Politik und Ökonomen bereiten das Land auf einen kräftigen Investitionsschub in den nächsten Jahrzehnten vor. Wichtigstes Ziel ist die klimaneutrale Wirtschaft.
Die deutsche Wirtschaftspolitik wird sich nach der Bundestagswahl im September neu ausrichten. Alle relevanten Parteien bereiten die Wähler darauf vor, dass in den nächsten Jahren die staatlichen Investitionen kräftig steigen müssen. Die hatten seit 2003 nicht einmal mehr den Wertverlust der Infrastruktur durch Abnutzung ausgeglichen.
Selbst der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Armin Laschet, deutete kürzlich einen Investitionsplan an. Die konservativen Parteien wollen zwar weiterhin an der Schuldenbremse in der Verfassung festhalten. Doch lassen sich zum Beispiel über öffentliche Fonds sogar Investitionen stärker über Schulden finanzieren, als die Kreditschranke es eigentlich erlaubt.
Hintergrund sind nicht zuletzt die Mängel in der Digitalisierung. Die sind in der Pandemie schonungslos offen getreten, als viele Privathaushalte Arbeit und Unterricht im Home Office einrichten mussten.
Der Industrieverband BDI und die Gewerkschaften trommeln gemeinsam bereits seit fast zwei Jahren für ein Investitionsprogramm über rund 460 Mrd. € innerhalb der nächsten zehn Jahre (gut 1% des Bruttoinlandprodukts, BIP). Solche Summen finden sich auch in den Parteiprogrammen der Grünen und der SPD.
Neben der maroden Infrastruktur geht es Arbeitgebern und Arbeitnehmern um verstärke Bildungsausgaben und den demografischen Wandel, der viele Beschäftigte in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen lässt. Vor allem steht aber die Dekarbonisierung im Fokus – der Abschied von den CO2-Emissionen.
Einen Meilenstein für den Umweltschutz setzte vor wenigen Wochen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches das bisherige Klimaschutzgesetz als verfassungswidrig einstufte.
Kurz vor dem Urteil hatte die Berliner Denkfabrik Agora Energiewende in einer Studie skizziert, wie ein realistischer Pfad zur klimaneutralen Wirtschaft in Deutschland aussehen könnte. Hinter dem Institut steht die Stiftung Mercator und die European Climate Foundation.
Institutschef Patrick Graichen stellte diese Woche auf einer Konferenz des New Economy Forum in Berlin die Ergebnisse vor. Nach Graichens Aussage ist der Regierungsentwurf für das neue Klimaschutzgesetz, das im Juni verabschiedet werden soll, sehr nahe an der Agora-Studie.
«Klimaneutralität ist kein Verzichts-, sondern ein Wachstumsthema», sagte Graichen auf der Konferenz, die der Zukunft des deutschen Wachstumsmodells gewidmet war. Bei einem Anstieg des Bruttoinlandprodukts von 1,3% pro Jahr sollen bis 2045 rund 30 Mio. Tonnen CO2 reduziert werden.
Dafür seien aber zusätzliche Investitionen von 75 Mrd. € pro Jahr notwendig – fast doppelt so viel, was Arbeitgebern und Arbeitnehmern bislang vorgeschwebt ist. Ab 2030 dürfen demnach keine fossilen Energieträger wie Öl oder Gas mehr in den Verkehr gebracht werden.
Ein Grossteil der Investitionen soll daher in den Ausbau der erneuerbaren Energien gehen. Dabei müssten Wind und Solar das Rückgrat der künftigen Energieversorgung bilden. Zweite Säule sind Ausgaben für die Energieeffizienz durch die Senkung des Energieverbrauchs, etwa in der Gebäudesanierung.
Dritter Punkt ist die Elektrifizierung, also E-Mobilität im Schienen- und Strassenverkehr. Die vierte Strategie basiert auf Wasserstoff, der wichtig wird, wenn Strom nicht mehr weiterhilft: in der Stahl- und Chemieindustrie oder für Energieversorger, die Phasen ohne Wind oder Sonne überbrücken müssen.
Die fünfte Säule befasst sich mit den Emissionen der Landwirtschaft. «In den ersten 100 Tagen der neuen Regierung müssen die Hebel umgelegt werden», sagte Graichen.
Insbesondere zur Wasserstoffstrategie stellte der Mannheimer Ökonom Tom Krebs ein Arbeitspapier auf der Konferenz vor, das auf der Agora-Studie basiert. Darin kommt er zum Schluss, dass 100 Mrd. € bis 2030 investiert werden müssen.
Geplant sind Ausgaben für ein Leitungsnetzwerk zum Transport grünen Wasserstoffs in Deutschland und Europa und den Ausbau von Offshore-Windenergie mit Wasserstoffproduktion. Auch sollen kommunale Planungskapazitäten gestärkt werden. Investitionen stehen zudem in Züge und Industrien an, die klimafreundliche Anlagen nutzen, sowie in die Forschung.
Das Besondere an Krebs’ Strategie: Der Ökonom zeigt Wege auf, wie sie im Rahmen der Schuldenbremse umgesetzt werden können. So schlägt er vor, dass der Bund eine Wasserstoffgesellschaft gründet, die zu 100% in öffentlicher Hand bleibt.
Die Regierung behält somit die Kontrolle über ihre Investition. Da die Bereitstellung des Eigenkapitals als finanzielle Transaktion gilt, würde sie damit nicht für die Schuldenbremse zählen.
Sie erlaubt in Deutschland nur eine konjunkturbereinigte Neuverschuldung von 0,35% des BIP pro Jahr in normalen Zeiten. «Die öffentlichen Investitionen der Wasserstoffgesellschaft verengen nicht den finanziellen Spielraum des Bundes», sagte Krebs auf der Konferenz. Sie würden dagegen den volkswirtschaftlichen Wohlstand dauerhaft um 1,5% des BIP heben.
Einen ähnlichen Vorschlag hatte bereits der Ökonom Michael Hüther gemacht, der das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln leitet. Er hatte einen Deutschlandfonds ins Spiel gebracht, der sich über Kredite finanziert. Gut möglich, dass sich CDU-Kanzlerkandidat Laschet daran orientieren wird.
Hüther hatte mit Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie, den Investitionsbedarf von 460 Mrd. € für die nächsten zehn Jahre ausgemacht.
Dullien hat nun eine Simulationsstudie vorgelegt, die zeigt, dass die Schuldenquote nach 30 Jahren auf ein Niveau fällt, das sich auch ohne Programm ergeben hätte. Aber es gibt einen positiven Wachstumseffekt: «Längerfristig liegt das BIP um 3 bis 4% über seinem Niveau ohne Investitionsoffensive», sagte Institutsdirektor Dullien.
Bereits dieses Jahr werden die öffentlichen Haushalte in Deutschland die Wirtschaft stark ankurbeln. Nach EU-Prognose vom Mai dürften die Ausgaben für Investitionen und Konsum sowie die Transfers an Bedürftige und Unternehmen stärker steigen als in den USA.
Der Zuwachs in Deutschland macht 4,3% des BIP im Jahr 2020 aus, in den USA sind es nur 2,9%. Die Vorhersagen zeigen, dass die Inflationssorgen derzeit wohl kaum von Washington oder Berlin ausgehen.
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