Die Einigung in Brüssel entzückt die Finanzmärkte, aber sie basiert auf viel Vertrauensvorschuss.
Am Dienstag beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU ein mehrjähriges Finanzpaket im Wert von 1824,3 Mrd. €. (zu Preisen von 2018). Es enthält den heiss diskutierten Wiederaufbaufonds (Next Generation EU, NGEU) sowie den künftigen EU-Haushalt 2021 bis 2027. Nicht nur die Teilnehmer an den zähen Verhandlungen sprechen von einem historischen Durchbruch und klopfen sich auf die eigenen Schultern. Auch die Finanzmärkte reagieren euphorisch.
Europäische Aktien haussieren, der Risikoaufschlag bei Staatsanleihen ist eingebrochen und der Euro klettert auf 1.16 $. Was genau steckt hinter dem Deal, und was bedeutet er für Anleger?
Der Deal
Die EU feiert Verhandlungsdurchbrüche gerne – und häufig vorschnell – als historische Ereignisse. Diesmal trifft das Attribut jedoch zu, denn erstmals haben sich die 27 Mitgliedsländer darauf geeinigt, in grossem Umfang gemeinschaftlich Schulden zu machen, um nationale wirtschaftspolitische Programme zu finanzieren (NGEU). Die Europäische Kommission wird im Auftrag der EU bis zu 750 Mrd. € (zu Preisen von 2018) am Kapitalmarkt aufnehmen. Zwar begibt die EU bereits vereinzelt Bonds, aber der Beschluss bedeutet einen Schritt in Richtung einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik.
Wie geht es weiter? Das Abkommen muss vom Europäischen Parlament abgesegnet werden. Dort haben die grössten Fraktionen bereits Änderungsabsichten angekündigt. Sie betreffen allerdings vor allem den EU-Haushalt. Dann wandert es in die nationalen Parlamente fast aller EU-Staaten. Die Aussichten auf Opposition sind in den Niederlanden am grössten. Aber die Regierung verfügt über eine solide Mehrheit. Läuft alles nach Plan, ist das Paket Ende Jahr unter Dach und Fach.
Die ersten Gelder fliessen frühestens 2021. Italien erhält am meisten: 209 Mrd. €, aufgeteilt in Darlehen (128 Mrd. €), die bis 2058 zurückgezahlt werden müssen, und Subventionen (81 Mrd. €). Spanien erwartet 140 Mrd., Griechenland 72 Mrd. €. Die Mittel sind an konkrete Investitionsprojekte gebunden, die die Regierungen diesen Herbst vorlegen müssen. Wie viel Geld am Ende tatsächlich vor Ort in Projekte fliesst, wird sich zeigen. Die Erfahrung mit EU-Fonds rät zu Vorsicht: Jedes Jahr bleiben Milliarden ungenutzt.
Die neuen EU-Anleihen
Bereits Ende September wird die EU die ersten Anleihen emittieren. Sie sollen die EU-Kurzarbeitsversicherung Sure finanzieren, die im Mai beschlossen wurde. 100 Mrd. € sind vorgesehen und ergänzen die 750 Mrd. € der NGEU, die ab 2021 am Markt aufgenommen werden.
Die EU rückt damit zu einem der grössten Anleihenemittenten auf. Zählt man die 13 Mrd. € hinzu, die die EU 2020/21 sowieso aufnehmen muss, steigt das Emissionsvolumen der nächsten vier Jahre auf 900 Mrd. €. Auch da ist offen, ob die Maximallimite tatsächlich ausgeschöpft wird. Das ist die Konsequenz des Kompromisses, der zu Wochenbeginn den Durchbruch ermöglichte: Der Anteil der Kredite im NGEU wurde erhöht, die Subventionen wurden gesenkt. «Südeuropa wird die Kreditlimite ausschöpfen, aber in Kerneuropa wird darauf verzichtet, wenn man sich über eigene Anleihen günstiger finanzieren kann», vermutet Rez Moghadam, Chefökonom von Morgan Stanley (MS 50.37 -0.38%).
