Der Star-Ökonom über Ungleichheit, enorme Staatsverschuldung, das Problem der Inflation – und die Frage, warum es ihm schwerfällt, für eine Flasche Wein mehr als zehn Dollar zu zahlen.
Herr Krugman, in Deutschland ist gerade Wahlkampf. Konservative und Liberale wollen steuerliche Erleichterungen für Vielverdiener – Sozialdemokraten, Grüne und Linke dagegen für Geringverdiener. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Paul Krugman: Das erinnert mich an die Situation in den USA, wo eine wichtige gesellschaftliche Gruppe seit langer Zeit meint, es wäre gut für alle, wenn man die Reichen noch reicher macht. Populär wurde das zu Zeiten von Präsident Ronald Reagan, man nennt es den Trickle-down-Effekt, der besagt, dass man nur die Steuern für Reiche senken muss, dann werde das auch den Armen helfen, weil es durchsickere.
Und, stimmt das?
Die Leute überschätzen die Macht von Steuern, Anreize zu setzen. Wenn jemand in New York 500’000 Dollar im Jahr verdient, zahlt er rund 55 Prozent Steuern. Haben Sie den Eindruck, dass New York ein Platz ist, wo die Leute faul sind wegen eines hohen Steuersatzes? Offensichtlich nicht. Dass niedrigere Steuersätze Reiche animieren, mehr zu tun, ist eine Legende. Da sickert auch nichts nach unten durch. Der Effekt für normale Leute ist sehr, sehr begrenzt. Die Theorie, dass man etwas für normale Arbeiter tut, indem man die Steuern für Vielverdiener senkt, ist nicht zu halten.
Was bringt es, Geringverdiener finanziell zu fördern?
Man kann viel tun, indem man Menschen einfach hilft. Wenn man ihnen Geld gibt, können sie ein besseres Leben führen. 1000 Dollar mehr machen für einen Wohlhabenden keinen Unterschied, aber für eine arme Familie können sie eine enorme Wohltat sein. Vieles deutet darauf hin, dass finanzielle Hilfe für arme Menschen auf lange Sicht stark positive ökonomische Effekte hat: Die Kinder werden gesünder, die Erwachsenen produktiver. Es gibt eher einen Trickle-up-Effekt: Armen zu helfen, hilft der gesamten Wirtschaft. Aber davon sind wir etwa in den USA weit entfernt.
Wie gleich wollen Sie die Menschen machen?
Ich bin für Kapitalismus und Marktwirtschaft – aber für eine Marktwirtschaft, die über ein soziales Netz verfügt und den Arbeitern Macht gibt. In den 1950er- und 1960er-Jahren war die amerikanische Gesellschaft viel gleicher als jetzt. Trotzdem gab es starkes Wirtschaftswachstum. Die Gesellschaft in Dänemark ist viel gleicher als die der USA, trotzdem ist das Wachstum höher. Das liegt daran, dass das Sozialsystem besser ausgebaut und die Arbeiterbewegung stärker ist. Die Lebensqualität für den Durchschnittsbürger ist viel höher als in den USA.
In Ihrem jüngsten Buch erklären Sie den «Zombies» den Kampf. Gegen wen kämpfen Sie da genau?
Ein Zombie ist keine Person, sondern eine falsche Idee, die sich in den Gehirnen der Menschen eingenistet hat. Eine der wichtigsten in den USA ist die Vorstellung, es würde viele Probleme lösen, wenn man die Steuern für Reiche senkt. Eine andere mächtige Zombie-Idee ist, dass eine hohe Staatsverschuldung immer katastrophal ist und in der Geschichte oft zum Desaster geführt hat.
«Es gibt derzeit wirklich keinen Grund, sich wegen der Staatsverschuldung grössere Sorgen zu machen.»
Ist es für Staaten immer gut, sich zu verschulden?
Wenn die Wirtschaft gut läuft, ist es natürlich angebracht, Schulden zurückzuzahlen. Dann braucht man auch keinen Stimulus vom Staat. In Europa und in den USA war die Wirtschaft nach 2009 aber schwer notleidend, mit extrem niedrigen Zinsen, und selbst da blieb die Bekämpfung von Defiziten für Politiker das Wichtigste. Das war ein Desaster.
Wenn man auf die vergangenen 20 Jahre in der Weltwirtschaft schaut, war eigentlich immer Krise: die Internetblase, Finanzkrise, europäische Schuldenkrise, jetzt die Pandemie. Wann hätte es da Sinn ergeben, Schulden zurückzuzahlen?
Die vergangenen 20 Jahre waren eine schwierige Zeit. Man zahlt Schulden zurück, wenn die Bedingungen dafür günstig sind. Gegenwärtig sind alle hoch entwickelten Volkswirtschaften mit dem Problem einer anhaltend schwachen Nachfrage konfrontiert. Verbraucher und Unternehmen sparen viel mehr, als sie Geld ausgeben, und investieren, was zu sehr niedrigen Zinsen führt. Unter diesen Bedingungen sind Schulden schon mal kein Problem, da der Schuldendienst minimal ist. Es gibt derzeit wirklich keinen Grund, sich wegen der Staatsverschuldung grössere Sorgen zu machen.
Es gab mal eine Studie, dass Staaten dem Untergang geweiht sind, wenn ihre Schuldenquote 90 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung übersteigt.
