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17:25 Uhr - 23.01.2015

Der Mann, vor dem sich Europa fürchtet

Alle Umfragen deuten darauf hin, dass der Vorsitzende des Syriza-Bündnisses die griechischen Wahlen gewinnt. Seine Anti-EU-Rhetorik hat er allerdings deutlich gemässigt.

Wer die offizielle Homepage von Alexis Tsipras besucht, traut dem Griechen auf den ersten Blick wohl kaum zu, dass er die EU in ihren Grundfesten erschüttern kann. Locker gekleidet, jungenhaft und charmant lächelt der knapp Vierzigjährige (Jahrgang 1974) in die Kamera – als könne er kein Wässerchen trüben. Doch gerade wegen Tsipras wird am kommenden Sonntag ganz Europa nervös nach Griechenland blicken: Aktuelle Umfragen deuten noch immer darauf hin, dass sein linkes Oppositionsbündnis Syriza einen klaren Wahlsieg erringt – und anschliessend gegenüber der Troika aus EU, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds auf Konfrontationskurs gehen könnte.

Mit einem prognostizierten Stimmenanteil von knapp über 30% erhielte Syriza zwar nicht direkt eine absolute Mehrheit. Das Bündnis würde jedoch von der Spezialität des griechischen Wahlgesetzes profitieren, das der siegreichen Partei 50 Parlamentssitze zuschlägt. Viel würde deshalb für das absolute Mehr nicht mehr fehlen: Ein Bündnis mit einer weiteren Kleinpartei des linken Spektrums würde reichen.

Ein Syriza-Wahlsieg wäre die vorläufige Krönung einer erstaunlichen Politkarriere, die bereits in Tsipras’ Teenagerjahren begonnen hat. Mit Fünfzehn trat er der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei bei. Kurz darauf – im Winter 1990/91 – beteiligte er sich aktiv an den landesweiten Jugendprotesten, in deren Verlauf über 2000 Schulen besetzt wurden. Dies zwang die rechtsgerichtete Regierung dazu, unpopuläre Bildungsreformen zurückzuziehen.

Auch während seiner Ausbildung zum Bauingenieur engagierte er sich in der Studentenbewegung. 1999 wurde er zum Sekretär der Jugendorganisation von Synaspismos – der eigentlichen Vorgängerin von Syriza – gewählt. In das Scheinwerferlicht der nationalen Politik trat Tsipras erstmals 2006, als er für das Bürgermeisteramt Athens kandidierte und als krasser Aussenseiter respektable 10,5% der Stimmen auf sich vereinen konnte.

Doch was sind die Folgen, wenn am kommenden Sonntag tatsächlich Syriza die Wahlen gewinnen sollte? Grundsätzlich scheint Tsipras drei politische Ziele unter einen Hut bringen zu wollen: Er möchte die von der Troika auferlegten Reformen rückgängig machen und dabei trotzdem in der Währungsunion bleiben. Gleichzeitig will er den errungenen politischen Rückhalt in der Bevölkerung wahren. Da diese Bestrebungen kaum miteinander vereinbar scheinen, dürfte Tsipras gezwungenermassen von einem der drei Punkte abkehren müssen.

Die grösste Wahrscheinlichkeit (55%) messen die Analysten von Morgan Stanley (MS 35.49 -0.11%) dem Szenario bei, dass zwischen Griechenland und der Troika ein Kompromiss gefunden werden kann. Dieser könnte etwa eine Fristenerstreckung sowie eine Zinsreduktion bei den griechischen Staatsschulden einschliessen. Griechenland würde dabei allerdings nicht um weitere Reformen herumkommen.

Für dieses Szenario spricht, dass Tsipras die einst so forsche Anti-EU-Rhetorik gezügelt hat und mehr Pragmatismus erkennen lässt. Auch die ambitionierten Versprechen, die Syriza in der Wählergunst nach oben gespült haben – etwa den Stellenabbau im öffentlichen Dienst umzukehren –, scheinen sich dem finanziell Machbaren anzunähern. Allerdings ist Syriza eine Wundertüte: Dass Exponenten im Wahlkampf zum Teil konträre Standpunkte vertreten haben, macht Voraussagen schwierig.

Eine Wahrscheinlichkeit von 20% traut Morgan Stanley dem Szenario zu, dass über die nächsten drei bis sechs Monate vorerst keine Einigung erzielt wird. Kapitalkontrollen würden eingeführt, während Griechenland vorläufig nicht mehr als volles Mitglied der Eurozone gilt. Drittes Szenario (25%) ist ein definitives Ausscheiden aus der Eurozone – was allerdings mehr eine ungewollte Folge fehlgeschlagener Verhandlungen mit Brüssel wäre. Welche Zweitrundeneffekte ein solcher Grexit an den Finanzmärkten auslösen würde, ist derzeit unmöglich abzuschätzen.

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