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14:03 Uhr - 13.04.2015

«Kluft zwischen Athen und Gläubigern ist wohl grösser als 2012»

Dass ein Grexit weniger Angst macht als 2012, könnte ihn als politischen Unfall gar wahrscheinlicher machen. Die S&P rechnet aber nicht damit, erklärt Chefanalyst von S&P Moritz Kraemer im Interview mit FuW.

Die Brandmauer um Griechenland sei höher als 2012, erklärt Moritz Kraemer, der das Rating von Staaten der Agentur Standard & Poor’s (S&P) leitet. Doch genau deswegen könnten die Gläubiger weniger kompromissbereit sein als damals. Ein Ausscheiden Griechenlands wäre zwar ein Unfall, auszuschliessen sei es indes noch immer nicht. Niemand wisse zudem, ob die Märkte danach auch am Verbleib anderer Staaten in der Währungsunion zu zweifeln begännen. Selbst Zweifel hat die Agentur an Frankreich – dem einzigen Land neben Hellas, für das sie noch einen negativen Ausblick vergibt – sowie an der Wachstumsfähigkeit der Eurozone.

Herr Kraemer, hat die Gefahr eines Euroaustritts Griechenlands abgenommen?
Wir gehen davon aus, dass Griechenland im Euro verbleibt. Das Risiko eines Austritts bleibt zwar bestehen. Banken mit Hauptsitz in der Eurozone sind aber nur noch mit weniger als 20 Mrd. € direkt gegenüber Griechenland exponiert. Gemessen an der Gesamtbilanzsumme von 30 Bio. € ist das verkraftbar.

Und wie schätzen Sie die Ansteckungsgefahr für andere Staaten ein?
Die Brandmauer um Griechenland ist höher als 2012, eine Ansteckung der Renditeaufschläge anderer Länder somit unwahrscheinlicher. Denn wer gegen die Staatsanleihen anderer Euroländer wetten wollte, hätte als Gegenspieler nicht nur den Rettungsmechanismus ESM, sondern auch das Kaufprogramm für Krisenstaaten der EZB aus dem Jahr 2012, die Outright Monetary Transactions, kurz OMT. Und auch die politische Lage in der Eurozone hat sich verändert.

Was tickt in der Politik anders als 2012?
Die Regierungen haben weniger Angst vor einem Dominoeffekt. Die Kluft zwischen der Position der Gläubiger auf der einen und Griechenlands als Schuldner auf der anderen Seite ist dadurch einerseits zwar womöglich weiter als 2012. Trotzdem wäre ein Scheitern der Verhandlungen über die Bedingungen weiterer Finanzierung wohl eher ein Unfall, der von keiner Seite gewollt wäre. Jedenfalls kann sich die Politik heute das Szenario eines Grexit besser vorstellen.

Wie viel Zeit bleibt?
Wir erwarten, dass ohne eine Einigung und die Auszahlung offizieller Tranchen der europäischen Partner der griechischen Regierung in diesem Monat die liquiden Mittel ausgehen könnten. Damit würde sich die Situation stark zuspitzen.

Ein Euroaustritt ist somit noch immer nicht auszuschliessen. Was würde danach passieren?
Es käme zu weiterer Kapitalflucht, die bisher ja durch Liquidität von der EZB oder die ihr genehmigte und durch die nationale Notenbank geschöpfte Notfinanzierung ausgeglichen wurde. Wird eine Bank insolvent, übersteigen also ihre Verpflichtungen den Wert der Anlagen, darf die EZB beides nicht mehr zulassen.

Wird die EZB nicht eine Ausnahme machen können?
Die EZB wird sich nicht im ersten Jahr ihrer Aufsicht schon dem Vorwurf aussetzen wollen, insolvente Banken zu finanzieren.

Wie ginge es weiter?
Griechenland würde wohl Kapitalverkehrskontrollen einführen, das Abheben von Bargeld würde beschränkt, wie in Zypern 2013.

In Zypern hat das funktioniert.
Im Gegensatz zu Zypern ist Griechenland aber nicht mehr in einem Finanzierungsprogramm der Troika. Die Bankeinlagen sind zudem nur national versichert, und der griechische Staat verfügt nicht über die Ressourcen, um glaubhaft die Einlagen zu garantieren und gleichzeitig die Staatsausgaben zu finanzieren. Womöglich geht selbst Letzteres für sich genommen bereits kurzfristig über die finanziellen Möglichkeiten Athens hinaus.

Welche Massnahmen blieben Athen?
Wenn der Zufluss an Euro nicht zurückkehrt, hätte das Land keine andere Wahl, als Schuldscheine, oder IOU, an Lieferanten, öffentliche Bedienstete und Pensionäre auszugeben. Sie würden als De-facto-Ersatzwährung für Transaktionen des täglichen Gebrauchs genutzt werden. Der Euro würde noch als Wertaufbewahrungswährung verwendet.

