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17:12 Uhr - 27.10.2015

Folgt in China der grosse Sprung zurück?

Dank eines gewaltigen Kreditbooms verzeichnete das Reich der Mitte jahrelang hohe Wachstumsraten. Nun droht die Schubumkehr.

Turbulent geht es zu am chinesischen Aktienmarkt! Nachdem sich der Shanghai Composite Index innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelte, sorgte eine herbe Talfahrt von knapp 40% im Sommer weltweit für Nervosität. Eine Rezession der zweitgrössten Volkswirtschaft hätte gravierende Folgen weit über Chinas Grenzen hinaus.

Um das «chinesische Wirtschaftswunder», das gerade zu verblassen droht, zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück. Nachdem die Zustände in der politisch wie wirtschaftlich fast vollständig isolierten Volksrepublik zum Ende der Mao-Ära unhaltbar geworden waren und zu einer Legitimitätskrise der Kommunistischen Partei (KP) geführt hatten, leitete deren Führung unter Deng Xiaoping ab 1979 schrittweise ökonomische Reformen ein, welche einen rasanten Aufstieg initiierten.

Rezepte des Antagonisten

Dazu bediente sich Deng paradoxerweise internationaler Best Practices, die er aus dem institutionellen Arsenal des Kapitalismus – also des ideologischen Antagonisten – entlehnte. Dazu zählten wirtschaftliche Liberalisierungen, die Stärkung von Eigentumsrechten sowie eine vorsichtige internationale Öffnung.

Man begab sich damit auf eine Gratwanderung, die viel Fingerspitzengefühl verlangte, um die ergriffenen Massnahmen in die auf den fundamentalen marxistisch-leninistischen Prinzipien beruhende Ideologie einzuordnen. Resultat ist ein andauerndes Experimentieren mit institutionellen Veränderungen, die der Lösung aktueller Probleme dienen und damit Teil eines graduellen und adaptiven Transformationsprozesses sind. So hat sich eine dynamische und in vielen Zügen marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung herausgebildet, im Rahmen derer über Jahrzehnte hinweg Kapitalaufbau und   vielbeachtete Wachstumsraten von knapp 10% p.a. erzielt wurden. Die Bedeutung sozialistischer Etikettierung zur ideologischen Zementierung des alleinigen Führungsanspruchs der KP ging dabei kontinuierlich zurück und wurde durch eine reine Performance-Legitimierung ersetzt.

Dies wiederum bedeutet, dass die politische Stabilität in der Volksrepublik mehr als andernorts davon abhängt, inwieweit die Bevölkerung die Wirtschaftspolitik für gelungen erachtet; schliesslich kann sich hier der Unmut über eine erfolglose Regierung nicht einfach in ihrer Abwahl artikulieren. Da seit der Entfesselung der unsichtbaren Hand des Marktes aber auch die raffende Hand der Parteikader-Koterie um sich greift – sprich: politische Macht zur privaten Abschöpfung eines guten Teils des Wohlstandszuwachses genutzt wird –, bedarf es zwangsläufig eines hohen Wachstums, um die Mittelschicht mit manierlichen Lohn- und Vermögenszuwächsen bei Laune zu halten.

Doch wie nachhaltig ist der Aufschwung? Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass ein immer geringerer Teil des nominalen Wachstums als wirklicher Wohlstandszuwachs infolge der Liberalisierungen zu werten ist, wohingegen sich das Gros auf einen staatlich gelenkten Kreditboom zurückführen lässt.

Boomende Fehlinvestitionen

Grundsätzlich unterscheidet sich China hierin wenig von den Industriestaaten. Es herrscht jeweils eine auf Schulden basierende Geldordnung vor, in der Banken Giralgeld erzeugen, indem sie Kredite vergeben. Die Bank schuldet dem Einleger Geld, welches wieder und wieder verliehen und dadurch vervielfacht wird. Die Zentralbanken können Einfluss auf diesen Prozess nehmen, die Kreditexpansion forcieren und damit die Konjunktur beleben.