Das war eine Schande. Zwei angesehene Ökonomen schrieben etwas, für das es überhaupt keine Belege gab. Es ist inzwischen widerlegt.
Gibt es überhaupt eine Grenze für die Staatsverschuldung? In Italien sind es 160 Prozent …
In Japan sind es 200, und es ist überhaupt kein Problem. Die USA kamen mit 250 Prozent aus dem Zweiten Weltkrieg heraus, trotzdem gab es nie eine Krise.
Es gibt also keine Grenze?
Man weiss es nicht. Vermutlich wären 1000 Prozent nicht so gut. Aber es gibt dazu nichts in den Daten oder in der Geschichte. Kein Land mit einer stabilen Regierung und seiner eigenen Währung hat wirklich eine feste kritische Schuldengrenze.
«Die Kerninflation in Europa liegt unter einem Prozent, es ist verrückt, sich da wegen der Inflation Sorgen zu machen.»
In Europa gibt es Ökonomen, die sagen, mehr als 150 Prozent Staatsverschuldung liessen sich nie wieder zurückzahlen.
Wenn man die Zinsen für italienische Staatsanleihen und das Wirtschaftswachstum dort betrachtet, ist es schwierig, die Schulden zurückzuzahlen. Aber Staaten müssen die Schulden auch nicht zurückzahlen. Sie müssen nur darauf achten, dass die Schulden nicht stärker wachsen als die Wirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA und Grossbritannien tief verschuldet. Sie haben die Schulden nie zurückgezahlt. Was passierte, war, dass die Wirtschaft stark wuchs und die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftskraft unbedeutend wurden.
Die Inflation ist gerade sehr hoch. In Deutschland beunruhigt das wegen der historischen Erfahrungen viele Menschen. Manche Experten sagen: Wenn eine Zentralbank den Staat finanzierte, hat das immer in einer horrenden Inflation geendet.
Wenn Zentralbanken Staatsanleihen aufkaufen wie derzeit in den USA und Europa, ist das nicht genau dasselbe wie eine Staatsfinanzierung. In Deutschland wird immer die Frage gestellt, was 1923 mit der Hyperinflation passierte. Aber niemand fragt nach der Deflation von 1931, die zum politischen Zusammenbruch führte. Die Kerninflation in Europa liegt unter einem Prozent, es ist verrückt, sich da wegen der Inflation Sorgen zu machen. Es ist eine vorübergehende Erscheinung.
Welche Bilanz ziehen Sie für die Ära Trump?
Er erhöhte die Staatsverschuldung, aber das ist kein grosses Problem. Er war ein Protektionist, aber auf eine unberechenbare Weise, damit hat er viel Unsicherheit erzeugt und der Glaubwürdigkeit der USA geschadet. Trumps Wirtschaftspolitik war nicht klug und nicht sehr erfolgreich, aber sie hat auch nicht zu viel Schaden angerichtet.
Sie haben anfangs schwärzer gesehen.
Ich habe in der Wahlnacht Panik gekriegt und geschrieben, dass seine Präsidentschaft furchtbare ökonomische Folgen haben werde. Das habe ich aber drei Tage später zurückgenommen und mich dafür entschuldigt. Ich erklärte, meine politischen Gefühle hätten mein ökonomisches Urteil ausser Kraft gesetzt.
«Ich bin kein Heiliger. Die Universität bat mich, für sie zu arbeiten, und bot mir dafür ein Gehalt an.»
Sie haben also überreagiert.
Ja, ich bin ein Mensch, ich mache Fehler. Danach habe ich gesagt, dass Trumps Absicht, die Schulden zu erhöhen, die Wirtschaft zumindest kurzfristig ankurbeln werde. Es könnte langfristig einen Schaden geben, es müsse aber nicht so sein.
Einige Republikaner feinden Sie an. Als Sie von Princeton zur Universität in New York wechselten, warf man Ihnen das hohe Einkommen von 250’000 Dollar vor.
Ich bin kein Heiliger. Die Universität bat mich, für sie zu arbeiten, und bot mir dafür ein Gehalt an. Ich wollte sicherlich niemanden ausnutzen. Das war ein Journalist, der nach einem Skandal gesucht hat. Ich bin ein New Yorker Einwohner, der viel Steuern zahlt.
Ist Ihnen Geld wichtig?
Ich mag es, genug Geld zu haben. Ich habe keine teuren Hobbys. Ich habe die Freiheit, Urlaub zu machen oder in ein Restaurant zu gehen, ohne mich sorgen zu müssen, ob ich es mir leisten kann. Aber ich muss mich selbst überreden, teureren Wein zu kaufen, als ich normal kaufen würde, vielleicht für 20 statt für zehn Dollar. Ich kaufe keine 100-Dollar-Flaschen.
Wie wohlhabend sind Sie?
Wir haben ein Haus in Princeton, ein Apartment in New York und auch eine Ferienwohnung. Ich habe ein schönes Leben. Auf der anderen Seite habe ich manchmal mit Menschen zu tun, die mit dem Helikopter zum Strand in Hampton fliegen.
Wie legen Sie Ihr Geld an?
Ich bin da kein Experte. Ich habe Ersparnisse, mache aber nichts Besonderes damit. Lediglich ein ausgewogenes Portfolio mit Aktien und Anleihen, ich versuche nicht, den Markt zu übertreffen.
(Tages-Anzeiger)
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