Was wären die Folgen?
Für Griechenland wären sie dramatisch. Für die Eurozone wäre der direkte Schaden überschaubar. Aber der Markt könnte beginnen, auch andere grenzüberschreitende Verträge, also etwa Schuldtitel, die in einem anderen Euroland ausgegeben wurden, neu zu bewerten. Er würde wieder eine Währungsprämie auf die Renditen schlagen.

Die Spreads könnten also wieder steigen
Ja. Die Diskussion ist aber alles andere als neu. Es ist zu erwarten, dass Investoren dieses Risiko teilweise in den Risikoaufschlägen eingepreist haben, und das, obwohl diese auf rekordtiefem Niveau notieren.

Dennoch: Es wäre der erste Austritt eines Landes aus dem Euro. Die Märkte könnten fürchten, dass andere Länder folgen.
Das stimmt natürlich. Auffällig ist aber doch, dass anders als 2012 die Renditen von Staatsanleihen anderer Länder nicht mit denen griechischer Bonds korrelierten und kaum auf die Turbulenzen in Griechenland reagiert haben. Es hat also eine gewisse Impfung, eine Immunisierung des Finanzsystems gegen die Übertragungsrisiken, stattgefunden.

Was ist mit den Marktrisiken der Anleihen, die die EZB kauft? Die Zinsen sind rekordtief, Verluste beim nächsten Zinsanstieg programmiert. EZB-Präsident Mario Draghi hat mitgeteilt, bis zu einer Rendite von –0,2% kaufen zu wollen. Gerade die grösste Position, die Bunds, rentiert kaum oder negativ.
Das Anleihenkaufprogramm der EZB hat Buy-and-Hold-Charakter. Wir erwarten, dass der überwiegende Teil der Anleihen bis zur Fälligkeit gehalten wird. Bis dahin findet keine Neubewertung statt, es gibt also keine Buchverluste. Zudem rentiert bereits jetzt fast ein Drittel der Anleihen im Umlauf negativ, durchschnittlich zu 0,1%. Die Verluste dürfen beim Kauf von 50 Mrd. € pro Monat damit überschaubar bleiben, besonders da die EZB ja auch länger laufende Anleihen mit – noch – positiver Rendite kauft. Im schlimmsten Fall gilt: Die EZB könnte mit negativem Eigenkapital noch immer funktionieren.

Das gilt auch für die SNB. Trotzdem hat sie aus Angst vor einer weiteren Euroabwertung und damit Verlusten auf ihrer Bilanz kurz vor Ankündigung des EZB-Kaufprogramms den Mindestkurs aufgehoben. In der Praxis scheint der politische Widerstand gegen Bilanzrisiken der Notenbanken oft gross. Gibt es Zentralbanken, die wirklich mit negativem Eigenkapital operierten?
Ja, hier gibt es Erfahrungen. Die Zentralbanken etwa von Chile, Tschechien und Israel haben zum Teil über einen längeren Zeitraum trotz negativem Eigenkapital erfolgreiche und glaubwürdige Geldpolitik umgesetzt. Das Vorsichtsmotiv, aus dem Banken Eigenkapital halten müssen, trifft auf Zentralbanken nicht zu. Sie können die Zahlungsmittel zur Begleichung ihrer Verbindlichkeiten selbst schöpfen.

Wie sieht S&P die Entwicklung der Eurozone?
Der tiefe Ölpreis, der schwache Euro und die niedrigen Zinsen unterstützen die Erholung. Der Konsens für das Wachstum in der Zone ist von 1 auf 1,5% gestiegen. Das sind keine berauschenden Raten. Sowohl bei den Privaten als auch bei der öffentlichen Hand bleibt die Nachhaltigkeit der Schulden damit problematisch. Für die weitere Zukunft sind wir eher skeptisch, viele Wachstumstreiber sind weggefallen.

Welche?
Zunächst einmal ist das kreditgetriebene Wachstum zu Ende. Aber auch die demografische Entwicklung legt nahe, dass die Eurozone ihren Sweet Spot hinter sich hat. Produktivität und Potenzialwachstum wurden durch die verbreitete Langzeitarbeitslosigkeit beschädigt. Auch von der Globalisierung gehen weniger Impulse aus, die Ausweitung von Handel und Arbeitsteilung hat global abgenommen. Und schliesslich gibt es Fragezeichen beim Fortschritt. Wie viel ist etwa von der IT-Revolution bereits eskomptiert?

