war nur, dass es noch niemand gemacht hatte», erinnert sich der 83-Jährige mit polnischen Wurzeln. Seine Erfindung hat Chicago zu einem globalen Finanzzentrum und die zuvor unbedeutende Mercantile Exchange zu einem Koloss der globalen Börsenindustrie gemacht. Melamed rechnet damit, dass der Trend im Wertschriftenhandel künftig noch mehr in Richtung elektronische Automation geht. Versuche, den technologischen Fortschritt zu bremsen, hält er für hoffnungslos.

Herr Melamed, der Parketthandel wird nun auch in Chicago eingestellt. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Das ist für mich ein bittersüsser Moment, denn ich begann meine Karriere 1955 hier auf dem Tradingfloor. Ich studierte damals Rechtswissenschaften und verdiente nebenbei Geld als Läufer an der Mercantile Exchange. Als ich zum ersten Mal auf dem Parkett stand und all die Trader mit ihren farbigen Jacketts sah, ihr Geschrei hörte und die Hektik im Raum erlebte, fühlte ich mich wie auf dem Mars. Diese Welt zog mich sofort magisch an.

Statt Karriere als Anwalt zu machen, versuchten Sie Ihr Glück als Trader. Was reizte Sie an diesem Job?
Wenn der Handel am Morgen beginnt, hat man keine Ahnung, was alles passieren wird. Man muss jeden Tag neu herausfinden, wie sich die Lage an den Märkten entwickelt, und versuchen, sich richtig zu positionieren. Diese Herausforderung faszinierte mich.

Mit der Zeit haben Sie sich aber immer mehr auf die Börse selbst konzentriert. Wie kam das?
Am Anfang handelte ich Futures auf Eier und Schweinebäuche und dachte, dass ich meine Laufbahn als Trader beenden werde. Doch dann begann ich mich zusehends für die Börse als Unternehmen zu interessieren: ihre Vergangenheit, das Wachstum und die Zukunft. Ich hatte Ideen, um die Mercantile Exchange besser und grösser zu machen. 1967 stellte mich deshalb erfolgreich zur Wahl für den Börsenrat auf und wurde 1969 zum Chairman ernannt. Dieser Job war aber nicht leicht: Während ich in meinen späten Dreissigerjahren war, kamen mir die anderen Mitglieder in der Börsenleitung wie hundertdreissig vor.

Was hatten Sie denn für Ideen?
Ich testete zunächst alles Mögliche aus: Terminkontrakte auf Shrimps, Truthähne, Kartoffeln und viele andere Produkte. Doch nichts funktionierte. Dann kam mir die zündende Idee, dass Futures auf Währungen eine wesentliche Bereicherung für den Markt sein könnten.

Warum?
Ich war überzeugt, dass es keinen Unterschied macht, ob man Futures auf Schweinebäuche oder Franken handelt. Das Prinzip des Terminhandels ist immer dasselbe: auf Basis aktueller Informationen und Erwartungen einen Preis zu finden, zu dem man ein Produkt in der Zukunft verkaufen kann. Warum sollte das also mit Währungen anders sein? Als ich meine Idee aber dem Börsenvorsitz präsentierte, hielten mich alle für verrückt und lachten mich aus.

Wie haben Sie sich trotzdem durchgesetzt?
Ich brauchte eine einflussreichere Stimme. Deshalb fragte ich Professor Milton Friedman, der damals eine der grössten Autoritäten auf dem Gebiet der Ökonomie war. Er fand meinen Vorschlag ausgezeichnet. Als ich ihn dann in New York bei einem Frühstück im Hotel Waldorf Astoria traf, erklärte er sich schliesslich bereit, für 7500 $ ein ökonomisches Gutachten zu erstellen, wonach sich Devisen gut für den Handel mit Terminkontrakten eignen würden.

Und wie ging es weiter?
Anfang der Siebzigerjahre existierte noch das fixe Wechselkursregime von Bretton Woods. Die wichtigsten Devisenkurse wurden jeweils einmal jährlich an den Dollar angepasst, was nicht mehr zeitgemäss war. Die Kommunikationsmöglichkeiten waren weit fortgeschritten, und Nachrichten aus aller Welt bewegten täglich die Devisenmärkte. Kaum jemand hielt die offiziellen Kurse noch für realistisch, weshalb unter dem Tisch gehandelt wurde. Als das Bretton-Woods-System 1971 dann aufgelöst wurde, war das meine Chance: Im Mai 1972 lancierten wir den Futures-Handel mit sieben Währungen. Der Rest ist Geschichte.

