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09:35 Uhr - 27.01.2016

«Schwellenländer geraten unter Druck»

Charles-Edouard Bouée, CEO von Roland Berger, äussert sich im Interview mit der «Finanz und Wirtschaft» zur Wirtschaftslage, zu China und den Veränderungen, die es im Denken von Unternehmen braucht.

Zur PersonCharles-Edouard Bouée ist seit Juli 2014 CEO von Roland Berger. Davor hatte er während eines Jahres als Chief Operating Officer (COO) die operativen Geschicke des Strategieberaters verantwortet. In das Münchener Unternehmen mit rund 2400 Mitarbeitern in 36 Ländern eingetreten war der 46-jährige Franzose mit Abschlüssen der École Centrale in Paris, der Université Paris Sud XI und der Harvard Business School im Jahr 2001.

Bouée gilt unter anderem als profunder China- und Asienkenner. 2006 wurde er President & Managing Partner für die Region Greater China. Ab 2009 führte er das Asian Leadership Team, 2010 kam noch die Verantwortung für Frankreich, Belgien, Italien, Spanien und Marokko dazu. Seine Karriere begann der verheiratete Vater zweier Kinder als Investmentbanker bei Société Générale in Paris und London. Bevor er zu Roland Berger kam, wirkte der Autor diverser Bücher als Vice President der amerikanischen Beratungsgesellschaft A. T. Kearney.
Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit nehmen zu. Daraus erwachsen grosse Herausforderungen, doch eröffnen sich auch Chancen. Um sie zu nutzen, müssten Unternehmen und Manager flexibler, wandlungsfähiger und offener für Veränderungen werden, rät Charles-Edouard Bouée, CEO des deutschen Strategieberaters Roland Berger. Die vierte industrielle Revolution – Industrie 4.0 – wird diesen Wandel erleichtern: Die Fabrik der Zukunft werde um die Ecke liegen, klein, flexibel, vernetzt und multifunktionell.

Herr Bouée, das weltwirtschaftliche Umfeld ist von grosser Unsicherheit geprägt. Wie sieht Ihr Hauptszenario für 2016 aus?
Ich gehe davon aus, dass 2016 sehr ähnlich sein wird wie 2015, aber mit noch grösserer Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Mit dem Abschwung in vielen Schwellenländern, Griechenland, den Anschlägen in Paris, dem Flüchtlingsthema, den Wechselkursverschiebungen in der Schweiz und anderem mehr war das vergangene Jahr sehr unruhig. 2016 wird kaum anders werden. Die Frage ist nur, ob ein Ereignis noch etwas Grösseres auslösen wird.

Welche Konsequenzen werden noch mehr Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit haben?
Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern wird noch grösser, weil die Folgen richtiger oder falscher Entscheidungen noch drastischer ausfallen werden. Das gilt für Volkswirtschaften und Unternehmen wie auch für Individuen.

Was für Eigenschaften erhöhen die Chance, zu den Gewinnern zu gehören?
Man braucht starke Nerven. Wer keine hat und sich von Aufgeregtheit treiben lässt, wird Fehler machen. Ausserdem benötigt man Entschlossenheit – es gilt, Prioritäten zu setzen. Wichtig ist zudem, agil respektive leichtfüssig zu sein – schwere «Klötze» wie grosse Fabriken und starre Denkmuster schränken die Beweglichkeit ein. Mit einem geschickten Zug kann ich zwei Schritte vorwärts gehen, mit einem schlechten zwei zurückfallen. Bin ich beweglich, kann ich einen Fehlentscheid leichter korrigieren und aufholen. Bin ich es nicht, wird der Rückstand umso grösser.

Hinter dieser Leichtfüssigkeit respektive dem Light Footprint Management, das Sie auch im gleichnamigen Buch propagieren, stecken drei Leitprinzipien.
Wir nennen sie TOC – Technology, Organisation, Culture. Im eben beschriebenen Umfeld verlieren traditionelle Führungs- und Geschäftsmodelle an Effektivität. Unternehmen und Manager müssen flexibler, wandlungsfähiger und offener für Veränderung werden. Technologie, Organisation und Unternehmenskultur dafür sind zentrale Stellschrauben.

Können Sie Beispiele nennen?
Wir leben in einer Sharing Economy, Dinge werden gemeinsam genutzt. Doch in der Unternehmenswelt geschieht das kaum, das Gros der Unternehmen ist noch anders organisiert. Warum nicht freie Kapazitäten anderer Unternehmen nutzen statt selbst eine neue Fabrik bauen? Warum nicht häufiger Allianzen eingehen? Warum ein Heer von Angestellten einstellen, wenn es immer mehr Arbeitskräfte auf Abruf oder auf Freelance-Basis gibt? Wer sich geschickt organisiert, wird beweglicher, kann schneller reagieren und proaktiver handeln.