Was kann die Eurozone tun, um wieder mehr zu wachsen?
Für die Eurozone steht und fällt alles mit den Strukturreformen. Der Unterschied ist von Land zu Land sehr gross.

Wie sehen Sie die Chancen, dass die nötigen Reformen gemacht werden?
Wir glauben nicht, dass im laufenden Jahr noch grosse Fortschritte erzielt werden, es hat sich eine gewisse Reformmüdigkeit breitgemacht. Wir glauben aber, dass die Haftung für Verluste im Bankensystem etwa beim gemeinsamen Abwicklungsfonds mit der Zeit und schrittweise mutualisiert wird.

Ist das europäische Bankensystem heute sicherer als vor ein paar Jahren?
Die Überwachung durch die EZB seit November 2014 bedeutet in manchen Ländern sicher einen Glaubwürdigkeits- und Qualitätssprung in der Aufsicht. Und auch die Abwicklung ist zumindest leichter vorstellbar geworden. Dank der von der EU per Richtlinie eingeführten vermehrten Verlustbeteiligung der Bankgläubiger besteht ein grösserer verlustabsorbierender Puffer.

Ist der Mechanismus funktionstüchtig?
Die Abwicklung der Bad Bank von Hypo Alpe Adria, der Heta Asset Resolution, war der erste Funktionstest für das neue Regime. Es hat ihn bestanden. Das bedeutet aber auch, dass die Institute mehr Mühe als in der Vergangenheit haben werden, Gläubiger zu finden.

Und wie steht es mit der Eigenkapitalausstattung?
Europas Banken haben lange von der besonders billigen Langfristfinanzierung durch die EZB profitiert. Kapitalmässig stehen sie im Durchschnitt weniger gut da als ihre Konkurrenten in den USA, auch wenn sie sich mittlerweile verbessert haben. Die USA haben entschlossener auf die Bankenprobleme in der Krise reagiert.

In den europäischen Banken schlummern noch immer schlechte Kredite.
Ja, und ihre Quantifizierung bleibt mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Darunter leidet die Kreditvergabe und damit die Realwirtschaft noch immer. Private und Unternehmen sind zudem nach wie vor hoch verschuldet, vielerorts zu hoch, um neue Kredite nachzufragen.

In der Krise wurde die Eurozone von einem Reigen von Herabstufungen durch die Agenturen erfasst.
Neben Griechenland und Zypern, die ja beide ihre Verbindlichkeiten umgeschuldet haben, haben wir nur Portugal unterhalb der Investment-Grade-Grenze bewertet. Im Vergleich zur Panik an den Märkten waren wir also eher zurückhaltend, würde ich sagen.

Die Märkte lagen also falsch?
Ich fasse das gern so zusammen: Die Märkte haben sieben der letzten zwei Defaults vorausgesagt. Gemäss CDS-Prämien und Renditen hätten nämlich auch die Regierungen von Slowenien, Irland, Italien, Spanien und Portugal umschulden müssen – neben Griechenland und Zypern. Sie taten es nicht. Unsere Ratings haben hier erfolgreicher unterschieden zwischen beiden Gruppen als die Kapitalmärkte.

Wie steht es denn um Italien?
Die Arbeitsmarktreform war von grosser symbolischer Bedeutung. Nun muss eine Reihe institutioneller Reformen folgen, unter anderem der Justiz und auch der Legislative. Der Privatsektor in Italien ist sehr sparsam, das ist wichtig angesichts der enormen Staatsschuld. 2015 sehen wir ein Ende der langen Rezession, was auch mit dem stabilen Ausblick des BBB– ausgedrückt wird.

Und Frankreich?
Es ist der einzige Staat neben Griechenland, bei dem unser Ausblick noch negativ ist, was eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 33% für einen Downgrade ausdrückt  – allerdings mit AA auf einem weit höheren Niveau als Italien. Wir sehen in Frankreich aber wegen des Reformmangels eine Wachstumskrise. Das Steuersystem und der Arbeitsmarkt beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit. Wir sind skeptisch, denn es regt sich politischer Widerstand gegen die Reformen, bevor sie eingeführt wurden.

Der französische Präsident vereint viel Macht auf sich. Könnte er die Reformen nicht dennoch durchboxen?
Wir halten es für zumindest unsicher, dass Präsident Hollandes Regierung in der zweiten Hälfte seines Mandats die Reformen beschleunigen wird. Zu bedenken ist dabei zusätzlich, dass der Effekt von Strukturreformen, wenn sie denn umgesetzt werden, auch nach ihrer Implementierung noch auf sich warten lässt. Das enttäuschende Wachstum Frankreichs, etwa im Vergleich zu Deutschland oder neuerdings Spanien, bleibt somit wohl noch eine Weile erhalten.

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