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18:05 Uhr - 19.12.2014

«Das internationale Geldsystem ist ohne Anker»

Niemand kann wissen, was der Effekt von negativen Zinsen ist. William White, ehemaliger Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), sorgt sich über die Stabilität des globalen Finanzsystems.

Um eine weitere Aufwertung des Frankens zu verhindern, hat die Schweizerische Nationalbank (SNB (SNBN 1054 -0.09%)) am Donnerstag Negativzinsen eingeführt. Sie bewegt sich in einem internationalen Währungs-«Nicht-System», in dem jedes Land nur für sich selbst schaut. Dieser Ansicht ist William White, der ehemalige Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel. Er warnt vor einem möglicherweise negativen Effekt des SNB-Entscheids, der gegen die Intuition läuft: Um ihre Verluste auszugleichen, könnten Banken die Kreditzinsen erhöhen.

William «Bill» WhiteDer 1943 in Kanada geborene William «Bill» White arbeitete für die Bank of Canada und die Bank of England, bevor er 1995 Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel wurde. Er ist dafür bekannt, schon vor 2007 gewarnt zu haben, dass das exzessive Kreditwachstum zu einer Finanzkrise führen wird. Nach seiner Pensionierung von der BIZ wurde er 2009 zum Vorsitzenden des OECD-Prüfungsausschusses für Wirtschafts- und Entwicklungsfragen ernannt. Der Ausschuss bewertet regelmässig Politikmassnahmen von OECD-Mitgliedländern.Herr White, die Schweizerische Nationalbank hat negative Zinsen eingeführt. Was halten Sie von dieser Massnahme?
Das ist ein Schritt mehr auf demselben Weg, dem die SNB schon seit Jahren folgt. Sie ist angesichts der Probleme auf der ganzen Welt mit einem Anstieg der Kapitalflüsse in den Franken konfrontiert. Ich nehme auch an, dass die SNB noch mehr Ärger am Horizont sieht: die Möglichkeit einer quantitativen Lockerung, Quantitative Easing, in Europa. Die SNB versucht die Banken zu überzeugen, nicht noch mehr Kapital in den Franken fliessen zu lassen. Und sie will die Banken dazu bringen, ihre längerfristigen Positionen in Franken abzubauen. Das zielt darauf, den Wert des Frankens zu senken oder zumindest den Druck von der Währung zu nehmen.

Sind Negativzinsen ein effektives Mittel dazu?
Wer weiss das schon? Sie hatten diese Art Wirkung beim Euro, als die EZB im Sommer eine Form von Negativzinsen einführte. Auch hier könnten sie diesen Effekt haben. Aber die Wahrheit ist: Der Übertragungsmechanismus ist weniger wichtig als das Signal der SNB: Sie teilt dem Markt mit, dass sie alles tun wird, was notwendig ist, um den Franken auf dem aktuellen Niveau zu halten. Die Nationalbank hatte dazu in den vergangenen Jahren schon verschiedene Massnahmen eingeleitet. Jetzt ist sie einen Schritt weiter gegangen. Die Hoffnung ist, dass alle Spekulanten, die auf einen starken Franken setzen, eingeschüchtert werden: Die SNB wird alles Notwendige tun, also werde ich vom Franken fernbleiben. Diese Strategie war bisher erfolgreich.

Also sind die Negativzinsen primär eine symbolische Massnahme?
Ein negativer Zins hat mehr als nur einen symbolischen Effekt. Aber wir wissen nicht, wie gross dieser Effekt sein wird. Zusätzlich gibt es ein Signal an die Händler, dass es keine Gewinne, sondern Verluste gibt, wenn man eine Long-Position in Franken eingeht.

Welche Massnahmen könnte die SNB noch einleiten, wenn der Kapitalzufluss in die Schweiz unvermindert anhält?
Wenn man die Zinsen auf –0,25% gesenkt hat, kann man auch weiter gehen: –1%, –2% und weiter. Ausserdem werden die Negativzinsen bisher nur auf Reserven über einer gewissen Höhe erhoben. Diese Grenze könnte gesenkt werden. Wenn weiter Kapital zufliesst, könnte die SNB noch stärker intervenieren.

Sind Kapitalkontrollen eine realistische Möglichkeit?
Das ist für die Schweiz nur sehr schwer vorstellbar. Das Land hat einen riesigen Leistungsbilanzüberschuss und riesige Portfoliowerte im Ausland. Andererseits werden Kapitalkontrollen in Schwellenländern bereits heute schon wieder breiter eingesetzt. Selbst der Internationale Währungsfonds sagte 2012, dass – wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden – Kapitalkontrollen in Ordnung sind. Sie nennen es nicht Kapitalkontrollen, sondern sprechen euphemistisch von der Steuerung des Kapitalflusses.