Heute machen Finanzkontrakte mehr als 80% des Volumens im Terminhandel aus. Damit hat aber auch die Spekulation erheblich zugenommen.
Ich brauchte Jahre, um die Welt zu überzeugen, dass kein Markt ohne Spekulation funktioniert – gleichgültig, ob es um Aktien, Immobilien oder Kunst geht. Ein Investor, der beispielsweise eine Aktie von IBM (IBM 162.66 -0.19%) kauft, hofft darauf, dass ihr Wert steigt und ein Profit resultiert. Das ist doch kaum etwas anderes als Spekulation. Um einen Markt flüssig zu machen, braucht es jederzeit Käufer und Verkäufer, denn sonst gibt es enorme Preissprünge. Wenn eine Aktie heute 1000 $ und morgen plötzlich nur noch 100 $ wert ist, will sich niemand engagieren. Der Preis muss sich deshalb graduell, auf ordnungsgemässe Weise bewegen, wozu es Spekulanten braucht.

Manchmal gerät die Spekulation aber ausser Kontrolle. Was war der nervenaufreibendste Tag in Ihrem Leben?
Diese Antwort ist einfach: der grosse Börsencrash vom 19. Oktober 1987 – lange bevor der Computerhandel aufkam. Das war der mit Abstand schwierigste Moment in meiner Karriere, weil die Transaktionssysteme der Mercantile Exchange ihre Leistungsfähigkeit beweisen mussten. An einem einzigen Tag wurden 2,5 Mrd. $ zwischen Käufern und Verkäufern transferiert. Heute klingt das nach wenig. Damals kam das aber der Wirtschaftsleistung eines kleinen Landes gleich.

Inzwischen wird fast nur noch über Computer gehandelt. Wie haben Sie diesen Wechsel erlebt?
Der Übergang zum elektronischen Trading fand von 1992 bis 2006 statt und war oft schwierig. Bereits Ende der Achtzigerjahre, als ich an der Mercantile Exchange nicht mehr Chairman, sondern Imperator genannt wurde, war mir klar, dass der Handel immer mehr in Richtung elektronische Automation geht und sich Technologie nicht stoppen lässt. Unternehmen, die das nicht rechtzeitig erkennen, verblassen in der Geschichte, wie das bei Kodak oder Motorola der Fall war.

Wie sieht also die Zukunft der Börsen aus?
Für die Futures-Märkte spielt China eine zusehends wichtigere Rolle. In den letzten Jahren habe ich dort viel Zeit verbracht und bei der Gründung der China Financial Futures Exchange mitgeholfen. Ein weiterer Grundtrend war die Konsolidierung in der Branche. Deshalb haben wir den Zusammenschluss zwischen der Mercantile Exchange, dem Board of Trade und der New York Mercantile Exchange zur CME Group forciert. Ein ähnlicher Trend zeigte sich in der Übernahme der New York Stock Exchange durch die IntercontinentalExchange.

Was bedeutet das für den Handel?
Die Konsolidierung ist weitgehend abgeschlossen. Das ändert aber nichts daran, dass der technologische Fortschritt weitergeht und private Tradingshops immer mehr an Einfluss gewinnen. Statt auf dem Parkett findet der Handel heute praktisch nur noch mit Computern statt, die immer besser und schneller werden.

Dieses Rennen um Geschwindigkeit hat aber auch eine Kehrseite. Das hat der Flash Crash vom Mai 2010 gezeigt.
Zum Flash Crash kam es nicht wegen des Computerhandels. Das Problem war, dass die Infrastruktur der Börsen nicht mit den wachsenden Anforderungen mithalten konnte. Das wird nun behoben. Wenn Computer und andere Technologien genutzt werden, um die Märkte zu manipulieren, gehört das natürlich verboten. Den elektronischen Handel zu stoppen, ist aber unmöglich.

Futures können heute von überall auf der Welt gehandelt werden. Was heisst das für den Finanzplatz Chicago?
Chicago ist und bleibt die Hauptstadt des Terminhandels. Auch am Status von London oder Frankfurt als europäische Finanzzentren hat der technologische Fortschritt nichts geändert. Nur weil man heute von Timbuktu aus seine Order platzieren kann, heisst das noch lange nicht, dass Chicago für die CME Group an Bedeutung eingebüsst hat und die Stadt ihren Stellenwert verliert.

In der grössten Arena des Kapitalismus wird es stillNach über 165 Jahren wird der Parketthandel in der Tradingmetropole Chicago nächste Woche eingestellt. Die Kontrolle haben längst die Maschinen übernommen.
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