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10:25 Uhr - 23.12.2015

Zehn Zinswenden

In den vergangenen vier Jahrzehnten änderten das amerikanische Federal Reserve System und die Schweizerische Nationalbank
den geldpolitischen Kurs jeweils fünf Mal grundlegend. Ein Rückblick auf die letzten zehn Zinswenden.

Kurz vor dem Jahresende 2015 hat die amerikanische Zentralbank doch noch das Steuer herumgeworfen. Die Leitzinserhöhung, die das Federal Reserve Mitte Dezember vollzog, verdient gleich mehrere Superlative. Noch nie waren die Zinsen so lange so tief gehalten worden, und noch nie haben die Notenbankgouverneure so lange mit ihrem Zinsentscheid gerungen wie diesmal. Sie stellten ihn in Aussicht und verwarfen ihn wieder, kündigten ihn erneut an, um dann weiter zu zögern. Schuld daran ist die niedrige Inflation.

Wendepunkt am Währungsmarkt Die eigene Währung gezielt abzuwerten, gehört heute viel selbstverständlicher zu den Absichten der Geldpolitik als in der Vergangenheit. Wirtschaftspolitische Kooperation zwischen Staaten wird zwar versprochen, aber nicht praktiziert.
Lesen Sie hier den Artikel von FuW-Redaktor Andreas Neinhaus.
Der herkömmliche Konjunkturzyklus, bei dem eine wirtschaftliche Erholung über kurz oder lang zu höherer Inflation führt, scheint nicht mehr zu gelten. Notenbanken haben dadurch ihre wichtigste Referenz verloren und zögern, sich in bewährter Manier frühzeitig «gegen den Wind zu lehnen». Im Gegenteil: Sie sind in den vergangenen Jahren mehr und mehr in die Rolle gedrängt worden, die Konjunktur zu stimulieren, durch rekordtiefe Zinsen und, wenn das nicht reicht, durch spezielle Kreditprogramme, Anleihenkäufe oder Eingriffe am Devisenmarkt.

Ben Bernanke hat als Chef des Federal Reserve nie eine Zinserhöhung verantworten müssen. Das gleiche gilt in der Schweiz bereits für zwei Nationalbankpräsidenten, Philipp Hildebrand und Thomas Jordan, respektive für das gesamte gegenwärtige Direktorium. Der Hang zu stimulieren, statt zu straffen, ist allgegenwärtig. Historisch ist das ungewöhnlich, wie der untenstehende Überblick zeigt.

Beschrieben werden die fünf letzten Zinswenden, die die Notenbanken in den USA und in der Schweiz jeweils beschlossen haben: Hintergründe, Protagonisten und Auswirkungen in vier Jahrzehnten Geldpolitik. Vom weltweiten Ölpreisschock in den Siebzigerjahren bis zum geldpolitischen Richtungswechsel vor zehn Jahren, bevor wenig später die Weltwirtschaft von der Finanzkrise erfasst wurde, die alle Rahmenbedingungen auf den Kopf stellte.

Der Blick zurück macht deutlich, dass steigende Zinsen nicht per se Gift für den Aktienmarkt bedeuten müssen. Vor allem dann nicht, wenn sie das Wirtschaftswachstum nicht abwürgen. Andererseits  zeigt sich auch, dass es den Notenbanken in der Praxis nicht gelang, Marktübertreibungen rechtzeitig zu bremsen oder gar zu beenden. Das US-Fed versuchte es in den Neunzigerjahren, gab aber auf. Nicht nur in den USA zogen sich Notenbanker zurück und beschränkten sich auf die so genannte Realwirtschaft. Das ist aber problematisch, wenn sie wie heute eine Nullzinspolitik betreiben oder sogar direkt am Kapitalmarkt intervenieren, denn sie beeinflussen damit die Finanzmärkte drastisch.

Die US-Notenbank wird 2016 die Zinserhöhungen fortsetzen und voraussichtlich vier Mal die Geldmarktsätze straffen. Im Euroland und in der Schweiz ist vor dem Jahr 2017 kaum damit zu rechnen; aber wahrscheinlich nicht einmal dann.

