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13:52 Uhr - 30.06.2015

In der grössten Arena des Kapitalismus wird es still

Nach über 165 Jahren wird der Parketthandel in der Tradingmetropole Chicago nächste Woche eingestellt. Die Kontrolle haben längst die Maschinen übernommen.

Erhaben wacht Ceres über der pulsierenden Innenstadt Chicagos. Eine Garbe Getreide in der linken, einen Sack Mais in der rechten Hand, steht die Statue der römischen Göttin des Ackerbaus auf dem mondänen Art-déco-Wolkenkratzer des Chicago Board of Trade, Amerikas ältester Terminbörse. Wie Gladiatoren traten hier zu Spitzenzeiten Tausende von Händlern wild schreiend zum Kampf an. Kein Scheffel Weizen, kein Pfund Fleisch, kein Fass Öl, keine Staatsanleihe, keine Aktie und kein Gramm Gold wechselte weltweit den Besitzer, ohne dass sie beim Preis mitzureden hatten. Doch nun wird es im grössten Kolosseum des Kapitalismus still. An den meisten Börsenplätzen längst Vergangenheit, wird der Parketthandel auch in Chicago am 6. Juli weitgehend eingestellt.

«Dass dieser Tag kommen musste, war seit Jahren klar», sagt Larry Shover. Mit Nostalgie denkt er an die fünfundzwanzig Jahre zurück, in denen er auf dem Tradingfloor arbeitete. «Es war das totale Chaos. Das Gedränge im Ring war oft so gross, dass man sich erst wieder frei bewegen konnte, nachdem die Schlussglocke geläutet hatte», erinnert er sich. «Wir haben zusammen Hoch- und Tiefpunkte erlebt. Manche Kollegen kannten dich sogar besser als deine Frau.» Wie viele Händler hat er sich beruflich umorientiert und arbeitet heute als Portfoliomanager für eine Fondsgesellschaft. Als Experte berichtet er zudem regelmässig für den Börsensender Fox Business über das Geschehen an Chicagos Terminmärkten.

Geld und Getreide

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Ihre Bedeutung als globales Finanzzentrum verdankt die Stadt am Lake Michigan der Agrarindustrie. Als zentrale Transportdrehscheibe für Mais, Weizen, Sojabohnen und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse bot sie im 19. Jahrhundert eine ideale Basis für den Handel mit Terminkontrakten. Solche auch als Futures bezeichneten Papiere legen die Lieferung eines standardisierten Guts zu einem bestimmten Preis und Zeitpunkt in der Zukunft fest.

Bauern hatten damit die Möglichkeit, ihre Ernte gegen saisonale Preisschwankungen abzusichern. Um den Handel besser zu organisieren, gründeten Chicagos Kaufleute 1848 das Board of Trade, das die mächtigen Geldhäuser der Ostküste mit der Agrarindustrie des Mittleren Westens verknüpfte. Als Nebenstelle nahm zur Jahrhundertwende die Chicago Mercantile Exchange den Betrieb auf, die sich vorab auf Tierprodukte wie Eier, Butter und Fleisch spezialisierte und ab 1919 als selbständige Gesellschaft firmierte.

Richtig in Schwung kam der Handel  mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems. Unter der Leitung von Börsenpionier Leo Melamed führte die Mercantile Exchange am 16. Mai 1972 Terminkontrakte auf Währungen ein, womit erstmals Futures auf Finanzprodukte gehandelt werden konnten. Bald wurden auch Kontrakte auf Bonds, Hypotheken sowie Aktien eingeführt, und Chicago avancierte zur weltgrössten Tradingmetropole. Banken, Versicherer, Pensionskassen und Rohstoffkonzerne wappneten sich hier gegen alle möglichen Risiken: von Naturkatastrophen über steigende Zinsen und Wechselkursschwankungen bis hin zu Kurseinbrüchen am Aktienmarkt.

zoomAuf dem Höhepunkt des Tradingbooms gegen Ende der Neunzigerjahre arbeiteten in der Windy City über 10 000 Händler auf dem Parkett. Zur Verständigung riefen sie sich lauthals zu und signalisierten ihre Order per Handzeichen – eine Methode, die sich bereits an den Reismärkten in Japan um 1730 etabliert hatte und im Branchenjargon «Open Outcry» genannt wird. Das Board of Trade und die Mercantile Exchange verhielten sich dabei wie zwei Cousins: Untereinander meist heftig verzankt, hielten sie stets familiär zusammen, wenn äussere Gefahr aus New York, London, Tokio oder Washington drohte. 2007 gewann die Mercantile Exchange schliesslich die Oberhand, indem sie mit dem Board of Trade sowie der New York Mercantile Exchange zum Branchenleader CME Group fusionierte.