«Die neuen Bonds sind eine wichtige Erweiterung der Anleihenpalette, aber sie werden die nationalen Staatsanleihen nicht ersetzen, denn diese sind weiterhin liquider», sagt Andrea Iannelli, Fixed-Income-Spezialist bei Fidelity International. Die Anleihen müssten den Beweis, ob sie künftig die neuen risikolosen Benchmarkpapiere Europas werden, noch antreten. Auf jeden Fall bringen sie eine Erleichterung in diesem Segment. Deutsche Bundesanleihen sind wegen der jahrelangen massiven EZB-Ankäufe knapp geworden.
Das neue Angebot an erstklassigen EU-Papieren – sie werden mit dem Rating AAA (S&P: AA) bewertet – bringt Entlastung. «Die neuen Papiere dürften weitgehend gleich wie ESM- und EFSF-Anleihen verzinst werden, ohne Preisabschlag, wie er sonst bei einem zusätzlichen Angebot resultiert,» sagen die Analysten der Danske Bank (DANSKE 13.925 -2.25%) voraus. Bislang beträgt der Aufschlag 0,3 bis 0,4 Prozentpunkte zu deutschen Bundesanleihen. S&P bezeichnet den EU-Deal bereits als positiven Faktor für die Kreditqualität europäischer Staaten.
Die Euphorie an den Märkten
Die Märkte reagieren unisono euphorisch. Das ist erstaunlich. Die Staatsschulden nehmen nicht ab, sondern sie steigen künftig nur weniger als ohne die EU-Hilfen. Die jahrelange, kontrovers geführte Debatte über das Für und Wider einer gemeinsamen Fiskalpolitik scheint wie weggeblasen. Bedenken, dass der Weg zu einer Transferunion geöffnet worden ist, sind, wenn überhaupt, nur vereinzelt zu hören.
Christoph Weil von der Commerzbank (CBK 4.585 1.33%) versteht die Einigung als ersten entscheidenden Schritt in Richtung Vergemeinschaftung der Schulden. In künftigen Krisen liege die Hürde für eine weitere Schuldenaufnahme der EU viel niedriger, schreibt er in einem Kommentar. Trotzdem dürften in Zukunft nicht alle Mitglieder diesen Weg zur Transferunion mitgehen. Konfliktpotenzial bleibt also reichlich vorhanden.
Momentan interessiert das nur wenige. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Ausgabenschub, der zusammen mit der Geldschöpfung der EZB und den nationalen Konjunkturprogrammen wirtschaftliche Impulse liefern soll. Stellvertretend für diese Stimmung betont UniCredit-Chefökonom Erik Nielsen: «Dies ist kein Nullsummenspiel – alle gewinnen!» Vor allem mit Blick auf die USA, deren Wachstumsvorsprung jahrelang als gegeben galt, scheint Europa seine relative Position nun zu verbessern.
Hauptprofiteure könnten Aktien sein. Der Vermögensverwalter Amundi sieht Aufwärtspotenzial bei europäischen Aktien, besonders falls die Konjunktur sich weiter erhole. Morgan Stanley betont, dass hier Finanzwerte im Vorteil seien.
Auch der Euro bleibt im Aufwind, sind sich die meisten Experten einig. Nicht zuletzt nehme wegen der neuen EU-Anleihen seine Bedeutung als Reservewährung für internationale Anleger zu. Nur bei den Staatsanleihen ist das Kurspotenzial begrenzt. Sie haben die positiven Ergebnisse bereits vorweggenommen. Experten raten zu taktischen Gewinnmitnahmen.
Was bleibt also vom historischen Durchbruch in Brüssel? Die treffendste Einschätzung kommt von Clemens Fuest, dem Leiter des Ifo-Instituts: Die EU habe bewiesen, dass sie sich tiefgreifend verändere, die Beschlüsse seien allerdings ein Vertrauensvorschuss an die Empfängerländer. Ob sich die hoch gesetzten Erwartungen also erfüllen, hängt nun von ihnen ab. Mit Blick auf die Vergangenheit ist das für Europa eine gewagte Wette.
Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.