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14:00 Uhr - 30.01.2020

Wege aus dem Nullzinsumfeld

Der Finanzmarkt rechnet weiterhin mit sinkenden Zinsen. Doch ewig wird die Inflation nicht fernbleiben. Am frühesten dürfte sie in den USA in Bewegung kommen.

Die US-Notenbank hat 2019 den Zinsnormalisierungsprozess abgebrochen und mit drei Zinssenkungen kontroverse Reaktionen ausgelöst. Der Finanzmarkt – gemessen an den Futures-Preisen – erwartet, dass die Zinsen 2020 noch weiter fallen. US-Präsident Donald Trump forderte noch viel tiefere Zinsen, um seine Wiederwahl zu begünstigen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob wir je aus der gefühlten Nullzinslandschaft herauskommen – und wenn ja, auf welchem Weg.

Der Rückgang der Renditen für qualitativ gute Staatsschuldner über die vergangenen vierzig Jahre zeigt, dass die Inflation und die Inflationserwartungen über die Jahrzehnte gebändigt wurden. Ursprung der Entwicklung war die radikale Umkehr der US-Geldpolitik im Gefolge der zweiten Erdölkrise. Dieser Kurs wurde – mitunter recht pragmatisch – in den Jahren danach fortgesetzt und von den wirtschaftlich stabilen Ländern übernommen.


Zum Autor

Renato Beckmann ist Geschäftsführer von Wyss & Partner, Vermögensverwaltung und Anlageberatung, Wangs.


Nach der Finanzkrise von 2008/09 hat sich der Renditerückgang nochmals beschleunigt, was mutmasslich auf zwei Hauptursachen zurückzuführen ist. Zum einen hat die stark gewachsene, aber auch volatile Risikoscheu bei den Investoren die Preise von liquiden und sicheren Staatsanleihen übermässig erhöht und die Renditen teilweise unter null gedrückt. Zum anderen ist besonders in den USA das Sparen wichtiger geworden. Wesentlichen Einfluss hatte auch das staatliche Verhalten, das auf eine schnelle Beseitigung der hohen Staatsdefizite ausgerichtet war.

Die demografische Falle

Die Studien der Uno zur globalen Bevölkerungsentwicklung aus dem Jahr 2019 zeigen auf, dass der Trend zu einem Nullwachstum der Weltbevölkerung weitergehen wird. Abnehmendes Bevölkerungswachstum und steigende Lebenserwartung bringen erhebliche Verschiebungen in der Alterspyramide.

Von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung ist die strukturelle Veränderung im Verhältnis zwischen Rentnern und Arbeitstätigen. Hier ergeben sich über den Zeitraum von vierzig Jahren substanzielle Veränderungen. In China verdreifacht sich der relative Rentneranteil und steigt auf mehr als 50%, eine ähnliche Quote wird in Westeuropa erreicht. In Japan klettert die Quote gar auf 76%. Die USA bleiben die «jüngste Nation», wenn auch der Anteil der Rentnerkategorie hier von 25 auf 40% steigen wird.

Diese demografischen Veränderungen implizieren zwei mehr oder weniger naheliegende Folgen. Als Erstes wird die Last der aktiven Bevölkerung zur Finanzierung der Rentner massiv steigen. Als Zweites wird der demografische Trend das Produktionspotenzial limitieren, da der Faktor Arbeit zur Mangelware wird.

Zweifellos gibt es hierzu Korrektive wie etwa die Erhöhung des Rentenalters, verstärkte Partizipation im Arbeitsprozess oder gezielte Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. In der Summe ist zu vermuten, dass wir einer säkularen Stagnation im Produktionspotenzial entgegentreiben und gleichzeitig mit einer steigenden Konsumnachfrage konfrontiert werden.

Neuorientierung der Geldpolitik

Die Demografie wird zu einem volkswirtschaftlichen Ungleichgewicht führen, das über den Preis- und Zinsmechanismus bereinigt werden wird. Was ist darunter zu verstehen? Nach der Finanzkrise haben die Notenbanken den Fokus von der Teuerungsbekämpfung auf die Verhinderung einer Deflation gelegt. Dazu wurden ungewöhnliche Massnahmen ergriffen und neue Orientierungshilfen gesucht. In den letzten Jahren erlebte das Konzept des neutralen Zinses starke Aufmerksamkeit. Grundsätzlich geht es um ein volkswirtschaftliches Modell, bei dem der reale Zins gesucht wird, der Preisstabilität bei ausgelasteten Kapazitäten ermöglicht. Er ist nicht beobachtbar und wird geschätzt.