Vom Aussterben bedroht

«Das grosse Geld wurde auf dem Floor gemacht, als es hier noch reichlich Liquidität gab», sagt Damon Pavlatos, der an einem bitterkalten Februartag frühere Kollegen am Board of Trade besucht. In die riesige Halle, die locker einen Jumbo-Jet fasst, dringt kein Strahl Tageslicht. Umso besser sichtbar sind die unzähligen Ziffern, die orange auf den Kurstafeln leuchten. An die lärmige Atmosphäre vergangener Tage erinnert wenig.

In den meisten Handelsringen steht weniger als ein Dutzend Trader, die abgekämpft und verloren wirken. Als sich der Computerhandel zur Jahrtausendwende durchgesetzt hat, sind sie zu einer akut bedrohten Spezies geworden. Nur 1% des Marktvolumens wird heute noch auf dem Parkett abgewickelt. Futures auf den US-Aktienindex S&P 500 und auf eine Reihe von Optionen werden vorläufig weiterhin im Open-Outcry-Stil gehandelt. Wie lange, ist jedoch ungewiss.

«Die meisten hier sind Branchenveteranen. Für sie wird es schwierig, auf den Computer umzustellen», meint Pavlatos. «Vom Entscheid der Börsenleitung, den Parketthandel einzustellen, fühlen sich viele überrumpelt», fügt er hinzu. Seit bald vierzig Jahren im Geschäft, hat Pavlatos die Zeichen der Zeit früh erkannt. 1995 gründete er die Brokerfirma FuturePath, die mit eigener Tradingsoftware den blitzschnellen Zugriff auf die weltweit wichtigsten Börsenplätze ermöglicht.

Das wird immer wichtiger, denn durch den Wechsel zum Computerhandel hat ein harter Wettbewerb um Tempo eingesetzt. Im Markt für Futures auf den S&P 500 zum Beispiel entfallen gemäss dem Researchhaus TABB inzwischen 60% des Volumens auf den sogenannten Hochfrequenzhandel, bei dem es auf Bruchteile von Millisekunden ankommt. Kaum ein Zufall ist, dass grosse Akteure in dieser Disziplin wie Citadel, Chicago Trading oder Getco in Chicago entstanden sind.

Wettlauf um Geschwindigkeit

Mit der lautlosen Geschwindigkeit ihrer Superrechner mithalten zu wollen, ist für die Trader auf dem Parkett aussichtslos. Wie ein Amateur im Kampf mit einem Profiboxer können sie sich vielleicht ein paar Minuten im Ring halten. Die Chancen auf den Sieg sind jedoch gleich null. «Ich versuche deshalb nicht, mit den Hochfrequenzhändlern zu konkurrieren», sagt Scott Shellady, einer der prominentesten Händler am Board of Trade.

Wie schon sein Vater trägt er ein Jackett mit Kuhmuster, das ihn auf dem Parkett besonders gut sichtbar macht. Seit 1981 in der Branche, werde er sich künftig auf Researchdienste konzentrieren und Kunden sein Kontaktnetz zur Verfügung stellen, meint er, während er sich im Ceres Cafe ein Glas Pinot Noir gönnt.

Im noblen Bistro-Restaurant, das sich im Parterre des Board-of-Trade-Gebäudes befindet, zelebrierten Händler früher ihre grossen Gewinne. «Dabei ging es oft ziemlich wild zu und her. Einmal bestellte ein Trader für sich und seine Kollegen sogar eine Limousine direkt zum Flughafen, um  in Florida weiterzufeiern», erzählt Shellady. Wie der hektische Tumult auf dem Parkett sind solche Eskapaden längst Legenden aus einer anderen Zeit.

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