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17:21 Uhr - 12.08.2016

«Europa braucht eine expansive Finanzpolitik»

Viktor Nossek, Research-Direktor bei WisdomTree Europa, sagt, weshalb er eine Seitwärtsbewegung an den Börsen erwartet und wo er attraktive Titel ortet.

Herr Nossek, die Börsen kommen seit Monaten nicht richtig vom Fleck. Gibt es Aussicht auf Besserung?
Kaum. Wir werden auch in der nächsten Zeit höchstwahrscheinlich mit einer Seitwärtsbewegung an den Märkten konfrontiert sein. Die Banken werden ohne Lockerung der Finanzpolitik und Flexibilität der EU in der Frage, ob die Gläubiger oder Dritte die Kosten für die Sanierung und Abwicklung der Finanzinstitute aufkommen müssen, weiter unter der schlechten Anlegerstimmung leiden. Das verhindert eine breite Kurserholung an den Märkten.

Welche Treiber könnten die Stimmung wieder beleben?
Zur PersonViktor Nossek ist Research-Direktor bei WisdomTree Europa. Bild: ZVGDer europäische Aktienmarkt braucht eine expansive Finanz- und Haushaltspolitik, die den Investoren positiv verkauft werden kann. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für den Erhalt der Konsenspolitik. Diese ist momentan durch die extremen Randparteien wie AfD in Deutschland, Front National (NATN 87.8 0.92%) in Frankreich oder die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien gefährdet. Das bedroht langfristig den Fortbestand der EU. Eine Expansion der Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank ist dagegen unwahrscheinlich, da gleichzeitig die Zinsen tiefer ins Negative driften würden.

WisdomTree ist einer der grösseren ETF-Anbieter. Welche Anlagestrategien sind bei Ihren Kunden derzeit gefragt?
Solche, die überdurchschnittlich hohe Dividendenerträge abwerfen. Wir stellen fest, dass Investoren auf der Suche nach regelmässigem Einkommen sind. Gefragt sind auch US-Aktien und währungsgesicherte Strategien. Währungen sind seit der Brexit-Abstimmung wieder deutlich schwankungsanfälliger geworden. Das hat vor allem schweizerische und amerikanische Anleger, die eine starke heimische Währung haben, vor Augen geführt, wie wichtig es ist, währungsgesichert in ausländische Aktien zu investieren.

Haben die Ängste der Anleger vor grösseren Kursbewegungen zugenommen?
Davon gehen wir aus. Das zeigt sich auch daran, dass im derzeit unsicheren Umfeld sogenannte Minimum-Volatility-Strategien gefragt sind. Das sind Anlagestrategien, welche die Kursschwankungen möglichst reduzieren. Allerdings sind die Bewertungen der dafür infrage kommenden Titel enorm angestiegen.

Was ist bei Anlegern derzeit überhaupt nicht mehr gefragt?
zoomVor allem Aktien aus Industrieländern. Seit Januar zogen Anleger hauptsächlich aus europäischen und asiatischen Aktien, dort vor allem japanische Titel, Gelder in Milliardenhöhe ab.

In den USA hingegen klettern die Indizes von Rekord zu Rekord. Weshalb?
Es gibt Grund für Optimismus bei den US-Aktien, da die US-Notenbank mehr Spielraum hat. Selbst wenn das Fed überraschenderweise die Leitzinsen wieder senken sollte, würde dies die amerikanischen Banken nicht schwächen. Dies im Gegensatz zur Eurozone, wo es unwahrscheinlich ist, dass Leitzinsen von null oder darunter die Stimmung bei Finanztiteln heben – auch in Anbetracht dessen, dass dies einen gehörigen Druck auf die Profitabilität der Banken gäbe.

Soll man jetzt noch US-Aktien kaufen?
US-Aktien sind relativ niedrig bewertet – dies sowohl absolut als auch relativ zu  amerikanischen Anleihen. Absolut deshalb, weil die Bewertungen im eigenen historischen Vergleich niedrig sind.

Für Europa zeigen Sie sich kurzfristig wenig optimistisch. Wie sieht es mittelfristig aus?
Die Wirtschaftserholung der Eurozone ist strukturell. Die wichtigsten Treiber sind günstiger werdende Kredite für Haushalte, den Mittelstand und Kleinbetriebe sowie als Folge des dauerhaften Lohndrucks ein konkurrenzfähiger Arbeitsmarkt. Das gilt nicht nur für Spanien und Irland, sondern auch für Frankreich und Italien. Griechenland bildet eine Ausnahme. Die strukturellen Treiber bleiben unabhängig vom Brexit erhalten.

Und Grossbritannien?
Das Land könnte zum grossen Verlierer werden, da es mit der starken Abschwächung des Pfunds und den sich dadurch ergebenden höheren Importkosten sowie mit Inflation zu kämpfen hat. Der Konsum wird sich eher weiter abschwächen, da er nicht durch günstigere Exporte ausreichend gestützt werden kann.

