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17:30 Uhr - 23.06.2020

Absturz mit Ansage bei Wirecard

Ob der Finanzdienstleister überlebt, ist unklar. Der Bilanzskandal schlägt auch Wellen in der Schweiz.

Wenn Markus Braun auf Konferenzen auftrat, so erinnert sich ein Aktienhändler, war der Raum voll. «Hat er dann frei über seine ­Vision geredet, hingen die Leute an seinen Lippen – und anschliessend konnte man sehen, wie die Wirecard-Aktien stiegen», erzählt er weiter. Markus Braun, bis Freitag CEO des deutschen Zahlungsanbieters Wirecard (WDI 16.986 17.63%), technischer Mastermind, exzellenter Verkäufer –  und Betrüger?

Noch ist nicht klar, was passiert ist. Dem Unternehmen mit Sitz nahe München sind 1,9 Mrd. € mit «überwiegender Wahrscheinlichkeit» – so heisst es in der Ad-hoc-Meldung – abhandengekommen. Ein Viertel der Bilanzsumme. Das Geld sollte auf Treuhandkonten in Asien gelegen haben. Unklar ist inzwischen gar, ob das Geschäft in Fernost, das lange Wachstums- und Gewinntreiber gewesen sein soll, überhaupt existierte. «Es ist eine Schande», erklärte Felix Hufeld, Präsident der BaFin, Deutschlands oberster Finanzaufseher. Wirecard ist nun ein Fall für die Justiz.  

Mehr wert als Deutsche Bank

Das Geschäft von Wirecard sind der elektronische Zahlungsverkehr, das Risikomanagement sowie Akzeptanz und Herausgabe von Kreditkarten. Gegründet wurde das Unternehmen 1999, Braun stiess 2002 dazu. Er machte es gross. Im Herbst 2018 wurde Wirecard in den Dax (DAX 12542.21 2.28%) aufgenommen. Der Marktwert lag zeitweise bei mehr als 20 Mrd. € – höher als derjenige der Deutschen Bank. Ins Visier von Journalisten und Leerverkäufern ist das Unternehmen schon vor langem geraten. Vor fünf Jahren startete die britische «Financial Times» eine Serie, in der das Geschäfts­gebaren hinterfragt wurde. Damals seien «nur» 250 Mio. € fraglich gewesen, erinnert sich ein Fondsmanager. «Wäre das bereinigt worden, hätte der Kapitalmarkt das Wirecard womöglich noch verziehen.»

Im Geschäftsbericht für 2018 erklärt Braun, dass die da bereits laufenden Un­tersuchungen in Asien zu keinen Hinweisen auf Korruption geführt hätten. «Ich bin optimistisch, dass Wirecard eine grossartige Zukunft vor sich hat.» Die Finanzaufsicht BaFin leitete 2019 Ermittlungen ein –  gegen kritische Journalisten der FT – und verbot zeitweise Leerverkäufe, also Wetten auf fallende Wirecard-Kurse.

Braun dagegen blieb unbehelligt, bis zu seinem Rücktritt vergangenen Freitag. Anfang der Woche hat er sich der Staatsanwaltschaft München gestellt, die wegen des Verdachts auf Marktmanipulation und Bilanzfälschung ermittelt. Gegen Kaution befindet er sich inzwischen auf freiem Fuss. COO Jan Marsalek, zuständig für das Asiengeschäft, wurde gekündigt.

Das Testat für den Geschäftsbericht 2019 haben die Wirtschaftsprüfer von EY verweigert. Die vorläufigen Ergebnisse für das abgelaufene Geschäftsjahr sowie für das erste Quartal 2020 und weiter gehende Prognosen hat das Wirecard-Management inzwischen kassiert. Folgen für die Abschlüsse vergangener Geschäftsjahre könnten nicht ausgeschlossen werden.

Entscheidend für die Zukunft von Wirecard ist nun eine Kreditlinie in Höhe von 1,75 Mrd. €, die von den fünfzehn Banken dahinter nach den Enthüllungen gekündigt werden könnte. Zu den grössten Geldgebern gehören ABN Amro, Commerzbank (CBK 4.03 4.51%), ING und LBBW mit je 200 Mio. €, ­gefolgt von Barclays (BARC 117.08 1.44%), Crédit Agricole, DZ Bank und Lloyds mit je 120. UBS (UBSG 10.695 3.83%) und Credit Suisse (CSGN 9.86 2.05%) zählen dem Vernehmen nach nicht dazu. CS droht dennoch ein Imageschaden: Die Investmentbank strukturierte im Frühling 2019, als die Ungereimtheiten in Asien schon bekannt waren, eine Transaktion von 900 Mio. € und verkaufte Wirecard-Wandelanleihen an in- und ausländische institutionelle Käufer.