Wird der Schritt der SNB das heimische Zinsniveau weiter senken?
Vielleicht ja, vielleicht nein. Ein Argument ist, dass, wenn der Leitzins gesenkt wird, auch die anderen Zinsen folgen. Das ist aber vielleicht voreilig. Die Schweizer Banken erleiden nun Verluste auf ihren Überschussreserven bei der SNB. Banken könnten die Zinsen auf Kundeneinlagen reduzieren, um diese Verluste auszugleichen. Aber das hat Grenzen: Die Kunden müssen kein Geld bei den Banken halten, sondern könnten es in Form von Banknoten abziehen. Die Banken könnten ihre Verluste aber auch auf eine andere Art ausgleichen, und die wäre besorgniserregend: Sie könnten die Zinsen auf Krediten erhöhen. Statt die Kreditvergabe und Konsumausgaben zu erleichtern, könnten die negativen Zinsen in die entgegengesetzte Richtung wirken.

Negative Zinsen könnten also die Kreditkosten erhöhen?
In einem Umfeld, in dem die Zinsen nicht mehr weiter fallen können – die sogenannte Zero Lower Bound –, ist es wie bei der Quantenmechanik. Machen wir einen kleinen Exkurs in die Physik: Die klassische Newton’sche Mechanik funktioniert nur, wenn die Masse eines Körpers gross genug ist. Wenn die Masse zu klein ist, findet man sich in der Welt der Quantenmechanik wieder. Das sind zwei völlig verschiedene Wege, auf die Welt zu schauen. Die Zero Lower Bound könnte die Quantenmechanik der Geldpolitik sein. Die Dinge funktionieren nicht wie gewöhnlich. Wer das trotzdem denkt, der könnte einen sehr gefährlichen Fehler begehen.

Aber werden Schweizer Banken nun tatsächlich die Kreditzinsen erhöhen?
Ich weiss es nicht. Die Banken könnten die Verluste für einige Zeit schlucken. Sie könnten sich auch entscheiden, wie es die SNB will, das Geld in andere Währungen zu stecken, in der eine positive Verzinsung erzielt werden kann.

Mit der Untergrenze zum Franken hat sich die SNB an die Geldpolitik der Eurozone gebunden. Wie kann sie sich jemals wieder von der EZB entkoppeln?
Die Hoffnung ist, dass sich der Aufwertungsdruck bald legt, wenn die Zinsen anderswo erhöht werden. Dann könnte die SNB ihr Exposure zum Euro reduzieren. Aber das kann noch eine Weile dauern.

Wer wird von den negativen Zinsen profitieren, wer verliert?
Die Banken verlieren, da sie Zinsen auf ihre Reserven bezahlen müssen. Der öffentliche Sektor, die SNB, gewinnt. Wenn die Banken nicht die Zinsen der Kundeneinlagen senken, sondern die Kreditzinsen erhöhen, könnten die Schuldner den Preis zahlen. Das ist der vorher genannte Quanteneffekt: Wenn die Zinsen sinken, sollten normalerweise die Sparer darunter leiden.

Die SNB muss auf die Geldpolitik der EZB antworten. Ist es nicht gefährlich, wenn die Geldpolitik eines Landes ein anderes so stark beeinflusst?
Momentan leben wir einem internationalen Geld-Nicht-System. Niemand muss irgendwelche Regeln befolgen. Jeder Staat tut das, was seiner Meinung nach in seinem kurzfristigen Interesse liegt. Die wahre Schwierigkeit ist: Was im kurzfristigen Interesse eines Staates liegt – beispielsweise einer ultralockeren Geldpolitik zu folgen –, könnte zu Problemen führen. Es könnte nicht im langfristigen Interesse liegen. Und wenn die lockere Geldpolitik den Wechselkurs beeinflusst, wirkt sie auch auf andere Länder. Fast jedes Land der Welt setzt auf lockerere Geldpolitik: Wir haben schlichtweg keine Ahnung, wie das enden wird. Wir sind in völlig unbekanntem Gebiet. Und das sorgt mich am meisten. Die SNB hat sich ganz gut gehalten, denn dieses globale Nicht-System wurde ihr aufgezwungen. Die Schweizer tun das Beste für sich, denn das machen alle anderen ja auch.

Was sind die Konsequenzen dieses Nicht-Systems?
Es gibt keinen automatischen Anpassungsmechanismus mehr für Überschüsse oder Defizite in der Leistungsbilanz – sie kann völlig aus der Hand gleiten. Es gibt Effekte von grossen auf kleine Länder, wie die Schweiz. Das internationale Geldsystem ist ohne Anker, das ist gefährlich. Jeder ist auf sich gestellt. Und wir wissen nicht, was die langfristigen Konsequenzen sind. Wenn Länder in grosse Probleme geraten, wie momentan Russland, gibt es niemanden, dessen Aufgabe es wäre, Liquidität bereitzustellen, wenn sie dringend gebraucht wird. Sollte eine Anzahl kleinerer Länder oder ein grosses Land in arge Finanzprobleme geraten, besteht grosse Gefahr: Die Ressourcen des Internationalen Währungsfonds sind sehr begrenzt. Die Idee, dass alle Länder in ihrem eigenen Interesse handeln sollen, man nur die Wechselkurse frei schwanken lassen muss, und das ganze System wäre dann in Ordnung – das ist eine gefährliche Illusion.

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