Das traditionelle Roundtable-Gespräch der «Finanz und Wirtschaft»: André Kistler, Christophe Bernard und Marc Possa zeichnen die groben Linien für 2017 und geben konkrete Ratschläge fürs Portfolio.
Was nehmen Sie als Anlageexperten aus dem zurückliegenden Jahr mit ins neue?
Christophe Bernard: Wir hatten weder Brexit noch Trump vorausgesehen und waren von der Marktreaktion genauso überrascht wie fast die gesamte Branche. Das lehrt Bescheidenheit.
André Kistler: Es war beeindruckend, wie die Märkte intelligent auf das Getöse, die Voraussagen und die Ängste vieler Anleger und Beobachter reagiert haben. Was zählt, sind die Fakten – für Aktien vor allem anderen die Unternehmensgewinne. Darauf haben sich die Märkte konzentriert.
Marc Possa: Brutal ist, wie die meisten Zentralbanken unter der Fuchtel der Politik stehen und die Märkte systematisch verzerren – und dass diese Entwicklung anhält, ja anhalten muss, weil in den meisten Ländern die Tragbarkeit für höhere Zinsen fehlt. Die ultralockere Geldpolitik wird in Europa sicher fortgesetzt, aber ich wäre nicht überrascht, wenn es später mal krachen würde.
Wie kommt es, dass Anleger im Vorfeld der US-Wahlen über Trump besorgt sind, dann über Nacht ihre Meinung ändern und den neuen Präsidenten beklatschen?
Bernard: Ein gewisser Wandel war schon seit Sommer in Gang. Die Rendite der zehnjährigen US-Staatsanleihen ist von 1,4 auf fast 2,5% gestiegen, und erstmals seit langem wurden die Prognosen fürs amerikanische Wirtschaftswachstum im Verlauf des Jahres nicht nach unten, sondern nach oben revidiert. Das Deflationsszenario und die säkulare Stagnation, die viele im Kopf hatten, bekamen Risse. Plötzlich bewegten sich die Wahrscheinlichkeiten in die andere Richtung. Trump hat diese Tendenz noch verstärkt.
Noch verharren viele Anleger an der Seitenlinie. Ist die fundamentale Lage besser als die Stimmung?
Bernard: Zumindest kurzfristig ist die Lage besser, als der Markt erwartet hat.
Kistler: Es war das Jahr des aktiven Investors. In der Schweiz haben aktive Aktienportfolios rund 10 Prozentpunkte besser abgeschnitten als Indexprodukte. Nachdem 2012 bis 2014 Blue-Chip-Jahre waren, was Indexanlagen bevorteilt hat, sind 2015 und 2016 die Verhältnisse zurechtgerückt worden: Gutes wird belohnt und Schlechtes bestraft.
Wie ist dann die Kursschwäche von Nestlé um über 10% von Juni bis Mitte November zu erklären? Die Aktie gilt als alles andere als schlecht und hat den Ruf, ein Witwen- und Waisenpapier zu sein.
Possa: Das lässt sich mit dem erklären, was Christophe Bernard gesagt hat, mit der Rotation von den supersoliden, defensiven, aber auch eher langweiligen Sektoren hin zu mehr zyklischen Papieren. Wenn dann noch eine gewisse Ernüchterung hinzukommt wie jüngst bei Nestlé mit dem verlangsamten organischen Wachstum, dann kann ein solcher Titel rasch 10% an Wert verlieren.
Temporär oder langfristig?
Possa: So eine Rotation kann längere Zeit andauern. Auch wenn sich Nestlé erholt haben, zuoberst auf der Favoritenliste steht der Titel bei uns nicht.
Kistler: Auch wenn’s an der Qualität nichts zu mäkeln gibt: Aktien wie Nestlé sind in der Blue-Chip-Hausse 2011 bis 2014 einfach zu stark gestiegen.
Wird auch 2017 der aktive Investor belohnt werden?
Possa: Per Definition ist es ja so: Je mehr Anleger passiv investieren, umso höher sind die Chancen für aktive Investoren. Der Kostendruck, die Regulierungsflut und der Konzentrationsprozess im Asset Management zwingen ja förmlich zu passiven Anlageformen, auch bei den Pensionskassen. Es fehlt der Mut zur Lücke. Mit passiven Strategien wird alles repliziert, was im Index ist, völlig unselektiv.
Kistler: In den meisten Fällen fährt der aktive Anleger besser. Es braucht nicht mal Mut zum Risiko, denn wer indexiert anlegt, kauft auch mindere Qualität.
