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10:02 Uhr - 28.12.2016

«Die Zentralbanken können nicht zurück»

«Wir befinden uns auf völlig unbekanntem Territorium», sagt William White, der ehemalige Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel. Wohin uns die unkonventionelle Geldpolitik führe, wisse niemand.

Die US-Notenbank hat im Dezember zum zweiten Mal seit der Finanzkrise den Leitzins erhöht. Dennoch bleibt die Geldpolitik weltweit äusserst expansiv. Die Zentralbanken seien zu stark beansprucht, sagt William White, vormals Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Und wie schon vor 2007 diagnostiziert er erneut exzessives Kreditwachstum.

Herr White, wann beenden die Notenbanken ihre ultraexpansive Geldpolitik?
Zur PersonWilliam «Bill» White hat neununddreissig Jahre seines Berufslebens in der Welt der Zentralbanken verbracht: zuerst bei der Bank of England und der Bank of Canada, danach war er Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, der «Bank der Zentralbanken».Sie neigen dazu, weiterhin zu lockern. Die Geldpolitik ist schon so lange expansiv, dass es einen guten Grund braucht, um sie zu straffen. Die Zentralbanken wollen nicht in Frage stellen, was sie bis anhin getan haben. Sie tendieren zu expansiver Geldpolitik, um ihre bisherigen Massnahmen zu bestätigen.

Fahren die Zentralbanken in einer Einbahnstrasse?
Die Auswirkungen einer Straffung der Geldpolitik sind ungewiss. Als Behelfslösung kommt deshalb weiterhin die Lockerung zum Tragen. Die Notenbanken können nicht zurück: Falls sie straffen und alles zusammenfällt, wird ihnen allein die Schuld gegeben – auch wenn die tieferliegenden Probleme von Regierungen, Banken oder anderen verursacht wurden.

Ist die Wirtschaft zu schwach für eine Straffung?
Die Schulden sind in den vergangenen Jahren rasant weiter gestiegen, vor allem in Schwellenländern und besonders in China, aber auch bei den Unternehmen in den USA. Die Lage könnte so gefährlich sein wie 2007 und 2008. Wir wissen es einfach nicht. Deshalb diese grosse Vorsicht vor einer strafferen Geldpolitik. Ich befürchte, die langjährige expansive Geldpolitik hat leichtsinniges Verhalten an den Märkten so stark angespornt, dass sogar eine moderate Straffung Probleme verursachen könnte.

Ist eine Umkehr unmöglich?
Bevor die Geldpolitik restriktiver wird, sollten die Regierungen das Ihre tun: eine kurzfristig expansive Fiskalpolitik, wo Raum dafür besteht, und einen glaubhaften Plan, um das Defizit im Staatshaushalt mit der Zeit unter Kontrolle zu bringen. Im Privatsektor müssen Schulden abgebaut und Banken rekapitalisiert werden. Es braucht auch strukturelle Reformen. Zentral wäre, die Zerbrechlichkeit des Finanzsystems zu reduzieren. Bankbilanzen und faule Kredite müssen viel genauer angeschaut werden.

Werden die Regierungen ihre Rolle wahrnehmen?
Wenn die Regierungen eine Wirtschaftserholung sehen, dann wollen sie nichts unternehmen. Solange sie davon ausgehen, dass die Zentralbanken alles unter Kontrolle haben, treffen sie die nötigen Massnahmen nicht. Expansive Zentralbanken ermuntern die Regierungen dazu, das Ihre nicht zu tun.

Gibt es eine verhängnisvolle Symbiose zwischen Regierungen und Notenbanken?
In den meisten Ländern ist die Staatsschuld sehr hoch. Es wird hinter den Kulissen grossen Druck auf die Zentralbanken geben, die Zinsen tief zu halten, damit der Schuldendienst niedrig bleibt. Viele Gründe sprechen dafür, dass die Ausweichlösung «mehr vom Gleichen» heisst.

