Die BIP-Expansion von 18,3% ist nur eine Erholungsbewegung – ohne Sondereffekte wäre das Wachstum enttäuschend.
Es ist bemerkenswert. 18,3% – so viel ist die chinesische Wirtschaft im Quartal bis Ende März gegenüber dem Vorjahresquartal gewachsen. Das kommt nicht unerwartet: Ökonomen haben im Mittel ein Wachstum von 18,5% prognostiziert. Diese Rekordexpansion ist eine Erholungsbewegung. Gemäss offiziellen Zahlen war das Bruttoinlandprodukt (BIP) vor einem Jahr wegen des Ausbruchs des Coronavirus um 6,8% eingestürzt – der grösste Einbruch seit der Mao-Ära.
Für das Gesamtjahr nehmen die Analysten von HSBC (HSBA 425.85 +0.79%) an, dass die chinesische Wirtschaft ein Wachstum von 8,5% erreichen wird – als Erholung vom niedrigen Jahreswachstum 2020 von 2,3%. Umso erstaunlicher ist es, dass Peking für 2021 ein relativ niedriges Wachstumsziel von «6 bis 6,5%» anpeilt – Beobachter nehmen an, dass dies ein Signal an die Lokalregierungen ist, die Wachstumsförderung nicht zu übertreiben.
Es gibt aber Zweifel an den hohen Zahlen. Die Analysten des Zürcher Researchhauses WPuls hegen Misstrauen gegenüber den offiziellen Daten. In einem Index der ökonomischen Aktivität verwenden sie verlässliche Wirtschaftsindikatoren, um das tatsächliche Wachstum abzuschätzen. Das Quartalswachstum belaufe sich demnach auf nur 14%, deutlich weniger, als es die offizielle Statistik ausgewiesen hat.
Die WPuls-Analysten vermuten, dass dahinter ein Basiseffekt steckt: «Die Behörden verbuchten zu Beginn der Coronapandemie bewusst einen zu hohen Wirtschaftseinbruch, um danach eine starke Erholung zeigen zu können.» Für die Jahre ab 2005 bis 2020 liegt die BIP-Schätzung von WPuls deutlich niedriger als die staatliche Statistik. Nun scheint sich dieses Muster eines zu hoch ausgewiesenen Wirtschaftswachstums wieder zu etablieren.
Der Einbruch des BIP im Vorjahr macht es schwer, aufgrund des Rekordwachstums den tatsächlichen Wachstumstrend abzuschätzen. So beobachtet HSBC: «Ohne den Basiseffekt beträgt das jährliche BIP-Wachstum 5,4%, unter dem Niveau von vor der Pandemie.»
Capital Economics weist darauf hin, dass es hilfreicher sei, zur Schätzung des aktuellen Momentums die saisonal bereinigte Veränderung gegenüber dem vorherigen Quartal anzuschauen. «Das Wachstum ist langsamer als jemals sonst im vergangenen Jahrzehnt – mit Ausnahme des Vorjahresquartals», kommentiert Julian Evans-Pritchard, Chinaökonom bei Capital Economics.
Das Wachstum ist demnach stark abgeflaut: Das Quartals-BIP hat um nur 0,6% zugenommen, im Vorquartal waren es noch 2,3%. Das Industriewachstum ist von 2,3 auf 1,3% gefallen. Und ganz stark hat es den Dienstleistungssektor getroffen: Er ist um 2,3% geschrumpft. Zwar seien die Wachstumszahlen für den März wieder im Wachstumstrend, «aber das war nicht genug, um nach einem Abflauen zum Jahreswechsel ein schwächeres erstes Quartal zu verhindern», meint Evans-Pritchard.
Dazu kommt, dass das Wachstum gegenüber dem Vorjahr sehr uneinheitlich über die verschiedenen Komponenten des BIP verteilt war. Ein Treiber waren die Investitionen, die um über 25% gestiegen sind. Der Staat sorgte mit einem beschleunigten Ausbau der Eisenbahnverbindungen für mehr Wachstum. Ausserdem wurde heftig in Technologie investiert, um «technische Eigenständigkeit zu erreichen», beobachten Ökonomen der Bank ING.
Vergleichsweise schwach war das Wachstum der Industrieproduktion mit 14%. Gemäss ING ist das besonders auf eine geringere Exportnachfrage nach Kleidung, eine geringere Produktion von Smartphones und Massnahmen gegen Umweltverschmutzung zurückzuführen.
Auf den ersten Blick stark ist das Wachstum im Einzelhandel, der um mehr als ein Drittel zugelegt hat. Doch das ist eine Erholungsbewegung nach dem Einbruch wegen der Pandemie. Die Wertschöpfung durch die Gastronomie hat sich gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt. Doch sie leide immer noch unter Social-Distancing-Massnahmen, meinen die ING-Ökonomen. Der Gastrobereich habe sich erst auf das Niveau von vor der Pandemie erholt. Der inländische Konsum – inklusive Luxusgütern – profitiere noch von den Einschränkungen für internationale Reisen. Fallen diese Einschränkungen weg, könnte der Handelsumsatz erst einmal zurückgehen.
Ob sich das Wachstum noch einmal beschleunigt, hängt vom Kreditwachstum ab, das eng von Peking gesteuert wird. Hier zeigt sich die Regierung zurückhaltend: Im März lag die Ausweitung der Gesamtkreditvergabe – inklusive Anleihen und Schattenbanken – bei 12,3% gegenüber dem Vorjahr. Das ist der niedrigste Stand seit April letzten Jahres. Im Moment sind die Ängste um Risiken für das Finanzsystem anscheinend höher gewichtet als das Bestreben, die Wirtschaft zu stimulieren.
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