Eines der meistzitierten Modelle stammt von den Ökonomen Thomas Laubach und John C. Williams. Dieser Modellansatz hat in der Formulierung der Geldpolitik in den USA einen wichtigen Stellenwert erhalten. Einer der Entwickler des Modells ist John C. Williams, Chef der New York Fed und Vizevorsitzender des Offenmarktausschusses, der über die geldpolitischen Massnahmen entscheidet.

Der neutrale Zins soll den für die Geldpolitik Verantwortlichen einen Orientierungspunkt geben. So signalisieren reale Zinsen, die unter dem neutralen Satz liegen, eine stimulierende Politik, und reale Zinsen, die höher als der neutrale Satz liegen, einen dämpfenden Effekt auf das Wachstum. Nach diesem Konzept war die Fed-Politik seit der Finanzkrise von 2008/09 mit negativen realen Leitzinsen bis 2018 deutlich stimulierend. Der Versuch zur Normalisierung der Geldpolitik endete 2019 mit erneuten Zinssenkungen.

Die US-Notenbank überdenkt gegenwärtig das Inflationsziel von 2% und möchte dies neu als ein Ziel definieren, das im langfristigen Durchschnitt erreicht werden soll. Das heisst konkret, dass in Zukunft eine Inflation von 3% durchaus für längere Zeit toleriert werden könnte.

Damit stellt sich allerdings die Frage, ob die Inflation überhaupt in Bewegung kommt. Die Geldpolitik ist seit der Jahrhundertwende expansiv, und trotzdem konnte das Inflationsziel von 2% nicht dauerhaft erreicht werden. Es werden verschiedene Gründe angeführt, weshalb der Inflationsmechanismus nicht funktioniert, aber eine klärende Antwort bleibt letztlich aus.

Inflation wird zurückkehren

Es wäre jedoch vermessen, anzunehmen, dass die Inflation auch über die nächsten Jahre keine Rolle spielen wird. Dafür gibt es einige Gründe: Die Beschäftigung hat stark zugenommen; in den USA herrscht rekordniedrige Arbeitslosigkeit. Mit langer Verzögerung beginnen die Lohnkosten schneller zu wachsen. Dies gilt für die USA wie auch für Europa. Zudem herrscht ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften.

Die Globalisierung hat ihren Höhepunkt längst überschritten. Die Zuverlässigkeit der Produktionsschöpfung wird wichtiger als die Kostenminimierung. Protektionistische Tendenzen erhöhen genauso die Konsumpreise.

Die staatliche Ausgabenpolitik ist grosszügiger geworden, wenn auch die prognostizierten Budgetdefizite nur geringfügig wachsen. In Europa wird die neue EZB-Chefin Christine Lagarde bemüht sein, die Politiker zu überzeugen, dass zur Wirtschaftsstimulierung die Geldpolitik allein nicht genügt und der Staat die fehlende Nachfrage erbringen muss.

Mit der demografischen Entwicklung wird das Sparen der privaten Haushalte abnehmen und der Konsumanteil an der Gesamtnachfrage wachsen. Zudem verringert sich das Produktionspotenzialwachstum.

Am frühesten in den USA

Es ist zeitlich offen, wann diese Tendenzen überhandnehmen werden. Sicher scheint, dass der Inflationsprozess in den USA am frühesten in Bewegung kommt. Dabei könnte sich folgende Entwicklung abspielen: Die Inflation steigt über 2%, und die US-Notenbank reagiert nicht. Die langfristigen Zinsen beginnen zu steigen. Je klarer wird, dass der Inflationstrend weitergeht, desto stärker werden die langfristigen Inflationserwartungen wachsen. Die langfristigen Zinsen anderer Währungen werden partiell mitgezogen, da mit Verzögerung auch da mit einer ähnlichen Entwicklung der Inflation gerechnet wird.

Die US-Notenbank beginnt, eine Zinserhöhung in Erwägung zu ziehen. Da die realen Fed Funds gesunken sind, bleibt auch bei einer nominellen Zinserhöhung ein expansiver Kurs erhalten. Die Zinskurve wird steiler, und die Refinanzierung von langfristigen Verbindlichkeiten wird für Schuldner von niedriger Qualität schwierig. Die US-Notenbank beschleunigt die Zinsanhebung, in der Hoffnung, die Inflationserwartungen zu brechen.

Öffentliche und private Schuldner, die sich in US-Dollar verschuldet haben, ihre Steuereinnahmen oder den Ertrag aber in einer anderen Währung erhalten – besonders Kreditnehmer aus schwächeren Währungsgebieten –, geraten in Schwierigkeiten. Zahlungsausfälle häufen sich. Sollte dadurch das internationale Finanz- und Kreditsystem vom Bazillus Misstrauen befallen werden, dürfte die Geldpolitik das Steuer herumreissen. Am Ende wäre der altbekannte Zyklus in Bewegung geraten, nur diesmal mit ungewohnten Zeitdimensionen und neuen strukturellen Problemen.

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