Und wie kommen da Technologie und Kultur ins Spiel?
Nutzbringend eingesetzte Technologie – nicht Technologie per se – hilft, sich wie beschrieben zu flexibilisieren. Sie begründet zudem Innovation, die im Kern jeder Unternehmensstrategie liegen sollte. Um flexibler und wandlungsfähiger zu werden, muss man wiederum den Willen haben, Veränderungen anzunehmen, frei zu denken, offen auf die Welt und auf Chancen zu blicken, kurz: Man benötigt die entsprechende Kultur dafür.

Wo sind die einzelnen Komponenten von TOC in der Praxis am besten erkennbar?
Die USA, besonders die Westküste, stehen in hohem Masse für das T. Sie haben die Chancen der Technologie zu nutzen gewusst. Champions wie Apple (AAPL 99.99 0.55%), Google oder Facebook (FB 97.34 0.34%) zeugen davon. Apple produziert übrigens auch nicht selbst. China dagegen verkörpert das C: Agilität im Denken und Flexibilität sind hier stark ausgeprägt.

Und Europa?
Europa sticht zurzeit nicht heraus, obwohl die Voraussetzungen dafür gegeben sind. In vielen Ländern entwickelt sich ein neuer Unternehmergeist. Das Potenzial ist gross: In den nächsten zehn Jahren könnten 1,25 Bio. € Mehrwert geschaffen werden, würden die Chancen der digitalen Transformation voll ergriffen.

Ist Leichtfüssigkeit gleichbedeutend mit geringeren Kapitalausgaben?
Kapitalausgaben sind wichtig. Sie sind aber in einem neuen Denkrahmen zu sehen. Wer leichter, agiler und technologisch richtig aufgestellt ist, geht bei Investitionen ein geringeres Risiko ein. Grosse Projekte hingegen lähmen eher. Bis die vielen sich laufend ändernden einzelnen Facetten abgeklärt sind, ist die leichtfüssige Konkurrenz schon über alle Berge.

Zurück nach Europa. Warum springt das Wachstum nicht richtig an?
Das hat viele Gründe. Einer ist, dass das Geld nicht in die produktivsten Anlagen fliesst. Das Potenzial, das Investitionen in Technologie eröffnen, habe ich bereits angesprochen. Ähnliches gilt für Infrastruktur. Doch die Fähigkeit vieler Staaten, in Infrastruktur zu investieren, ist limitiert. Die Mittel wurden in vielen Fällen bereits genutzt, um das Bankensystem und die Wirtschaft zu stützen. Nun sind diese Länder hoch verschuldet, und das Geld fehlt. Ein anderer Faktor ist verbreitete Überkapazität. Auch deswegen zeigen sich deflationäre Tendenzen – ein Umfeld, das Wachstum nicht gerade fördert.

Und nun kommen noch Sorgen um China dazu. Sie sind mit der chinesischen Wirtschaft vertraut. Wird China zu einer Bedrohung für die Weltwirtschaft?
Dass China, das 15% zum globalen BIP beiträgt, eine Weltrezession auslösen wird, glaube ich nicht. Ich bin vorsichtig optimistisch und gehe von einem Soft Landing aus, von einem langsamen Wachstumsrückgang.

Gefahren drohen von China aber schon?
Über die Abwertung der Währung und eine geringere Rohstoffnachfrage kann China Probleme verursachen, ja. Das wird auf die Weltwirtschaft abstrahlen, aber mit eher begrenztem Einfluss. Im Zusammenhang mit China scheint mir problematischer, dass wir so viel Aufmerksamkeit darauf richten. Das geht inzwischen so weit, dass sich die Weltbörsen an den chinesischen Aktienmarkt koppeln, obwohl da keinerlei Zusammenhang besteht.

Blickt der Westen zu stark auf China?
Heute tut er das, jedenfalls auf volkswirtschaftlicher Ebene.

Weshalb?
Unser wirtschaftliches Handeln ist von Angst geprägt – vor Wachstumsverlust, Vermögensverlust, Jobverlust. Vor allem in Europa ist diese Angst seit längerem augenfällig. So richtet sich der Blick auf Horte der Ermutigung, wie China einer ist. Und nun beginnt die Zuversicht zu bröckeln, weshalb wir noch genauer hinschauen. Um das zu ändern, brauchen wir im Westen Ereignisse, die Zuversicht wecken, wirtschaftliche, aber auch politische oder solche, die den Weltfrieden betreffen.