Wie können sich die Notenbanken befreien?
Ich wünschte, dass sie vor fünf oder mehr Jahren im Kollektiv zu den Regierungen gesagt hätten: «Ihr verlangt, was wir gar nicht können.» Im Wesentlichen besteht ein Insolvenzproblem, die Schulden sind zu hoch. Das können Zentralbanken nicht bewältigen, ausser, sie fachen die Inflation an, um den Realwert der Schulden zu verkleinern. Zentralbanken können Illiquidität bereinigen, aber nicht Insolvenz. Das hätten sie schon vor Jahren sagen müssen.
Gibt es aus der verfahrenen Situation keinen Ausweg?
Seit einigen Monaten spüre ich eine Änderung der Atmosphäre. Bei Regierungen und Zentralbanken scheint der Wille grösser zu werden, dem zuzustimmen, was ich seit 2010 sage: Ultraexpansive Geldpolitik stimuliert die Nachfrage womöglich nicht so wie erwünscht. Und sie könnte viele äusserst unangenehme Nebenwirkungen haben. Regierungen akzeptieren nun eher, dass die Zentralbanken überbeansprucht worden sind und dass sie entlastet werden müssen. Diese Entwicklung ist erfreulich.

Könnte sich alles zum Guten wenden?
Die Weltwirtschaft könnte schneller und robust wachsen, worauf die Zentralbanken die kurzfristigen Zinsen erhöhen. Auch die langfristigen Zinsen würden aufwärts tendieren. Es ist nicht unmöglich, sich einen geordneten Ausgang vorzustellen.

Wo liegen die Risiken im optimistischen Szenario?
Alle möglichen Anlagen scheinen mir sehr üppig bewertet zu sein, etwa Aktien und Unternehmensanleihen. Wer von einer recht robusten Wirtschaft ausgeht, argumentiert, dass die Kurse zwar vorschnell gestiegen sind, aber durch künftig rascheres Wirtschaftswachstum unterstützt werden.

Würde starkes Wachstum alle Probleme lösen?
Ein Risiko ist, dass die Kapazität in vielen Weltgegenden bald ausgelastet ist. Die Zukunft könnte inflationär sein. Falls Inflationsdruck aufkommt, könnten die langfristigen Zinsen abrupt steigen. Es ist nicht schwer, sich selbst im optimistischen Szenario entgleiste Finanzmärkte auszumalen, die die Konjunkturerholung zum Scheitern bringen.

Wie sieht das pessimistische Szenario aus?
Das Wirtschaftswachstum bleibt schwach und der Schuldenüberhang gross. Kommt eine Rezession oder eine Finanzkrise, dann hoffe ich, dass die Regierungen sich der Tatsache stellen, dass sie die Probleme nicht mehr vor sich herschieben können.

Immerhin scheint es noch Manövrierraum zu geben.
Japan bereitet mir Sorgen. Der Staat hat ein jährliches Defizit von etwa 5% und einen Schuldenstand von 230% des Bruttoinlandprodukts. Jetzt braucht es nur noch ein kleines Problem – zum Beispiel schnelleres Wirtschaftswachstum: Wenn dann die Zinsen steigen, nimmt der Schuldendienst sprunghaft zu.

Wie nahe ist Japan diesem Szenario?
Das sind nichtlineare Prozesse. Die Wirtschaft ist keine Maschine, sondern ein komplexes, anpassungsfähiges System. In fast allen solchen Systemen gibt es Phasensprünge – Eis wird zu Wasser und dann zu Dampf. Verschiedene Ursachen können das System über einen bestimmten Punkt, eine Grenze stossen. Für Inflationsdruck ist nicht nur die Auslastung der Wirtschaft wichtig, sondern auch das Wachstum der Schulden. Die Zentralbanken verwenden jedoch Modelle, die im Wesentlichen linear sind. In ihrer Welt gibt es keine Phasensprünge.

Wie viel Spielraum haben wir?
In der Geschichte gab es viele Fälle, in denen die Wirtschaft nicht ausgelastet, aber die Inflation trotzdem hoch war. Ich sage nicht, ein solcher Ausgang stehe unmittelbar bevor. Vielleicht gibt es noch viel Raum. Und wir wissen nicht, wann die Finanzmärkte implodieren. Aber es gibt eine Grenze.

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