Wenn selbst die Aktienindizes deutlich voneinander abweichen – die USA aktuell klar voraus, Euroland mit deutlichem Abstand dahinter und erst dann die Schweiz –, wie soll der Investor angesichts dieser Divergenzen im neuen Jahr vorgehen?
Kistler: Langfristig investieren und auf die besten Qualitäten setzen. Für uns sind Sektor- und Länderüberlegungen sekundär. Die Qualitätskriterien müssen erfüllt sein. Um das zu beurteilen, muss man die Hausaufgaben machen und die Unternehmen sorgsam analysieren.
Was für Hausaufgaben gibt es noch?
Bernard: Regel Nummer eins ist, sich als Investor selbst gut zu kennen. Die menschlichen Schwächen, etwa Ungeduld oder asymmetrische Wahrnehmung, sind Konstanten an der Börse. Wir versuchen daher, weltweit mit systematischer Analyse Ineffizienzen zu finden, ob in Sektoren, Regionen, Rohstoffen oder bei Einzeltiteln. Unter- und Überbewertungen zu identifizieren, gehört, wie Herr Kistler sagt, zu unseren Hausaufgaben.
Wie sieht das Resultat aus: Wo gibt’s Schnäppchen, wo spekulative Blasen?
Bernard: Russland ist ein problematischer Markt, politisch, in puncto Transparenz und Corporate Governance. Aber es ist weltweit der günstigste Markt. Vielleicht wird Russland im neuen Jahr wieder besser beurteilt – etwa weil die Handelssanktionen fallen, es ein Arrangement in der Ukrainefrage gibt und der Ölpreis hilft. Vorderhand sind wir noch skeptisch, aber immerhin haben die Unternehmensgewinne gedreht. Ein anderes Beispiel, wo wir positive Signale sehen, ist die schwedische Krone. Da ist zu prüfen, wie die Währung bewertungsmässig steht, was die Zentralbank macht und wie sich die Kapitalflüsse entwickeln. Solchen Signalen gehen wir nach.
Wo sehen Sie Blasen? Die Zinsen hätten den Boden erreicht, sagen Sie. Heisst das: Hände weg von Obligationen?
Kistler: Wir haben in Obligationen seit Jahren ein Untergewicht. Im ausgewogenen Depot sind es aktuell 30%. Doch dass die Zinsen stark steigen, sehen wir nicht, schon gar nicht in der Schweiz.
Possa: Der Wendepunkt ist erreicht. Aber es wird, wenn überhaupt, nur gemächlich aufwärtsgehen.
Einverstanden?
Bernard: Da unterscheiden wir uns. Auf fünf Jahre hinaus sind Verluste bei guten Staatsanleihen aus Europa – Bunds und «Eidgenossen» – programmiert. In den USA präsentiert sich die Situation etwas anders, die Rendite der zehnjährigen Treasuries ist bereits bei knapp 2,5% und wird nach unserem Hauptszenario im Verlauf des nächsten Jahres auf 3% steigen.
Possa: Die Zinswende wird sich nicht materiell manifestieren, zu hoch ist die Verschuldung vor allem der Staaten. Die Politik hat es tatsächlich geschafft, ein System zu entwickeln, in dem der wichtigste Preis – das Zinsniveau – ausser Kraft gesetzt wurde.
Was passiert mit den Negativzinsen in der Schweiz, welche Optionen hat die Nationalbank?
Possa: Wir können uns vorstellen, dass sie im Extremfall die Negativzinspolitik, wenn es irgendwo kriselt auf der Welt, noch verschärft.
Dann müsste auch der Sparer draufzahlen.
Possa: Nicht zwingend, man könnte gewisse Befreiungslimiten auch für Sparer einführen. Wenn wir uns vor Augen halten, was politisch in Europa mit den Wahlen in verschiedenen Kernländern ansteht, muss man fast davon ausgehen, dass der Euro nochmals schwächer wird.
Kistler: Europa ist eine Baustelle. Schuldenberge, überschiessende Geldmenge, untragbar hohe Jugendarbeitslosigkeit im Süden – da kann der Euro jederzeit wieder schwächeln. Mit ihren rekordhohen Devisenbeständen von 650 Mrd. Fr. – so hoch wie das schweizerische Inlandprodukt – und den Minuszinsen von 0,75% hat die SNB nicht mehr viel Spielraum. Das Korrektiv ist letztlich der Markt, Währungsarbitrage wird eine untragbare Aufwärtsbewegung des Frankens verhindern. Doch vergessen wir nicht: Der feste Franken hat unsere Wirtschaft stark gemacht, das wird auch in Zukunft so sein.
