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17:53 Uhr - 09.03.2020

«Volkswagen muss zum Technologiekonzern werden»

Christian Senger, CEO der Car.Software-Organisation im Volkswagen-Konzern und Mitglied des Markenvorstands VW, erklärt, warum die Automobilgruppe das Thema Software in die eigene Hand nimmt.

Das Automobil verändert sich grundlegend, nicht nur regulatorisch bedingt wegen der Emissionsvorschriften, sondern auch technologisch. Wie das Mobiltelefon zum Smartphone geworden sei, entwickle sich das Auto zum Smartcar, sagt Christian Senger, Softwareverantwortlicher bei Volkswagen (VOW 146.2 -8.05%). Der Automobilhersteller misst diesem Thema grosse Bedeutung bei. Über eine eigenständige Einheit mit 10 000 Angestellten bis 2025 will er den Eigenanteil an der Softwareentwicklung signifikant erhöhen und eine einheitliche Softwareplattform, ein eigenes Betriebssystem für Automobile, schaffen.

Herr Senger, das Automobil werde zum Computer auf Rädern, heisst es überall. Was muss man sich darunter vorstellen?
Moderne Autos werden immer mehr durch Software geprägt. Es geht um Infotainment, Cockpitfunktionen, Assistenzsysteme bis tief hinein ins Fahrwerksmanagement. Schon heute stecken in unseren Autos rund 100 Mio. Programmzeilen, zehnmal so viel wie in einem Smartphone-Betriebssystem und deutlich mehr als bei einem modernen Düsenjet. Der Umfang steigt weiter rasant, weil immer mehr Funktionalität und damit Softwareleistung von Autos erwartet wird. In einigen Jahren werden es bereits 300 Mio. Programmzeilen sein. Doch bislang haben wir die damit verbundenen Möglichkeiten in unseren Fahrzeugen noch viel zu wenig genutzt. Das wird sich ändern.

«So, wie das Mobiltelefon zum Smartphone geworden ist, entwickelt sich das Auto zum Smartcar.»

Inwiefern?
So wie das Mobiltelefon zum Smartphone geworden ist, entwickelt sich das Auto zum Smartcar. Individualisierung durch Software wird selbstverständlich, das Auto bietet stetig neue Funktionen, hält Applikationen bereit, verbessert sich mit Updates. All das ergibt ein noch besseres Kundenerlebnis.

Die Folge aus all dem sind aber auch grosse Veränderungen entlang der automobilen Wertschöpfungskette. Wie wird sich Volkswagen dabei aufstellen?
Konkret wollen wir unseren Eigenanteil an der Softwareentwicklung von heute weniger als 10 auf über 60% bis 2025 steigern. Denn künftig werden die Autohersteller führend sein, die effizient entwickeln, das meiste aus Felddaten lernen und am besten mit Kunden interagieren. Das ist unser Ziel. Ganz wichtig dabei ist unsere neue Geschäftseinheit für Softwareentwicklung im Konzern: die Car.Software-Organisation. Sie entwickelt eine einheitliche Softwareplattform – ein automobiles Betriebssystem – für alle Marken der Volkswagen-Gruppe.

Weshalb gewichten Sie dieses Thema so hoch?
Industrielle Kompetenz, wie Volkswagen sie besitzt, reicht allein nicht mehr. Wir müssen zum Technologieunternehmen werden, mit der Fähigkeit, den enormen Softwareumfang für unsere Fahrzeuge zu entwickeln. Ein eigenes Betriebssystem für Automobile wird mitentscheidend sein. Wir können damit grosse Skaleneffekte und damit Kostenvorteile realisieren – und besser aus Daten lernen.

Was Volkswagen mit den modularen Baukästen im Fahrzeugbau geschaffen hat, soll nun also auf die Software übertragen werden?
Richtig. Nur so lässt sich die steigende Komplexität beherrschen. In der Autoindustrie sind wir geübt, die Zusammenarbeit mit Tausenden von Zulieferern zu managen. Das geht gut, solange die Zulieferelemente einfache Schnittstellen haben. Mit der zunehmenden Anzahl digitaler Funktionen werden die Schnittstellen aber sehr komplex. Alles ist mit allem vernetzt. Deshalb vereinfachen wir die Dinge. Unser Ansatz dafür ist das einheitliche Betriebssystem vw.os, ein Baukasten für Software und Elektronik, den künftig all unsere Marken nutzen werden. Jede von ihnen wird sich aber weiterhin vor den Kunden differenzieren, weil sie zwar auf der gleichen Basis aufsetzt, aber alles weitere anpasst.