USA

1.
1977

Der Demokrat Jimmy Carter löst den Republikaner Gerald Ford im Weissen Haus ab. Im ersten Halbjahr 1977 nimmt die Inflation kräftig zu und erreicht 9%. Die Geldmenge wächst stark. Daraufhin beschliesst  das Federal Reserve (Fed), dem Arthur Burns als Präsident und Paul Volcker als Vize vorstehen, die Liquidität zu drosseln. Die Inflationsdynamik lässt rasch nach. Die Anleihenrenditen steigen gegen Jahresende trotzdem, denn es wird mit einer hohen Neuverschuldung der Regierung im kommenden Jahr gerechnet. Die Wirtschaft wächst real stattliche 5%, wohl deshalb hinterlässt die Zinserhöhung am Aktienmarkt  kaum Spuren. Ab September gerät der Dollar am Devisenmarkt unter Verkaufsdruck, weil an der Wirtschaftspolitik der Carter-Regierung gezweifelt wird und die USA ein wachsendes Defizit in der Leistungs- und Handelsbilanz einfahren. Vor allem D-Mark und Franken gewinnen an Wert.

2.
1987

Alan Greenspan erzählt in seinen Memoiren, wie an seiner ersten Fed-Sitzung als Notenbankchef im September 1987 über eine Zinswende beraten wird. Es ist das einzige Mal in seiner Karriere, dass er nicht die Richtung vorgibt, sondern nur zuhört. Die über Staatskredite finanzierte Wachstumspolitik der Reagan-Regierung hat dafür gesorgt, dass sich die Staatsschulden fast verdreifacht haben. Die Inflation ist auf 3% gestiegen. Der Wirtschaftsmotor läuft heiss. Gemäss dem Chef der Distriktnotenbank von St. Louis sind «selbst Schuhfabriken zu 100% ausgelastet». Das Fed strafft daraufhin die Zügel. Die klare Absicht, den Boom zu bremsen, löst im Oktober 1987 eine Panik an den Aktienbörsen aus. Der Kurssturz hat indes nur begrenzte Folgen für die Gesamtwirtschaft. Bereits 1988, noch während des Präsidentschaftswahlkampfs zwischen George Bush und seinem demokratischen Herausforderer Michael Dukakis, fährt das Fed damit fort, die Zinsen zu erhöhen.

3.
1994

Diese Zinswende geht als «Blutbad am Bondmarkt» in die Geschichte ein. Das Fed verdoppelt die Leitzinsen binnen eines Jahres. Greenspan ist noch Zentralbankchef, Bill Clinton sitzt im Weissen Haus. Das Land befindet sich im Aufschwung. Die Inflation beträgt 3%, was bei einem Leitzins von 3% einem Realzins von 0% gleichkommt. Das Fed lehnt sich gegen den Wind. Da es sich um die erste Zinserhöhung seit fünf Jahren handelt, optimiert die Notenbank die Kommunikation. Im Januar wird die anstehende Leitzinserhöhung mehr oder weniger angekündigt, zum ersten Mal in der Geschichte. Trotzdem kommt die Botschaft nicht am Markt an. Vor allem Anleihenhändler werden auf dem falschen Fuss erwischt, als das Fed im Februar zur Tat schreitet. Die Kritik ist enorm. Aber die Konjunktur kühlt sich nur leicht ab. Greenspan gelingt die «weiche Landung». Die Börsen vergessen ihren Zorn auf das Fed schon bald, denn 1995 setzt die Internet-Hausse ein.