Bernard: Negativzinsen sind politisch heikel. Aber es stimmt: Irgendwann kommt der Franken zum Euro wieder unter Aufwertungsdruck, die fundamentalen Daten der Schweiz sind beeindruckend, ob Wachstum, Arbeitsmarkt oder Leistungsbilanz, der Franken bleibt eine starke Währung.
Kehrt die Inflation zurück? In den USA geht die Entwicklung dahin.
Bernard: China wirkt nicht mehr deflationär, die Fiskal- und Stimulierungspolitik von Donald Trump, wenn er sie denn umsetzt, ist preistreibend. Vielleicht ist am 20. Januar, wenn Trump vereidigt wird, schon alles diskontiert: Die zehnjährigen US-Treasuries rentieren um 3%, der Euro-Dollar-Kurs steht bei Parität. Dann beginnen die höheren Zinsen auf die zinssensitiven Bereiche durchzuschlagen. Zwei stark fremdfinanzierte Sektoren haben bisher wesentlich zur Erholung der amerikanischen Wirtschaft beigetragen: die Autoverkäufe und der Hausbau. Da steckt ein potenzielles Risiko für die Börse.
Es gibt keine Alternative zu Aktien, heisst es seit langem. Gilt das weiterhin?
Bernard: Man hat es oft gesagt, aber kaum getan. Die Negativzinsen zeigen ja, dass im grossen Stil weiterhin Bonds gekauft werden.
Possa: Wir glauben, dass sich Anleger mit Realwerten vor einem potenziellen Gewitter schützen müssen. Wir leben schon lange über unsere Verhältnisse. Die Quittung für die unorthodoxe ultralockere Geldpolitik könnte eine Hyperinflation sein, wenn die Notenbanken zu spät gegensteuern. Umgekehrt könnte ein frühzeitiges Handeln die Wachstumsdynamik zum Erliegen bringen. Das wird kaum 2017 das Thema sein, aber früher oder später kommt es aufs Tapet. Was Papiergeld dann wert sein wird, werden wir sehen. Aus Sachwertüberlegungen machen Aktien weiterhin sehr Sinn.
Kistler: Wir befinden uns neu in einer Welt mit moderater Inflation und moderatem Wachstum – ein gutes Umfeld für alle, die Bevölkerung, die Unternehmen, die Anleger. Die politische Wende nach rechts – nicht rechtsextrem – setzt wachstumsfördernde Kräfte frei. Dieser Trend wird sich auch in Europa durchsetzen. Die Wende begann in Grossbritannien, dann kamen die USA und jüngst Italien. Es wird neues Vertrauen entstehen, was die Wirtschaft stärkt. Auch die Globalisierung bleibt intakt, man kann die Agilität der Unternehmen nicht durch politische Federstriche unterbinden. Wir rechnen mit 5 bis 10% höheren Unternehmensgewinnen im nächsten Jahr.
Was bedeutet das für die Kursaussichten, wie viel Positives nehmen die Börsen vorweg, wo unterschätzen sie die Risiken?
Possa: Wir stehen vor einer neuen Hausse, kurz- bis mittelfristig, mit 15 bis 20% höheren Kursen im kommenden Jahr, angetrieben von dem erwähnten Sachwertgedanken, dem Mangel an Alternativen und einer Bewertungsausdehnung. Angeführt wird der Aufschwung von den grossen und zuletzt vernachlässigten Titeln wie Nestlé, Novartis, Roche, jedoch auch von vielen kleineren Werten. Manche dieser Unternehmen sind in strukturellen Wachstumsmärkten aktiv, sind oft in Nischen klare Marktführer und decken eine globale Nachfrage ab.
Kistler: Die Risikoprämie von Aktien ist hoch und damit sehr attraktiv. Wir rechnen konservativ mit einem Kursplus von 5 bis 10%. Wenn es mehr ist, nehmen wir es gerne entgegen.
Bernard: Wir sehen es weniger rosig. Die Bewertung ist nicht mehr günstig, was eher zu einer Kontraktion führen könnte. Die hoch gewichteten Unternehmen Nestlé, Novartis und Roche verzeichnen kaum Gewinnwachstum, weshalb der SMI mit seinem hohen Anteil defensiver Titel wohl nicht das ideale Investment ist fürs nächste Jahr. Unter den Small und Mid Caps gibt es bessere Opportunitäten, auch im Ausland.