CS-Kunden betroffen

Darunter soll sich auch der Asset-Mana­gement-Arm der CS befunden haben. So landeten Papiere im Depot von eigenen Kunden, die die Bank mit einem Vermögensverwaltungsmandat betraut hatten. Inwiefern diese Papiere für eine allfällige «Underperformance» der CS-Vermögensverwaltungsmandate verantwortlich sind, lässt sich – Stand heute – nicht sagen. Credit Suisse hat keine Stellung genommen. Mit der Transaktion ermöglichte CS, dass Softbank (Softbank 25.98 0.66%), Hightech-Investorin aus Japan, ihr Wirecard-Risiko weiterreichte.

Und nun? Eine Pleite von Wirecard scheint nicht ausgeschlossen. Der Marktanteil ist nicht gross genug, um system­relevant zu sein. James Freis führt seit Freitag den Konzern mit 5000 Angestellten, zunächst übergangsweise. Der Amerikaner hätte am 1. Juli starten und das neu geschaffene Compliance-Ressort verantworten sollen. Jetzt muss er als CEO Wirecard retten und auf eine Klagewelle vorbereiten. Dafür ist er der richtige Mann: Auf das Studium der Wirtschaftswissenschaften in Washington folgte ein Juraabschluss in Harvard. Als eine der ersten Amtshandlungen hat er für eine Finanzierungs­strategie die Investmentbank Houlihan Lokey angeheuert, die schon Gläubiger von Enron und Lehman Brothers beraten hat. Ein Investment verbietet sich derzeit.


Für Barriereprodukte ist der Coupon das Trostpflaster


«Die Sicherheitsschwelle wurde verletzt.» Das steht, rot markiert, bei allen an der SIX Swiss Exchange gehandelten Barriereprodukten mit Coupon, die sich auf Wirecard beziehen. Die beliebtesten derartigen Anlageinstrumente lauten auf Nestlé (NESN 106.08 -0.41%), Novartis (NOVN 86.01 -1.13%) und Roche (ROG 339.85 -1%). Aber auch wagemutigere Produkte auf Titel wie Wirecard sind gefragt und bieten – Risiko bringt Rendite – einen höheren Coupon.

Mit dem Absturz ist die Aktie unter alle Barrieren gefallen, kein Sicherheitspuffer hat gehalten. 163 solche Zertifikate lauten auf Wirecard, hat der Datenanbieter Derivative Partners eruiert.

Normalerweise hoffen Anleger auf die zweite Chance. Steigt nämlich die Aktie bis Ende Laufzeit wieder über das Ausgangsniveau, also über den Kurs bei Laufzeitbeginn, wird der Kapitaleinsatz erstattet – trotz Barrierebruch. Im Fall von Wirecard ist das höchstens Wunschdenken. Wird also die zweite Chance verpasst, erhält der Anleger die Aktie geliefert, die viel weniger wert ist als der ursprüngliche Kapitaleinsatz.

Mit Blick auf die Schadensbehebung sind die Anbieter denn auch zurückhaltend. Anderweitig wird die zweite Chance oft mit einem Recovery-Zertifikat verbessert. Es wird für das erste Produkt eingewechselt, ist ohne Coupon, aber mit viel grösserer Chance, den Kapitaleinsatz doch noch zu erhalten. Für Wirecard werden Recovery-Produkte erst «geprüft», wie man aus der Branche hört. Fraglich, ob sie nach dem Absturz sinnvoll sind.

Immerhin erhält der Investor trotz Barrierebruch den hohen Coupon von 10 bis sogar 40% des Kapitaleinsatzes. Der Coupon ist unterschiedlich je nach Niveau der Barriere, die den Sicherheitspuffer bestimmt. Er ist ein schönes Trostpflaster für die 61 Produkte, die einzig auf Wirecard lauten. Die anderen 102 Barriereprodukte beziehen sich auf mehrere Aktien, und da erhält der Anleger nur die schlechteste. So ist der Coupon ein schwacher Trost, und es bestätigt sich die Regel: Hoher Coupon birgt hohes Risiko. (BEG)

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