Wie äussert sich der angesprochene Sprung in der Komplexität?
In unseren Autos stecken heute bis zu 100 Steuergeräte. Das sind Bordrechner, die Abläufe überwachen, regeln und steuern. Diese laufen mit Software von 200 Zulieferern. Wir müssen alles miteinander vernetzen und absichern. Das ist enorm aufwendig, zeitintensiv und kostet viel. Bislang hat das jede grosse Marke im Konzern selbst gestemmt. So leisten wir uns heute acht unterschiedliche Elektronikarchitekturen. Diesen Aufwand halten wir nicht mehr durch. Darum schaffen wir eine gemeinsame Basis.

«Mit einem eigenen Betriebssystem für Automobile können wir grosse Skalenerträge erzielen.»

Sie wollen den Nachteil überbordender Komplexität in den Vorteil grosser Skalenerträge verwandeln?
Genau. Es ist ein Grundgesetz der IT-Ökonomie, dass die Relevanz einer Plattform mit der Zahl ihrer Nutzer steigt. Und das nutzen wir künftig mit unserer weltweiten Fahrzeugflotte aus. Software hat einmalige Entwicklungskosten, aber keine Stückzahlaufwendungen. Sie wird also günstiger, je mehr Nutzer darauf laufen. Wenn wir unsere Plattform jährlich in 10 Mio. Neuwagen des Konzerns einsetzen, sinken die Kosten je Fahrzeug enorm. Zugleich schafft eine einheitliche Plattform effizientere Prozesse und Verlässlichkeit, Entwicklungsmeilensteine lassen sich mit ihr sich präziser erreichen und neue Funktionen für die Autos schneller lancieren.

Eigene Geräte, eigenes Betriebssystem, eigene Software: Will Volkswagen eine Art Apple (AAPL 274.95 -4.87%) der Automobilindustrie werden?
Wir werden nicht alles allein machen, sondern setzen auf die Zusammenarbeit mit kompetenten Technologiepartnern. Mit Microsoft (MSFT 155.32 -3.87%) zum Beispiel bauen wir die Automotive Cloud für unsere vernetzte Fahrzeugflotte auf. Für unsere Softwareplattform werden wir sicher auch auf etablierte Module zugreifen. Und auch beim automatisierten Fahren interessieren wir uns für die Zusammenarbeit mit starken Partnern.

Tesla (TSLA 635.4699 -9.67%) geht mit Blick auf das Ökosystem einen ähnlichen Weg…
Ja, der ist sehr ähnlich.

Ist Tesla ein Vorbild?
Nicht unbedingt ein Vorbild, weil die Voraussetzungen zu verschieden sind. Aber wir schauen uns das Unternehmen aufmerksam an. Tesla geht sehr konsequent voran und ist in manchem führend. Die Volkswagen-Gruppe hat allerdings schon oft bewiesen, dass sie auf- und auch überholen kann.

Wie viel investiert der Konzern in das Softwarethema?
Für den Aufbau der Softwareorganisation, unseres Betriebssystems vw.os und weiterer Umfänge werden wir bis 2025 rund 7 Mrd. € investieren.

Das Modell Apple bzw. Tesla ist eines unter mehreren. Weshalb wählt Volkswagen ausgerechnet diesen Ansatz?
Wir bringen beide Voraussetzungen mit, die für eine eigene Softwareplattform notwendig sind: technologische Kompetenz und Grösse, um Skalenvorteile zu nutzen. Eine Eigenentwicklung ergibt deshalb Sinn. Wir gehen davon aus, dass es langfristig nur eine Handvoll grosse und damit relevante Betriebssysteme für Automobile geben wird. Und unseres wird dazugehören.

Volkswagen geht damit in Konkurrenz zu IT-Giganten. Google rollt derzeit ein eigenes Automobil-Betriebssystem aus, das diverse Automobilhersteller zu nutzen gedenken. Was glaubt Volkswagen, besser zu können?
Wir sehen, dass grosse IT-Konzerne in das Automobil drängen. Doch auch sie tun sich mit der Komplexität des Autos noch schwer. Wir hingegen verstehen es. Dazu kommt, dass IT-Konzerne andere geschäftliche Prinzipien und Mechanismen haben als wir. Im Fahrzeug müssen sämtliche Systeme hochrobust sein, jederzeit und unter allen Bedingungen funktionieren. Das ist unsere Verantwortung, das delegieren wir nicht an einen Dritten. Und dann gibt es noch die Datenfrage: Wer sich das System eines IT-Giganten ins Auto holt, holt sich den IT-Giganten ins Auto. Alles was der Kunde eingibt, läuft dann über diesen, nicht über uns. Wir würden ausgeklammert.

Worüber kann Volkswagen stolpern?
Wir wollen und werden nicht stolpern, deshalb arbeiten wir hochkonzentriert. Wir sind uns aber bewusst: Unser Zeitplan ist straff und sehr ambitioniert.