In Europa, in den USA oder in den Emerging Markets?
Bernard: Solange die Dollarrenditen steigen, ist es zu früh für die Emerging Markets. Später im Jahr, wenn sich die US-Währung stabilisiert, wird es Kaufgelegenheiten geben. Ein attraktiver Markt unter den Industrieländern ist Kanada mit seinem hohen Gewicht an Rohstoffaktien und seinen soliden Banken. Kanada dürfte 2017 besser abschneiden als die Schweiz.
Possa: Über Schweizer Aktien kann man am Trend der Schwellenländer partizipieren, die Unternehmen sind am dortigen Aufbau der Infrastruktur und der Bauwirtschaft beteiligt, wie beispielsweise Georg Fischer, Huber+Suhner und Belimo, aber auch am Konsum, wo Nestlé dazugehört.
Kistler: Schweizer Nebenwerte sind das Beste, was man im Depot haben kann. Die Unternehmen gehören weltweit zu den stärksten, sind innovativ, technisch führend und erschliessen sich laufend neue Märkte. Die Performance dieser Aktien schlägt auf die Dauer so ziemlich alle anderen Anlagekategorien und Märkte.
Gilt das auch für die Pharma, die 2016 die Anleger enttäuscht hat?
Possa: Die Pharmaindustrie steckt in einer Phase des Umbruchs, das geht vorüber. Wir stufen Pharma nicht negativ ein. Unsere Favoriten sind Unternehmen, die ein spezifisches Know-how sowie eine starke Marktposition haben. Wir nennen das einen Burggraben, Nischen mit hohen Eintrittsbarrieren. Das trifft für Valoren zu, die wir schon lange halten und weiterhin mögen, wie schon genannt Belimo oder Lem, Bobst, Also und Interroll.
Wie sehen Sie die Finanztitel, die von höheren Zinsen profitieren, aber keinen Burggraben haben?
Possa: Bankaktien kaufen wir nicht, Versicherungstitel selektiv.
Und Telecom?
Possa: Zu wenig interessant, zudem mischt sich die Politik ein. Wir halten uns allgemein von Unternehmen fern, bei denen die Politik mitspricht und im Verwaltungsrat vertreten ist.
Was favorisieren die anderen Herren?
Bernard: Eher zyklische Werte, zum Beispiel LafargeHolcim. Die Zusammenführung beider Konzerne hat zwar länger gedauert, doch jetzt beginnen die Zahlen zu stimmen. Unter den kleineren Werten setzen wir auf Sulzer, wo sich ein Turnaround abzeichnet. Europa ist attraktiver als die USA, und zwingend gehört nach der Stabilisierung des Ölpreises auf 50 bis 60 $ pro Fass ein Ölwert wie Royal Dutch oder Total ins Depot. Diese Unternehmen werden bei einem Ölpreis von 60 $ profitabler sein als früher bei 100 $, denn sie sind nach den Kostensenkungen der letzten Jahre heute viel produktiver aufgestellt. Spekulative Chancen haben UniCredit in Italien. Wenn die angekündigte Kapitalerhöhung gelingt und sich die Lage in Italien halbwegs beruhigt, könnten sie sich rund verdoppeln.
Kistler: Wichtig sind hohe Prognostizierbarkeit, Marktführerschaft, Ertragskraft und Bilanzqualität. Und ein Burggraben gehört auch dazu. Beispiele sind Bucher, Lindt & Sprüngli, Nestlé, DKSH und in den USA CVS, Amgen und Apple. Auch gut kapitalisierte Bankaktien wie Vontobel, J. P. Morgan und Goldman Sachs gefallen uns, ebenso Versicherungen mit gutem Ertragsfluss wie Baloise, Swiss Life, Zurich Insurance, Swiss Re und Scor. Die Finanztitel sind niedrig bewertet, was ihren Reiz erhöht.
Herr Possa meidet Banken und Telecom. Wovon lassen Sie die Hände?
Kistler: Von schlechter Qualität oder spezifisch von Airlines und Telecoms. Waffen- und Zigarettenhersteller lassen wir nur schon aus ethischen Gründen links liegen.
Bernard: Prinzipiell von allen Titeln, die hoch bewertet sind und keine entsprechende Gewinndynamik aufweisen.
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