4.
1999

Gut zwei Jahre sind vergangen, seit Alan Greenspan in einem Vortrag vor «irrationalem Überschwang» gewarnt hatte. Das Fed sorgt sich nach wie vor um das Tempo der Kursgewinne an den Börsen. 1997 wird der Versuch unternommen, die  Dynamik mit einer Zinserhöhung zu bremsen, allerdings ohne Erfolg. Greenspan gibt Forfait: Eine Zentralbank könne nicht entscheiden, ob Aktien überbewertet seien oder nicht, erklärt er. Als Mitte 1999 die Leitzinsen angehoben werden, geschieht das offiziell nur, um die zuvor während der Finanzkrise eingeschossene  Liquidität abzuschöpfen und um einer Überhitzung der Wirtschaft vorzubeugen. 1998 hatte sich der Stand des Nasdaq-Index verdoppelt, 1999 schiesst er weitere 85% nach oben. Am Markt bleiben die Zinserhöhungen lange ohne Wirkung. Erst beim letzten Zinsschritt auf 6,5% überschreitet der Nasdaq-Index seinen Höhepunkt und beginnt eine Talfahrt, die die Notierungen auf das Niveau von 1997 zurückführt.

5.
2004

An der Sitzung des Offenmarktauschusses im Juni, an der die Leitzinsen  erhöht werden, gibt die heutige Fed-Chefin Janet Yellen ihren Einstand. Greenspan ist immer noch Notenbankchef. Der Entscheid für die Zinswende fällt den Notenbankern nicht leicht. Auf der einen Seite steht fest, dass die Wirtschaft boomt und die Inflation zu steigen droht. Andererseits schwächen sich die Konjunkturdaten im Frühsommer ab. Mancher Kommentator empfiehlt  deshalb, von einer Zinserhöhung abzusehen. Das Fed entscheidet einstimmig zu straffen, wählt im Communiqué aber einen zurückhaltenden Ton: Die Risiken einer Konjunkturabschwächung  und eines Inflationsanstiegs seien ausgeglichen; da die Teuerung immer noch gering sei, werde der Geldhahn in gemässigten Schritten gedrosselt. Die US-Börse gibt zunächst ab,  der S&P 500 verliert bis Anfang August 7%. Danach geht die Reise aufwärts: Während das Fed den Leitzins von 1,25% bis Dezember 2005 auf 4,25% hochschraubt, legt der US-Aktienmarkt 20% zu.

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Schweiz

6.
1979

Anders als heute steuert die Schweizerische Nationalbank (SNB) in den Siebzigerjahren die Geldpolitik nicht über den Zins, sondern über die Geldmenge. Das Jahr 1978 wird durch eine dramatische Abwertung der D-Mark zum Franken geprägt. Nachdem der Kurs zeitweise unter 80 Fr. gefallen ist, beschliesst SNB-Chef Fritz Leutwiler, ein Wechselkursziel einzuführen: «Es wird bekannt gegeben, dass der DM-Kurs zwischen 84 und 100 Fr. fixiert wird und dass die Nationalbank bereit ist, so lange zu intervenieren, bis sich der DM-Kurs auf 84 Fr. erhöht hat.» Binnen weniger Tagen steigt der Kurs deutlich. Der SNB-Spitze unterläuft allerdings der Fehler, den Inflationseffekt der plötzlichen Frankenabwertung nicht vorherzusehen. Dazu kommt das Pech, dass sich der Ölpreis verdreifacht. Die Teuerung, die im Oktober 1978 nur 0,4% beträgt, zieht bis Ende 1979 auf 5% an. Derweil steigen die kurzfristigen Zinsen am Geldmarkt von 0 auf über 6%.

7.
1984

Die Schwankungen der Geldmarktzinsen ab 1983 stellen zwar keine echte Zinswende dar, aber sie markieren doch das Ende einer Rezession, die im Vorjahr von einem markanten Zinsrückgang begleitet wurde. Die SNB mit Fritz Leutwiler an der Spitze versucht, die Preisstabilität wieder herzustellen. 1983 interveniert sie am Devisenmarkt, was zu einer vorübergehenden Liquiditätsausweitung führt. 1984 fällt die Geldnachfrage geringer aus, als die SNB mit ihrem für das Jahr angepeilten Ziel des Geldmengenwachstums von 3% erwartet hatte. Sie steuert aber nicht gegen, sondern lässt die Zinserhöhung am Geldmarkt als willkommene Entwicklung zu: Sie scheint angesichts der konjunkturellen Erholung gerechtfertigt und zur Bekämpfung der Inflation angemessen. Die Teuerung beträgt 1983/84 3% und steigt 1985, als die Konjunktur durchstartet. 1986 fällt sie auf 0,8%, nachdem die SNB das Geldmengenwachstum gedrosselt hat.