Tech-Firmen agieren schnell und flexibel. Im Gegensatz dazu gelten Autobauer als langsam. Sehen Sie darin keinen Nachteil?
Dieser Vergleich bezieht sich auf die Entwicklung von Software, und da stimmt er auch. Genau deshalb bauen wir unsere Car.Software-Organisation als eigenständige Einheit nur für Software auf. In der Branche ist das einmalig. Damit trennen wir Hardware- von Softwareentwicklung, die beide völlig unterschiedliche Produktzyklen haben. Die neue Organisation wird bis 2025 mehr als 10 000 Experten unter einem Dach führen, als ein agiles Softwareunternehmen und speziell auf die geforderten Bedingungen zugeschnitten.

Digitale Geräte, mit und ohne Räder, wissen alles über ihre Nutzer. Strebt Volkswagen auch nach neuen Einnahmen aus datenbasierten Diensten?
Wir wollen näher an die Kunden heran, aber uns geht es zunächst darum, unser Kerngeschäft zu optimieren. Wir müssen effizienter werden, bessere Produkte noch schneller entwickeln. Dabei kann uns auch die Auswertung von Daten helfen. Das datengetriebene Geschäft steht noch nicht im Fokus.

Wird Volkswagen das eigene Betriebssystem dereinst für andere Automobilhersteller öffnen?
Wir konzentrieren uns erstmal nur auf uns. Wir wollen und werden ein hervorragendes Produkt für die Konzernmarken liefern. Haben wir diesen Leistungsnachweis erbracht, könnte man darüber nachdenken, die Plattform für andere Hersteller zu öffnen, beispielsweise über ein Lizenzmodell. Aber wir wollen nicht den zweiten vor dem ersten Schritt machen. Zunächst gilt es zu liefern.


Geschäftszahlen und Kursverlauf geben der Konkurrenz zu grübeln


Volkswagen traut sich. Andere Automobilkonzerne erwecken dagegen den Eindruck, sie seien in den guten Jahren mit zunehmendem Erfolg immer zaghafter geworden. Sie zogen sich in eine (durchaus komfortable) Sicherheitsblase zurück. Auch Volkswagen hatte eine, doch diese platzte 2015 mit dem Dieselskandal. Plötzlich gab es keinen Erfolg mehr zu schützen, und vermeintlich Bewährtes musste hinterfragt werden.

Unter neuer Führung setzte ein Umdenken ein und eine konsequente Ausrichtung auf Zukunftstechnologie, erst im Antrieb mit dem Fokus auf Elektroantrieb, jetzt in Sachen Software. Halbe Sachen gibt es nicht, zumal der Konzern auch seine Grösse nutzen und Skalenerträge realisieren kann. Das Thema E-Mobilität bedient er über eigens entwickelte modulare Baukästen. In der Software folgt er demselben Prinzip.

Volkswagen schafft sich eine eigene einheitliche Softwareplattform. Das ergebe Sinn, sagt der Software-Verantwortliche Christian Senger, denn der Konzern bringe beide notwendigen Voraussetzungen dafür mit: Kompetenz – die in einer eigenständigen Einheit innerhalb des Konzerns gebündelt wird – und Grösse, um Skalenvorteile zu nutzen. Richtig umgesetzt, verspricht das einen Wettbewerbsvorteil.

Gemäss Planung sollen ab 2025 alle neuen Modellgenerationen im Vielmarkenkonzern, unabhängig von der Antriebsform, auf dem einheitlichen Betriebssystem laufen. Danach braucht es noch Zeit, bis dieses auf alle Fahrzeuge ausgerollt ist.

Dass Volkswagen seit dem Neuanfang nach 2015 so manches richtig macht, belegen auch die Geschäftszahlen. Etliche Wettbewerber sind aus der Spur gekommen, doch Volkswagen ist 2019 mit höheren Margen weiter gewachsen. Gemäss Ausblick vom 28. Februar will sich der weltweite Absatzführer auch im laufenden Jahr behaupten: etwa gleich viele Fahrzeuge an Kunden ausliefern wie 2019, bis zu 4% mehr umsetzen und eine Betriebsgewinnmarge zwischen 6,5 und 7,5% erzielen. Natürlich steht auch diese Prognose unter dem Vorbehalt grosser Unsicherheiten.

Auch die Aktien heben sich von der internationalen Konkurrenz positiv ab. Egal, ob ein, zwei oder drei Jahre zurückgeblickt wird, die Vorzüge Volkswagen haben im Sektor nahezu alles hinter sich gelassen. Wie bereits seit längerem zählt sie FuW weiter zu den Branchenfavoriten.

Nach dem jüngsten Ausverkauf sind sie noch einmal günstiger geworden. Die Bewertungskennzahlen bewegen sich am unteren Rand ihrer jeweiligen Spanne. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis 2020 beträgt 5 auf Basis der Bloomberg-Konsensschätzung, das aktuelle Kurs-Buchwert-Verhältnis steht auf 0,7. Grundsätzlich sind das reizvolle Niveaus. In die momentane Börsenlage hineinzukaufen, ist allerdings gefährlich.

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