Wie sollen sich Unternehmen jetzt in den Schwellenländern verhalten?
Sie sollten eine Langfristperspektive einnehmen. Wenn jetzt viele Firmen die Aktivitäten in Schwellenländern drosseln, weil die Geschäfte schlechter laufen, bietet das Chancen für die, die antizyklisch handeln. Wir raten den Unternehmen daher, jetzt nicht der Herde zu folgen, sondern entsprechend unserer Methode Grossinvestitionen zurückzufahren und die Strategie über Kooperationen flexibel zu halten.

Apropos Langfriststrategie: Viele Aktionäre tragen eine solche kaum mehr mit. Sie suchen den schnellen Erfolg. Ein Beispiel dafür ist Syngenta, wo der Verwaltungsrat nun über den Verkauf des Unternehmens verhandelt, weil die Aktionäre nicht die Geduld aufbringen, auf eine Besserung des Marktumfelds zu warten.
Grundsätzlich unterliegen kotierte Unternehmen mit breit gestreutem Aktionariat stärker dem Herdentrieb als Familiengesellschaften, die ihre Strategien unabhängig von Marktschwankungen verfolgen können. Viele unserer Kunden zeigen derzeit verstärktes Interesse, sich von der Börse zurückzuziehen. Und die, die es können, tun es oft auch, wie etwa einige Mittelständler in Deutschland.  Auch, weil der Druck von Aktionärsseite so hoch ist. Publikumsaktionäre orientieren sich teilweise an Aktionärsaktivisten, die konstruktiv oder eben destruktiv handeln. Klar, Aktivisten können wichtige Strukturveränderungen in einem Unternehmen anstossen. Doch in Zeiten schwieriger, unübersichtlicher und volatiler Märkte ist aktivistisches Vorgehen für ein Unternehmen nicht immer sehr effizient.

Was ist dagegen zu tun?
Die Unternehmen müssen ihre Kapitalstruktur überdenken, sich überlegen, welche Aktionäre sich einkaufen und ob eine Publikumsgesellschaft für jede Unternehmensphase die beste Wahl ist. Sie müssen sich grundsätzlich fragen, wie sie die Kapitalmärkte nutzen wollen.

Die Investitionstätigkeit vieler Unternehmen ist gering. Was ist der Grund dafür, und ist das gut oder schlecht?
Der Grund liegt meiner Meinung nach im Informationsüberfluss. Das macht den Entscheidungsprozess komplex und kann lähmen. Wir raten Entscheidungsträgern daher, einen Schritt zurückzutreten, eine Langfristperspektive einzunehmen und auf mehreren Ebenen Lösungen zu suchen. Es ist wichtig, viele kleinere Projekte auf den Weg zu bringen, sie regelmässig anzupassen und Allianzen mit anderen Firmen auszuprobieren – und immer wieder nach neuen Ideen Ausschau zu halten.

Welche Rolle spielen die immer wieder genannten Überkapazitäten?
Überkapazitäten betreffen einige, nicht alle Industrien. Besonders in der Schwerindustrie Chinas, in der Stahlherstellung und im Autobau bestehen strukturelle Überangebote. Da zählt ein strategisch richtiges Vorgehen doppelt. Da braucht es keine neuen Fabriken, aber zum Beispiel Ideen, wie Produkte gestaltet werden können, damit sie kostengünstig herstellbar sind. Herrscht Preisdruck, nehmen Kosten einen ganz anderen Stellenwert ein, da muss man über die Bücher gehen.

Mithilfe der Konzepte von Industrie 4.0?
Industrie 4.0 ist ein Vorteil für die westlichen Industriestaaten, denn sie können die Produktion so quasi reimportieren. Ihr grosser Nachteil lag ja bislang in hohen Personalkosten. Doch mit der Digitalisierung und der Roboterisierung der Fertigung werden diese weniger wichtig. Ein Roboter in Indien kostet gleich viel wie einer in Europa. Der Hersteller von iPhones etwa, die chinesische Foxconn (Foxconn 0 0%), hat Fabriken in die USA verlagert, weil er dort jetzt günstiger produzieren kann – und es sechs Wochen Transportzeit spart.

Heisst das, die Schwellenländer sind die Verlierer von Industrie 4.0?
Die Schwellenländer geraten unter Druck, sich schnell anzupassen, denn dort stehen die grossen Fabriken, mit vielen Beschäftigten. Das Altern der chinesischen Bevölkerung etwa kann sich hier als Vorteil erweisen, weil weniger junge Arbeitskräfte nachrücken.

