Die Schweizer Börse SIX bereichert den heimischen Anleihenmarkt mit einem eigenen Bonitätsrating. Die ungewöhnliche Methodik stösst aber auf Kritik.
Es klingt nach einer guten Nachricht. Aber sie hat es in sich: Die Börsenbetreiberin SIX lanciert ein Kreditrating für festverzinsliche Instrumente. Damit werde eine Lücke am Schweizer Anleihenmarkt geschlossen, heisst es bei dem Unternehmen. Tatsächlich verfügt hierzulande nur jeder dritte Emittent über ein Rating einer internationalen Agentur wie Moody’s, Fitch oder Standard & Poor’s. Der grosse Rest, vor allem mittelgrosse Unternehmen und kleinere Emittenten, ist auf die Bankenratings von UBS (UBSG 12.35 0%), Credit Suisse (CSGN 13.045 0%), ZKB und Vontobel (VONN 59.45 0%) angewiesen. Sie sind wegen der Doppelrolle der Banken als Lead-Manager der Emission und als Bonitätsprüfer umstritten und sind von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht Finma auch nicht anerkannt.
Ein neuer Anbieter wird in der Branche denn auch mehrheitlich positiv aufgenommen. Das SIX-Rating sei eine Bereicherung für den Frankenbondmarkt, findet Maurice Pedergnana, Professor am Institut für Finanzdienstleistungen (IFZ) der Hochschule Luzern. Jede Form von Aufmerksamkeit sei gut zur Belebung des Schweizer Obligationenmarktes, der immer mehr an Bedeutung verliere. Die Banken haben den Eigenhandel praktisch eingestellt, und die grossen Emittenten wenden sich an den Euro- oder den Dollarmarkt. Auch René Hermann von Independent Credit View (ICV) findet mehr Wettbewerb begrüssenswert, stört sich aber daran, dass das Rating von SIX kommt, die auch die Handelsplattform der kotierten Anleihen ist und sich im Besitz der Banken befindet. ICV ist selbst in der Bonitätsprüfung aktiv und berät Investoren. Ihre Kreditratings sind nur zahlenden Kunden zugänglich.
Algorithmen übernehmen
Der grösste Kritikpunkt betrifft aber die Methodik. Denn SIX setzt voll auf den Einsatz der neusten Technologien. Die Ratings werden mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) erstellt, basierend auf öffentlich verfügbaren Informationen. Die lernenden Algorithmen sind in der Lage, Berichte zu verfassen, die selbst Skeptiker, die solche Exemplare schon gesehen haben, positiv überraschen. Für Fragen steht den Abonnenten ein Chat-Roboter zur Verfügung. Die betroffenen Unternehmen werden bei einer Herabstufung nicht in Kenntnis gesetzt. Das sei so gewollt, um neutral zu bleiben und keine falschen Anreize zu schaffen, bestätigt die Börse auf Anfrage. Entwickelt wurde das Produkt von Value3, einem in Singapur, Wien und Mumbai ansässigen Fintech-Unternehmen, für das SIX binnen Monaten vom Inkubator zum strategischen Partner geworden ist.
Ein computerbasiertes Rating, das ganz ohne menschliches Zutun auskommt? Diese Vorstellung stimmt erfahrene Kreditmarktexperten wie John Feigl nachdenklich. Feigl ist Mitgründer des Debt-&-Capital-Advisory-Unternehmens Pilfor und kennt sich im Ratingmarkt bestens aus. Auch er stellt die Effizienzgewinne von computerbasierter Bonitätsbeurteilung nicht in Abrede. Aber er ist überzeugt, dass Rechner die Analysten aus Fleisch und Blut nicht vollständig ersetzen können. «Wie gut sind Algorithmen darin, Aspekte wie die nicht öffentliche Finanzplanung, die künftige Unternehmensstrategie oder die Corporate Governance zu bewerten?», fragt sich Feigl.
Er hat von Value3 einen zwiespältigen Eindruck und weist darauf hin, dass das beteiligte Team weder über grosse Erfahrung in der angewandten Kreditanalyse noch einen nachweislichen Track Record in der Schweizer Unternehmenslandschaft verfügt. «Mindestens die praktische Erfahrung eines ganzen Kreditzyklus müssten die Entwickler schon vorweisen können.»
Daniel Rupli, Leiter des Einzeltitelresearch bei CS, hat sich die Methode ebenfalls angeschaut. Auch er anerkennt das grosse Potenzial von künstlicher Intelligenz und Big Data zur Effizienzsteigerung. Die grosse Schwierigkeit sieht er bei der persönlichen Interaktion: Was macht ein Investor, wenn der Emittent ein für seine Anlagerichtlinien zu tiefes Rating erhält? Bei Ratings aus einer traditionellen Fundamentalanalyse würde er sich mit dem Analysten in Verbindung setzen, um zu klären, woran es liegt und was sich ändern müsste. Dem pflichtet Hermann bei: «Irgendeine menschliche Schnittstelle wird es brauchen.» Das sehe man auch bei den grossen Ratingagenturen, die viel in die Automatisierung investieren. Sie ergänze die Bonitätsprüfung, aber das letzte Wort habe immer noch der Analyst bzw. das Ratingkomitee als Kontrollinstanz. Mehr als die Hälfte der Bonitätsnote kommt laut Hermann durch die Beurteilung des Geschäftsrisikoprofils zustande. Da gehe es um die Dinge wie die Managementqualität, die Strategie, das Marktumfeld und regulatorische Risiken, die den zukünftigen Ratingverlauf prägen. Diesbezüglich traue er den Algorithmen noch wenig zu.
Finma-Segen braucht Zeit
Der Ratingservice der SIX ist erst als Beta-Version verfügbar. Wenn sich das Rating durchsetzt und sich auch die Indexkommission darauf verlässt, könnte das für Unternehmen mit mittlerer Bonität weitreichende Folgen haben. Ohne Wissen des Emittenten könnte der Roboter die Bonität auf Ramsch stufen und könnten deshalb die Anleihen im schlimmsten Fall aus dem wichtigen Swiss Bond Index fallen. Daraufhin würden die Finanzierungskosten empfindlich steigen. 2017 hatte dieses Schicksal OC Oerlikon (OERL 10.86 0%) und Implenia (IMPN 37.52 0%) ereilt, als die auf dem Gebiet noch unerfahrene Ratingagentur Fedafin die Note auf Ramschniveau gesetzt hatte.
SIX strebt eine Akkreditierung der Finma an. Bis es so weit ist, wird es laut Mediensprecher Jürg Schneider aber noch dauern. Damit ein Gesuch bearbeitet werde, müsse das Rating mindestens ein Jahr im Markt bestanden haben.
Ob und wann das SIX-Rating bei der Erstellung des Index berücksichtigt wird, entscheidet die Indexkommission. Eine Anerkennung der Finma sei dafür aber keine Voraussetzung.
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