Die Bank of England hat mit monetären Massnahmen auf den Brexit reagiert. Ein sinnvoller Schritt?
Diese Massnahmen können einen wirtschaftlichen Abschwung dämpfen, denn Leitzinssenkungen haben einen direkten Einfluss auf Erwartungen und Verhalten. Wichtig ist, dass sich das Konsumentenvertrauen und das Geschäftsklima in Grossbritannien nicht weiter abschwächen. Vom Extrapaket in Höhe von 70 Mrd. £ zum Anleihenkauf gehen 10 Mrd. direkt in den Erwerb von Unternehmensanleihen. Dieser Stimulus sowie die Leitzinssenkung zielen darauf ab, das Vertrauen der Anleger weiter zu stützen.

Was heisst das für britische Aktien?
Grosse Titel bleiben für Investoren eher attraktiv. Die überwiegend multinationalen Konzerne mit globaler Präsenz bleiben von den britischen Problemen abgeschirmt. Sie stellen eher defensive Investments dar. Britische Small- und Midcaps sind eher riskant, bis die Beschlüsse zur endgültigen Regelung des Zugangs zum europäischen Binnenmarkt gefallen sind.

Und für britische Obligationen?
Der Ausblick für britische Anleihen ist nicht eindeutig positiv. Der Brexit-Entscheid führte bei den Gilts zu starken Kurssteigerungen. Aber die Aussicht auf höhere Inflation sowie die weitere politische Unsicherheit in der Union – etwa Schottlands Druck auf England, ein zweites Referendum durchzuführen – sind höchstwahrscheinlich nicht in den zweijährigen Staatsanleihen eingepreist.

Welche Titel sind jetzt attraktiv?
Vor allem europäische kleinkapitalisierte Werte, besonders aus den Bereichen Konsum und Industrie. Sie profitieren direkt von der Erholung der Binnennachfrage.

Anleger haben dieses Jahr wieder vermehrt die Dividende als Ersatz für Obligationen entdeckt. Zu Recht?
Absolut. Anleihenrenditen in Europa mit Laufzeiten von bis zu fünf Jahren sind nicht nur nominal, sondern auch real betrachtet negativ. Das heisst, mit Obligationen geht der Kapitalerhalt und die Kaufkraft verloren. Dividenden hingegen sind nominal und real langfristig dauerhaft gestiegen. Die Renditeprämie der Dividendenwerte befindet sich im Vergleich zu den Langfristzinsen in Europa auf einem Rekordstand.

Worauf muss bei Dividendenstrategien geachtet werden?
Auch hier gilt der Grundsatz der breiten Diversifikation. Insbesondere sollten Branchen, die traditionell hohe Dividenden ausgeschüttet haben wie Banken oder Versorger, eine nicht zu hohe Gewichtung aufweisen. Wir ziehen Gesundheits- und Konsumwerte vor.

Gold (Gold 1351.71 0.93%) steht nahe einem Mehrjahreshoch. Ist das Ende der Fahnenstange erreicht – oder besteht noch weiteres Potenzial?
Solange die Zinsen weiter ins Minus fallen, hat Gold weiterhin Raum für Kurssteigerungen. Noch einmal: Mit Anleihen gehen Kapitalerhalt und Kaufkraft zunichte. Oder anders gesagt: Das Leid der Anleihen ist die Freude des Goldes. Entsprechend sind es die schwachen Vorzeichen des Obligationenmarkts wie der negative Zins und die hohe Verschuldung, die den Goldpreis stützen. Es sind nicht die fundamentalen Daten für Gold selbst. Denn die Produktion ist stabil geblieben. Auch der traditionelle Treiber für Gold, die hohe Inflationserwartung, ist nicht vorhanden. Das ist wohl die grösste Ironie der starken Performance von Gold in diesem Jahr.

Wo sehen Sie die grössten Risiken für Anleger bis Ende Jahr?
Bei den Problemen der europäischen – oder besser gesagt den italienischen – Banken. Die Europäische Union muss dem Problem entgegentreten. Die sogenannte Bail-in-Regel erfüllt ihren Zweck nicht, wenn überwiegend italienische Anleger erhebliche Verluste mit ihren Bankanleihen erleiden müssen. Politisch sehe ich da ein grosses Risiko, nicht nur für Italien, sondern auch für Europa. Denn auf diese Weise wird die extreme Linke in Italien, die Fünf-Sterne-Bewegung, die europafeindliche Stimmung weiter aufheizen.

Was hiesse das für Europa?
Das würde die politische Unsicherheit verstärken und die Anleihenmärkte der hochverschuldeten Länder wie Italien unter Druck setzen. Dem Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank ist es auch nicht gelungen, die Renditen italienischer Papiere stärker herunterzudrücken. Das zeigt, dass die Europäische Zentralbank ohne koordiniertes Eingreifen der EU-Politik nicht in der Lage sein wird, nachhaltige Stabilität zu schaffen.

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