8.
1988

Nach dem Börsencrash im Oktober 1987 erhöht die SNB, unter der Leitung von Piere Languetin, die Liquidität. Sie entscheidet sich, auch für 1988 ein grosszügiges Geldmengenziel auszugeben. Zum einen bestehen nach dem Kurssturz noch beträchtliche wirtschaftliche Risiken, zum anderen treten in der Schweiz neue Liquiditätsvorschriften für Banken sowie ein neues elektronisches Zahlungsverkehrssystem (SIC) in Kraft. Tatsächlich überschätzt die SNB den Geldbedarf. Die Zinsen brechen ein. Der neue SNB-Chef Markus Lusser steuert 1988 gegen. Die Liquiditätsüberschüsse werden abgeschöpft, worauf die Kurzfristsätze auf ein normales Niveau zurückkehren. Die langfristigen Renditen bleiben relativ stabil. Trotzdem überhitzt sich die Konjunktur, bevor alle Folgen der übermässigen Geldschöpfung neutralisiert werden können. Die Inflation zieht kräftig an. Die SNB strafft weiter, worauf die Geldmarktzinsen von 3,8% im Juli 1988 auf 9,5% Anfang 1990 steigen.

9.
1999

1999 ist ein Jahr der Umstellung. Der Euro wird am 1. Januar eingeführt. Die SNB bemüht sich, den Frankenkurs gegenüber der neuen Währung stabil zu halten. Als die Europäische Zentralbank im April die Zinsen senkt, zieht die SNB nach. Ab September steigen die Geldmarktsätze kräftig, weil eine Liquiditätsverknappung zur Jahrtausendwende befürchtet wird, falls Computersysteme die Datumsumstellung nicht bewältigen sollten. Im Dezember stellt die SNB ihr geldpolitisches Konzept um:  Sie steuert fortan den Dreimonats-Libor als Leitzins, fixiert ein Zielband für ihn und orientiert sich dabei an einem Inflationsziel. Die Bekanntmachung verknüpft das Direktorium mit einer Zinserhöhung auf 1,25 bis 2,25%. Der Libor soll in der Mitte auf 1,75% gehalten werden. Als sich bald zeigt, dass sich die Konjunktur dank der robusten Weltwirtschaft und des schwachen Frankens stärker als erwartet erholt, zieht die SNB mit weiteren Zinserhöhungen nach.

10.
2005

Die Zeit ab Mitte 2004 beschreibt die SNB als Phase, in der sie die geldpolitischen Rahmenbedingungen normalisiert. Aus konjunkturellen Gründen strafft das Direktorium, dem Jean-Pier Roth als Präsident sowie Niklaus Blattner und Philipp Hildebrand angehören, die Zügel im September 2004. Wenig später entscheidet es sich aber dafür, zu pausieren, weil sich der Aufschwung verlangsamt. Das ist vor allem einer Abschwächung in Europa zuzuschreiben. Als das Direktorium Mitte 2005 auf Grund der Inflationsprojektionen zum Schluss kommt, dass die Teuerung zu rasch zunimmt, strafft es die Zinsen erneut. Den Dreimonats-Libor führt die SNB bis Herbst 2007 auf 2,75% – zu einer Zeit also, in der sich die Folgen der US-Subprime-Hypothekenkrise auf europäische Banken auszuwirken beginnen. Ein  Jahr später bricht die Weltfinanzkrise aus, mit dem Kollaps der Bank Lehman Brothers in den USA und der finanziellen Rettung der UBS durch die SNB.

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