Während dieses Mittel, richtig dosiert, in Zeiten einer Liquiditäts- und Vertrauenskrise Schlimmeres abwenden kann, führt dessen dauerhafte Anwendung zu Verzerrungen in der Kapitalstruktur und zu Fehlallokationen, da etliche unrentable Investitionsprojekte angestossen werden. Das Fundament der realen Ersparnis wird dabei immer mehr verwässert.

Brandgefährlich ist in einem solchen Umfeld Deflation, da bei sinkenden Preisen der Schuldner den Schuldendienst womöglich nicht mehr leisten kann und dadurch eine Kettenreaktion auslöst, bei der sämtliche Kredite und damit das mit ihnen geschaffene Geld kollabieren. Zwar hätte ein solcher deflationärer Vorgang etwas Bereinigendes, da er Fehlinvestitionen aufdecken und den wirtschaftlichen Prozess wieder in Einklang mit den tatsächlichen Ersparnissen bringen würde – allein die Verwerfungen der damit einhergehenden Rezession würde kaum eine Regierung verkraften. Folglich gilt es, Deflation um jeden Preis zu vermeiden. Dies ist jedoch allein mithilfe einer akzelerierten Kreditexpansion zu erreichen.

In China entfaltete Deng 1994 unter dem Leitsatz «Ein Teil muss zuerst reich werden» den Kreditfächer: Indem die Zentralbank den Wechselkurs um 60% abwertete, erfuhr die Exportindustrie Rückenwind und entwickelte sich zum Wachstumsmotor. Laut McKinsey schnellte das Kreditvolumen seither von knapp einer halben Bio. Dollar auf über 28 Bio. hoch – besonders explosionsartig seit der Finanzkrise 2008, da man mit Brachialgewalt gegen die drohende Krise inflationierte.

Damit hat sich die Lage dramatisch zugespitzt. Das rasante Geld- und Kreditmengenwachstum hat dazu geführt, dass China mittlerweile die weltweit höchste Verschuldung – öffentliche Hand, Privatpersonen und Unternehmen kumuliert – im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt aufweist. Die Banken üben sich bereits in mehr Zurückhaltung – die Geldmenge wächst so schwach wie seit über fünfzehn Jahren nicht mehr. Deflationärer Druck kommt dabei aus vielen Richtungen:

(1) Es sind jede Menge faule Kredite im Umlauf, die in der Euphorie ewigen Wachstums ohne genaue Prüfung für unproduktive Investitionen vergeben worden sind. Diese müssen irgendwann abgeschrieben werden.

(2) Ein Grossteil der Aktien-Rally war durch fremdfinanzierte Erstinvestments von Privatanlegern getrieben. Durch den Kurssturz müssen etliche Kredite in unbekanntem Ausmass abgeschrieben werden.

(3) In der jüngeren Vergangenheit hat sich ein immenses Schattenbankensystem herausgebildet. Dieses stellt zwar in vielen Sektoren Finanzierungsmöglichkeiten bereit. Problematisch ist allerdings, dass es sehr undurchsichtig ist und sich vermutlich auch hier unzählige faule Kredite im Umlauf befinden.

(4) Strukturelle Probleme wie der demografische Wandel, Überkapazitäten in Industrie und Wohnungsbau, eine nachlassende Produktivität sowie Exportrückgänge weisen überdies in Richtung eines dauerhaft geringeren Wachstums.

Im Zusammenspiel mit den exorbitant hohen Schulden stellen diese deflationären Tendenzen eine existenzielle Gefahr für Chinas Geldsystem dar. Sollten die KP und ihre institutionellen Ausleger nicht in der Lage sein, eine tief greifende Rezession abzuwenden, könnte dies eine schwere Legitimitätskrise auslösen. Und eine Weltwirtschaftskrise obendrein.

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