Wann wird sich Industrie 4.0 auf die Arbeitsmärkte auswirken?
Wir erwarten das für die Jahre 2020 bis 2025. Heute dauert es noch länger, einen Roboter für eine neue Smartphone-Version umzuprogrammieren, als die Arbeitskräfte umzuschulen. Das wird sich aber ändern.

Sie sagen, die Informationsfülle mache Investitionsentscheide komplexer. Kann daraus abgeleitet werden, dass sich Grossunternehmen schwerer tun mit den Flexibilisierungsanforderungen der Zukunft?
In grossen Unternehmen konzentriert sich eine enormes Wissen über Märkte und Kunden. Sie verfügen über ausgefeiltes Marketing-Know-how, verschiedenste Vertriebskanäle und grosse Forschungs- und Entwicklungspower. Grossunternehmen haben viel mehr Potenzial, als sie selbst oft wissen. Doch sie müssen ihre Einstellung ändern, flexibler, offener werden. Verbinden sich die Ideen und Projekte eines Start-up mit den Fähigkeiten eines Grossunternehmens, kann daraus ein Super-Start-up entstehen.

Was müssen Unternehmen in der Transformation hin zu Industrie 4.0 beachten?
Dass es dabei nicht nur um Technologie geht, sondern um neue Ideen, neue Formen der Produktion, um flache Strukturen, Agilität und offenes Denken. Die Unternehmensleitung muss dies intern auch richtig kommunizieren.

Jemand muss aber die grossen Fabriken bauen und die Produkte herstellen. Nicht alle können sich die Leichtfüssigkeit Ihrer Strategie erlauben.
Immer mehr Unternehmen unterhalten heute keine eigenen Fabriken mehr. Und immer mehr Unternehmen, die produzieren, tun dies wie Foxconn im Auftrag. Für diese Hersteller wird es noch wichtiger, mehrere Kunden zu haben, um die Kapazitäten gut bewirtschaften zu können. Und sie müssen flexibel und offen sein, um den sich ändernden Kundenanforderungen immer wieder gerecht zu werden. Dies widerspricht einer Strategie der vertikalen Integration: Engagiert sich ein Stahlproduzent zugleich im Eisenerzabbau, funktioniert das, solange die Preise steigen. Fallen sie, kommt es zum Desaster. Eine solche Strategie ist heute nicht nachhaltig, dafür gibt es leider viele Beispiele.

Industrie 4.0 macht Unternehmen flexibler Die vierte industrielle Revolution – Industrie 4.0 – war ein Schwerpunktthema am diesjährigen WEF in Davos. Ihre Kernelemente sind Digitalisierung und Vernetzung. Das soll die Produktion schneller, flexibler, präziser und günstiger machen und die Unternehmen laut Charles-Edourad Bouée leichtfüssiger. In letzter K onsequenz werden sich Aufträge selbstständig durch ganze Wertschöpfungsketten steuern, Bearbeitungsmaschinen und Material buchen sowie die Auslieferung an Kunden organisieren.

Solche automatisierte Intelligenz entsteht nicht nur in Hightech-Clustern wie dem Silicon Valley in Kalifornien. Sie ist inzwischen allgegenwärtig und unter anderem auch in Zug anzutreffen. Der dort ansässige Anbieter von Verbindungstechnologie, Bossard, zählt gemäss Roland Berger zu den Pionieren von Industrie 4.0.

Sein Logistiksystem SmartBin ist weder neu noch glamourös, bei Weitem nicht das höchstentwickelte und auch keine ­digitale Hexerei. Wie viele andere intelligente Lösungen ist es noch ein insulärer Ansatz, die systemweite Einbettung fehlt noch. Aber es ist effektiv und zeigt: Die vierte industrielle Revolution läuft schon länger. SmartBin vereinfacht die Abläufe, erübrigt manuelle Prozesse, sichert eine lückenlose Versorgung und senkt den administrativen Aufwand. Es reduziert die Lagerhaltung und bindet so weniger Kapital. Und es beeindruckt auch im Silicon Valley.

Tesla Motors, der dort ansässige Hersteller von Elektroautomobilen, nutzt es seit mehreren Jahren. In seiner Produktion gewährleistet SmartBin die Zulieferung von Verbindungselementen.

Das System besteht aus einer Kombination von konventionellen, mit Schrauben und anderen Kleinteilen gefüllten Behältern und Gewichtssensoren. Diese leiten die ­Daten täglich an Bossard. Beim Erreichen des Mindestbestands wird automatisch die vordefinierte Bestellmenge bei den Lieferanten geordert und direkt ins Kundenlager oder an den Verwendungsort nachgeliefert.

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